§ 1. Bilder, Worte und Redewendungen


Beim Studium der Einbildungskraft der Massen fanden wir, dass sie namentlich durch Bilder erregt wird. Diese Bilder stehen einem nicht immer zur Verfügung, aber man kann sie durch geschickte Anwendung von Worten und Redewendungen hervorrufen. Werden sie kunstgerecht angewandt, so besitzen sie wirklich die geheimnisvolle Macht, die ihnen einst die Adepten der Magie zuschrieben. Sie rufen in der Massenseele die furchtbarsten Stürme hervor und können sie auch besänftigen. Man könnte allein aus den Knochen der Menschen, die der Macht der Worte und Redewendungen zum Opfer fielen, eine höhere Pyramide als die des alten Cheops erbauen. Die Macht der Worte ist mit den Bildern verbunden, die sie hervorrufen, und völlig unabhängig von ihrer wahren Bedeutung. Worte, deren Sinn schwer zu erklären ist, sind oft am wirkungsvollsten. So z. B. die Ausdrücke Demokratie, Sozialismus, Gleichheit, Freiheit u. a., deren Sinn so unbestimmt ist, dass dicke Bände nicht ausreichen, ihn festzustellen. Und doch knüpft sich eine wahrhaft magische Macht an ihre kurzen Silben, als ob sie die Lösung aller Fragen enthielten. In ihnen ist die Zusammenfassung der verschiedenen unbewußten Erwartungen und der Hoffnung auf ihre Verwirklichung lebendig.

Mit Vernunft und Beweisgründen kann man gewisse Worte und Redewendungen nicht bekämpfen. Man spricht sie mit Andacht vor den Massen aus, und sogleich werden die Mienen ehrfurchtsvoll, und die Köpfe neigen sich. Viele sehen in ihnen Naturkräfte oder übernatürliche Mächte. Sie rufen in den Seelen großartige und unbestimmte Bilder hervor, aber eben das Unbestimmte, das sie verwischt, vermehrt ihre geheimnisvolle Macht. Sie lassen sich mit jenen furchtbaren Gottheiten vergleichen, die hinter dem Aller-heiligsten verborgen sind und denen der Andächtige nur mit Zittern naht.

Da die Bilder, die durch die Worte hervorgerufen werden, unabhängig sind von ihrem Sinn, so wandeln sie sich von Zeitalter zu Zeitalter, von Volk zu Volk, während die Formeln dafür die gleichen bleiben. Mit bestimmten Worten verbinden sich zeitweilig bestimmte Bilder: das Wort ist nur der Klingelknopf, der sie hervorruft.

Nicht alle Worte und Redewendungen besitzen die Macht, Bilder hervorzurufen, und es gibt solche, die sich danach abnutzen und in der Seele nichts mehr hervorrufen. Sie bleiben dann leerer Schall, dessen Hauptnutzen darin besteht, allen, die von ihnen Gebrauch machen, das Denken zu ersparen. Mit einem kleinen Vorrat von Redewendungen und Gemeinplätzen, die wir in der Jugend erlernten, besitzen wir alles Nötige, um ohne die ermüdende Notwendigkeit, nachdenken zu müssen, durchs Leben zu gehen.

Betrachtet man eine bestimmte Sprache, so sieht man, dass sich die Worte, aus denen sie sich zusammensetzt, im Laufe der Zeit nur ziemlich langsam verändern; aber unaufhörlich verändern sich die Bilder, die sie hervorrufen, oder der Sinn, den man ihnen unterlegt. Und in einer anderen Arbeit bin ich daher zu dem Schluß gekommen, dass die genaue Übersetzung einer Sprache, besonders einer toten Sprache, völlig unmöglich ist. Was tun wir denn in Wirklichkeit, wenn wir einen französischen Ausdruck ins Lateinische, Griechische oder Sanskrit übertragen wollen, oder selbst wenn wir nur versuchen, ein Buch zu verstehen, das vor einigen Jahrhunderten in unserer eigenen Sprache geschrieben wurde? Wir übertragen einfach die Bilder und Vorstellungen, die das moderne Leben in unserem Verstand erzeugt hat, auf die völlig verschiedenen Begriffe und Bilder, die das antike Leben in der Seele von Rassen hervorbrachte, deren Lebensbedingungen keine Ähnlichkeit mit den unsrigen zeigen. Die Menschen der Revolutionszeit glaubten die Griechen und Römer nachzuahmen und gaben nur den alten Worten einen Sinn, den sie niemals gehabt hatten. Welche Ähnlichkeit könnte zwischen den Einrichtungen der Griechen und solchen bestehen, die heute mit gleichlautenden Worten bezeichnet werden? Was war eine Republik damals anderes als eine wesentlich aristokratische, aus einer Vereinigung kleiner Despoten gebildete Einrichtung, die eine versklavte, in völliger Abhängigkeit gehaltene Masse beherrschte? Diese kommunalen Aristokratien, die sich auf Sklaverei gründeten, hätten nicht einen Augenblick ohne sie bestehen können.

Und wie könnte das Wort Freiheit für ein Zeitalter, das die Gedankenfreiheit noch nicht einmal ahnte und keinen größeren und überdies seltneren Frevel kannte, als über die Götter, die Gesetze und die Sitten der Bürgerschaft zu streiten, dieselbe Bedeutung haben wie für uns? Das Wort Vaterland bedeutete in der Seele eines Atheners oder Spartaners die Verehrung Athens oder Spartas, keineswegs aber Griechenlands, das aus vielen Stadtstaaten bestand, die sich fortwährend bekriegten und miteinander wetteiferten. Welche Bedeutung hatte dasselbe Wort bei den wetteifernden Stämmen von verschiedener Rasse, Sprache und Religion des alten Galliens, die Cäsar so leicht besiegte, weil er unter ihnen stets Verbündete hatte? Rom allein verlieh Gallien ein Vaterland, indem es ihm die politische und religiöse Einheit gab. Doch man braucht gar nicht so weit zurückzugehen, knapp zwei Jahrhunderte genügen: glaubt man, das Wort Vaterland sei von den französischen Prinzen, die sich wie der große Condé mit dem Feinde gegen ihren eigenen Herrscher verbanden, in seiner jetzigen Bedeutung verstanden worden? Und hatte dasselbe Wort für die Emigranten nicht noch einen ganz andern Sinn als heutzutage? Sie glaubten den Gesetzen der Ehre zu gehorchen, wenn sie Frankreich bekämpften, und gehorchten ihnen damit tatsächlich von ihrem Gesichtspunkt aus, da das Lehnsgesetz den Vasallen dem Lehnsherrn verband und nicht dem Lande, und dort, wo sich der Herr befand, auch das wahre Vaterland war.

Unzählige Worte haben so ihre Bedeutung im Laufe der Zeit entscheidend geändert. Wir können nur noch mit großer Mühe ihre frühere Bedeutung verstehen. Man muß viel lesen, hat man mit Recht gesagt, um nur zu begreifen, was in den Augen unsrer Großeltern Worte wie "der König" und "die königliche Familie" bedeuteten. Wie steht es da erst mit schwierigeren Ausdrücken!

Die Worte haben also nur veränderliche und vergängliche Bedeutungen, die mit den Zeiten und Völkern wechseln. Wollen wir durch sie auf die Massen wirken, so müssen wir den Sinn kennen, den sie für die Massen im gegebenen Augenblick haben, nicht aber jenen, den sie einst besaßen oder den sie für Persönlichkeiten von ganz besonderer geistiger Beschaffung haben können. Worte sind ebenso lebendig wie Ideen.

Wenn also die Massen infolge politischer Umwälzungen oder nach einem Glaubenswechsel einen tiefen Widerwillen gegen die Bilder haben, die durch bestimmte Worte ausgelöst werden, so ist es die erste Aufgabe des wahren Staatsmannes, die Bezeichnungen zu ändern, ohne — wohlgemerkt — an die Dinge selbst zu rühren, da diese zu sehr an eine ererbte Geistesverfassung gebunden sind, als dass man sie ändern könnte. Der geistreiche Tocqueville hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Arbeit des Konsulats und des Kaisertums vor allen Dingen darin bestand, die Mehrzahl der Einrichtungen der Vergangenheit mit neuen Bezeichnungen zu versehen, folglich die Ausdrücke, die in der Phantasie der Massen verhaßte Bilder hervorriefen, durch andre zu ersetzen, deren Neuheit das unmöglich machte. Die "Taille" wurde zur Grundsteuer, die "Gabelle" zur Salzsteuer, die Verbrauchssteuer zu indirekten Steuern und Zöllen, die Meister- und Zunfttaxe zur Gewerbesteuer usw.

Eine der wichtigsten Aufgaben der Staatsmänner besteht also darin, die Dinge, die die Massen unter ihren alten Bezeichnungen verabscheuen, mit volkstümlichen oder wenigstens bedeutungslosen Namen zu taufen. Die Macht der Worte ist so groß, dass gutgewählte Bezeichnungen genügen, um den Massen die verhaßtesten Dinge annehmbar zu machen. Taine bemerkt ganz richtig, dass die Jakobiner durch Berufung auf die damals sehr volkstümlichen Worte "Freiheit" und "Brüderlichkeit" einen Despotismus, der des Königreichs Dahomey würdig gewesen wäre, ein Tribunal wie die Inquisition, und Menschenhekatomben gleich denen des alten Mexiko heraufbeschwören konnten. Die Regierungskunst besteht wie die der Rechtsanwälte darin, dass man die Worte zu meistern versteht. Eine schwierige Kunst, denn in derselben Gesellschaft haben die gleichen Worte für die verschiedenen sozialen Schichten oft ganz verschiedene Bedeutung. Sie gebrauchen anscheinend dieselben Worte, sprechen aber nicht dieselbe Sprache.

In den vorstehenden Beispielen haben wir als Hauptursache für den Bedeutungswandel der Worte besonders die Zeit in Betracht gezogen. Wollten wir auch die Rasse heranziehen, so würden wir sehen, dass zu gleicher Zeit bei Völkern von gleicher Kultur, aber verschiedener Rasse die gleichen Worte oft ganz verschiedenartigen Vorstellungen entsprechen. Diese Unterschiede kann man ohne zahlreiche Reisen nicht kennenlernen und verstehen, und ich will sie daher nicht hervorheben. Ich beschränke mich auf die Bemerkung, dass gerade die gebräuchlichsten Worte bei den verschiedenen Völkern die verschiedenste Bedeutung haben. So z. B. die Ausdrücke "Demokratie" und "Sozialismus", die heute soviel gebraucht werden.

Sie entsprechen in Wirklichkeit für die lateinische und die angelsächsische Seele inhaltlich und bildlich völlig entgegengesetzten Vorstellungen. Bei den lateinischen Völkern bedeutet das Wort Demokratie vor allem die Auslöschung des Willens und der Tatkraft des einzelnen vor dem Staat. Dem Staat wird immer mehr aufgeladen, er soll führen, zentralisieren, monopolisieren, fabrizieren. An ihn wenden sich beständig alle Parteien ohne Ausnahme: Radikale, Sozialisten, Monarchisten. Bei den Angelsachsen, namentlich bei den Amerikanern, bedeutet dasselbe Wort im Gegenteil die angespannteste Entfaltung des Willens und der Persönlichkeit, das möglichste Zurücktreten des Staates, den man mit Ausnahme der Polizei, des Heeres und der diplomatischen Beziehungen nichts leiten läßt, nicht einmal den Unterricht. Dasselbe Wort hat also bei diesen beiden Völkern einen völlig entgegengesetzten Sinn.*)

 

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*) In den "Psychologischen Gesetzen der Völkerentwicklung" habe ich klar auf den Unterschied hingewiesen, der das lateinische Ideal der Demokratie von dem angelsächsischen Ideal der Demokratie unterscheidet.


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