1. Kapitel:
Entfernte Triebkräfte der Glaubenslehren und Meinungen der Massen
Wir haben bisher den geistigen Zustand der Massen studiert. Wir kennen die Art ihres Fühlens, Denkens, Schlie-ßens. Nun wollen wir sehen, auf welche Weise ihre Meinungen und Glaubenslehren entstehen und sich befestigen. Zwei verschiedene Arten von Triebkräften bestimmen diese Meinungen und Glaubenslehren: mittelbare und unmittelbare Triebkräfte.
Die mittelbaren Triebkräfte befähigen die Massen zur Annahme gewisser Überzeugungen und verhindern das Eindringen anderer. Sie bereiten den Boden, auf dem man plötzlich neue Ideen hervorsprießen sieht, deren Kraft und Wirkung Staunen erregen, die aber nur scheinbar plötzlich sind. Der Ausbruch und die Verwirklichung gewisser Ideen bei den Massen zeigen oft eine blitzartige Plötzlichkeit. Doch das ist nur die oberflächliche Wirkung, hinter der man meistens eine lange Vorarbeit suchen muß.
Dieser langen Arbeit, ohne die sie wirkungslos bleiben würden, übergeordnet sind die unmittelbaren Antriebe, die die lebendige Überzeugung der Massen hervorrufen — also der Idee ihre Gestalt geben und sie mit all ihren Folgen entfesseln. Diese unmittelbaren Triebkräfte sind der Anlass für das Auftauchen der Entschlüsse, die eine Gesamtheit zu einer jähen Erhebung führen — durch sie bricht ein Aufruhr los oder wird ein Streik beschlossen, sie bringen durch riesige Stimmenmehrheit einen Menschen zur Macht oder stürzen eine Regierung. Bei allen großen Geschehnissen der Geschichte kann man die ununterbrochene Wirkung dieser beiden Arten von Triebkräften feststellen. Als eins der klarsten Beispiele könnte man die Französische Revolution anführen, deren mittelbare Antriebe die Kritiken der Schriftsteller und die Erpressungen des Adels waren. Die so vorbereitete Massenseele war infolgedessen leicht aufzurütteln durch unmittelbare Antriebe, wie die Ansprachen der Redner und den Widerstand des Hofes gegen unbedeutende Reformen.
Zu den mittelbaren Triebkräften gehören allgemeine Faktoren, die allen Glaubensbekenntnissen und Anschauungen zugrunde liegen, das sind: die Rasse, die Überlieferungen, die Zeit, die Einrichtungen und die Erziehung.
Wir wollen ihre jeweilige Aufgabe untersuchen.