Zeugnis von Frauen und Kindern


Es gibt unzählige ähnliche Beispiele. Vor einigen Jahren gaben die Zeitungen die Geschichte von zwei kleinen ertrunkenen Mädchen wieder, die aus der Seine gezogen wurden. Diese Kinder wurden zuerst in bestimmtester Weise von einem Dutzend Zeugen erkannt. Vor so übereinstimmenden Aussagen schwand auch der leiseste Zweifel des Untersuchungsrichters, er ließ den Totenschein ausfertigen. In dem Augenblick aber, da man sich zur Beerdigung anschickte, entdeckte man durch Zufall, dass die mit den Opfern Identifizierten noch völlig lebendig waren und kaum eine entfernte Ähnlichkeit mit den ertrunkenen Kleinen besaßen. Wie in mehreren der früher angeführten Beispiele hatte die Behauptung des ersten Zeugen, der das Opfer einer Täuschung war, zur Beeinflussung aller anderen genügt.

In solchen Fällen ist der Ausgangspunkt für die Beeinflussung stets die Täuschung, die durch mehr oder weniger unbestimmte Erinnerungen in einem einzelnen erzeugt wird, außerdem die Übertragung durch Mitteilung dieses ersten Irrtums. Ist der erste Beobachter leicht erregbar, so genügt es oft, dass der Leichnam, den er zu erkennen glaubt, abgesehen von aller wirklichen Ähnlichkeit, eine Besonderheit, etwa eine Narbe oder ein Bekleidungsmerkmal aufzuweisen hat, wodurch bei ihm die Vorstellung einer andern Person ausgelöst werden kann. Die eingebildete Vorstellung kann dann zum Kern einer Art Kristallisation werden, welche den Bereich des Verstandes ergreift und allen kritischen Geist lähmt. Der Beobachter sieht dann nicht mehr die Sache selbst, sondern das Bild, das in seiner Seele aufgetaucht ist. Auf diese Weise erklärt sich das vermeintliche Wiedererkennen von Kinderleichen durch die Mütter, wie in dem folgenden, schon alten Fall, an dem sich die beiden Arten von Beeinflussung, deren Ablauf ich erklärt habe, deutlich offenbaren.

"Das Kind wurde von einem anderen Kinde erkannt — das sich irrte. Die Reihe des unrichtigen Wiedererkennens lief nun ab. Und nun geschah etwas sehr Merkwürdiges. An dem Tage, nachdem die Leiche durch einen Schüler wiedererkannt worden war, schrie eine Frau auf: 'Ach, mein Gott, das ist mein Kind!' Man führte sie zur Leiche, sie untersucht die Kleider und stellt eine Narbe an der Stirn fest. 'Gewiß', sagte sie, 'es ist mein armer Junge, der seit Ende Juli vermißt wird. Man wird ihn mir entführt und getötet haben.' Die Frau war Hausmeisterin in der Rue de Four und hieß Chavandret. Man ließ ihren Schwager kommen und dieser sagte ohne Zögern: 'Das ist der kleine Philibert.' Mehrere Bewohner der Straße, ganz abgesehen von seinem Lehrer, für den die Schulmedaille ausschlaggebend war, erkannten in dem Kinde von la Villette Philibert Chavandret. Nun: Nachbarn, Schwager, Lehrer und Mutter hatten sich geirrt. Sechs Wochen später war die Identität des Kindes festgestellt. Es war ein Knabe aus Bordeaux, der dort getötet und mit der Post nach Paris gebracht worden war."*)

Wir können wieder feststellen, dass dies "Erkennen" meistens bei Frauen und Kindern, also gerade bei den erregbarsten Wesen vorkommt. Es zeigt gleichzeitig, wie wenig Wert solche Zeugnisse vor Gericht haben können. Besonders Kinderaussagen sollten nie herangezogen werden. Die Richter wiederholen immer, man lüge in diesem Alter nicht; das ist ein Gemeinplatz. Besäßen sie eine etwas tiefere psychologische Bildung, so wüßten sie: ganz im Gegenteil, in diesem Alter lügt man stets. Gewiß ist die Lüge harmlos, sie bleibt aber dennoch eine Lüge. Besser würde die Verurteilung eines Angeklagten nach dem Spiel "Kopf oder Schrift" erfolgen, als, wie so oft geschehen, nach dem Zeugnis eines Kindes.

 

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*) "Eclair" vom 21. April 1895.


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