Funfzehntes Buch


»Vorübergehend ist also alles in der Geschichte; die Aufschrift ihres Tempels heißt: Nichtigkeit und Verwesung. Wir treten den Staub unserer Vorfahren und wandeln auf dem eingesunknen Schutt zerstörter Menschenverfassungen und Königreiche. Wie Schatten gingen uns Ägypten, Persien, Griechenland, Rom vorüber, wie Schatten steigen sie aus den Gräbern hervor und zeigen sich in der Geschichte.

 Und wenn irgendein Staatsgebäude sich selbst überlebte, wer wünscht ihm nicht einen ruhigen Hingang? Wer fühlt nicht Schauder, wenn er im Kreise lebendig wirkender Wesen auf Totengewölbe alter Einrichtungen stößt, die den Lebendigen Licht und Wohnung rauben? Und wie bald, wenn der Nachfolger diese Katakomben hinwegräumt, werden auch seine Einrichtungen dem Nachfolger gleiche Grabgewölbe dünken und von ihm unter die Erde gesandt werden.

 Die Ursache dieser Vergänglichkeit aller irdischen Dinge liegt in ihrem Wesen, in dem Ort, den sie bewohnen, in dem ganzen Gesetz, das unsere Natur bindet. Der Leib der Menschen ist eine zerbrechliche, immer verneute Hülle, die endlich sich nicht mehr erneuen kann; ihr Geist aber wirkt auf Erden nur in und mit dem Leibe. Wir dünken uns selbständig und hangen von allem in der Natur ab; in eine Kette wandelbarer Dinge verflochten, müssen auch wir den Gesetzen ihres Kreislaufs folgen, die keine andere sind als Entstehen, Sein und Verschwinden. Ein loser Faden knüpft das Geschlecht der Menschen, der jeden Augenblick reißt, um von neuem geknüpft zu werden. Der klug gewordene Greis geht unter die Erde, damit sein Nachfolger ebenfalls wie ein Kind beginne, die Werke seines Vorgängers vielleicht als ein Tor zerstöre und dem Nachfolger dieselbe nichtige Mühe überlasse, mit der auch er sein Leben verzehrt. So ketten sich Tage, so ketten Geschlechter und Reiche sich aneinander. Die Sonne geht unter, damit Nacht werde und Menschen sich über eine neue Morgenröte freuen mögen.

 Und wenn bei diesem allen nur noch einiger Fortgang merklich wäre? Wo zeigt dieser sich aber in der Geschichte? Allenthalben sieht man in ihr Zerstörung, ohne wahrzunehmen, daß das Erneuerte besser als das Zerstörte werde. Die Nationen blühen auf und ab; meine abgeblühte Nation kommt keine junge, geschweige eine schönere Blüte wieder. Die Kultur rückt fort, sie wird aber damit nicht vollkommener; am neuen Ort werden neue Fähigkeiten entwickelt; die alten des alten Orts gingen unwiederbringlich unter. Waren die Römer weiser und glücklicher, als es die Griechen waren? Und sind wir's mehr als beide?

 Die Natur des Menschen bleibt immer dieselbe: im zehntausendsten Jahr der Welt wird er mit Leidenschaften geboren, wie er im zweiten derselben mit Leidenschaften geboren wurde, und durchläuft den Gang seiner Torheiten zu einer späten, unvollkommenen, nutzlosen Weisheit. Wir gehen in einem Labyrinth umher, in welchem unser Leben nur eine Spanne abschneidet; daher es uns fast gleichgültig sein kann, ob der Irrweg Entwurf und Ausgang habe.

 Trauriges Schicksal des Menschengeschlechts, das mit allen seinen Bemühungen an Ixions Rad, an Sisyphus' Stein gefesselt und zu einem tantalischen Sehnen verdammt ist. Wir müssen wollen, wir müssen streben, ohne daß wir je die Frucht unserer Mühe vollendet sähen oder aus der ganzen Geschichte ein Resultat menschlicher Bestrebungen lernten. Steht ein Volk allein da, so nutzt sich sein Gepräge unter der Hand der Zeit ab; kommt es mit andern ins Gedränge, so wird es in den schmelzenden Tiegel geworfen, in welchem sich die Gestalt desselben gleichfalls verliert. So bauen wir aufs Eis, so schreiben wir in die Welle des Meers; die Welle verrauscht, das Eis zerschmilzt, und hin ist unser Planet wie unsere Gedanken.

Wozu also die unselige Mühe, die Gott dem Menschengeschlecht in seinem kurzen Leben zum Tagwerk gab? Wozu die Last, unter der sich jeder zum Grabe hinabarbeitet? Und niemand wurde gefragt, ob er sie über sich nehmen, ob er auf dieser Stelle, zu dieser Zeit, in diesem Kreise geboren sein wollte. Ja, da das meiste übel der Menschen von ihnen selbst, von ihrer schlechten Verfassung und Regierung, vom Trotz der Unterdrücker und von einer beinah unvermeidlichen Schwachheit der Beherrscher und der Beherrschten herrührt: welch ein Schicksal war's, das den Menschen unter das Joch seines eignen Geschlechts, unter die schwache oder tolle Willkür seiner Brüder verkaufte? Man rechne die Zeitalter des Glückes und Unglücks der Völker, ihrer guten und bösen Regenten, ja auch bei den besten derselben die Summe ihrer Weisheit und Torheit, ihrer Vernunft und Leidenschaft zusammen: welche ungeheure Negative wird man zusammenzählen! Betrachte die Despoten Asiens, Afrikas, ja beinahe der ganzen Erdrunde; siehe jene Ungeheuer auf dem römischen Thron, unter denen Jahrhunderte hin eine Welt litt; zähle die Verwirrungen und Kriege, die Unterdrückungen und leidenschaftlichen Tumulte zusammen und bemerke überall den Ausgang. Ein Brutus sinkt, und Antonius triumphiert; Germanikus geht unter, und Tiberius, Caligula, Nero herrschen; Aristides wird verbannt, Konfuzius flieht umher, Sokrates, Phocion, Seneka sterben. Freilich ist hier allenthalben der Salz kenntlich: ›Was ist, das ist; was werden kann, wird; was untergehen kann, geht unter‹; aber ein trauriges Anerkenntnis, das uns allenthalben nichts als den zweiten Satz predigt, daß auf unserer Erde wilde Macht und ihre Schwester, die boshafte List, siege.«

 So zweifelt und verzweifelt der Mensch, allerdings nach vielen scheinbaren Erfahrungen der Geschichte, ja gewissermaße hat diese traurige Klage die ganze Oberfläche der Weltbegebenheiten für sich; daher mir mehrere bekannt sind, die auf dem wüsten Ozean der Menschengeschichte den Gott zu verlieren glaubten, den sie auf dem festen Lande der Naturforschung in jedem Grashalm und Staubkorn mit Geistesaugen sahn und mit vollem Herzen verehrten. Im Tempel der Weltschöpfung erschien ihnen alles voll Allmacht und gütiger Weisheit; auf dem Markt menschlicher Handlungen hingegen, zu welchem doch auch unsere Lebenszeit berechnet worden, sahen sie nichts als einen Kampfplatz sinnloser Leidenschaften, wilder Kräfte, zerstörender Künste ohne eine fortgehende gütige Absicht. Die Geschichte wurde ihnen wie ein Spinnengewebe im Winkel des Weltbaus, das in seinen verschlungenen Fäden zwar des verdorrten Raubes gnug, nirgend aber einmal seinen traurigen Mittelpunkt, die webende Spinne selbst, zeigt.

Ist indessen ein Gott in der Natur, so ist er auch in der Geschichte; denn auch der Mensch ist ein Teil der Schöpfung und muß in seinen wildesten Ausschweifungen und Leidenschaften Gesetze befolgen, die nicht minder schön und vortrefflich sind als jene, nach welchen sich alle Himmels- und Erdkörper bewegen. Da ich nun überzeugt bin, daß, was der Mensch wissen muß, er auch wissen könne und dürfe, so gehe ich aus dem Gewühl der Szenen, die wir bisher durchwandert haben, zuversichtlich und frei den hohen und schönen Naturgesetzen entgegen, denen auch sie folgen.


 © textlog.de 2004 • 15.11.2024 13:27:35 •
Seite zuletzt aktualisiert: 26.10.2004 
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