XI.3. Tibet
Zwischen den großen asiatischen Gebirgen und Wüsteneien hat sich ein geistliches Kaisertum errichtet, das in seiner Art wohl das einzige der Welt ist; es ist das große Gebiet der Lamas. Zwar ist die geistliche und weltliche Macht in kleinen Revolutionen bisweilen getrennt gewesen, zuletzt aber sind beide immer wieder vereinigt worden, so daß hier, wie nirgend anders, die ganze Verfassung des Landes auf dem kaiserlichen Hohepriestertum ruht. Der große Lama wird nach der Lehre der Seelenwanderung vom Gott Schaka oder Fo belebt, der bei seinem Tode in den neuen Lama fährt und ihn zum Ebenbilde der Gottheit weiht. In festgesetzten Ordnungen der Heiligkeit zieht sich von ihm die Kette der Lamas herab, und man kann sich in Lehren, Gebräuchen und Einrichtungen kein festgestellteres Priesterregiment denken, als auf dieser Erdhöhe wirklich thront. Der oberste Besorger weltlicher Geschäfte ist nur Statthalter des obersten Priesters, der, den Grundsätzen seiner Religion nach, voll göttlicher Ruhe in einem Palasttempel wohnt. Ungeheuer sind die Fabeln der lamaischen Weltschöpfung, grausam die gedrohten Strafen und Büßungen ihrer Sünden, aufs höchste unnatürlich der Zustand, zu welchem ihre Heiligkeit aufstrebt: er ist entkörperte Ruhe, abergläubische Gedankenlosigkeit und Klosterkeuschheit. Und dennoch ist kaum ein Götzendienst so weit als dieser auf der Erde verbreitet; nicht nur Tibet und Tangut, der größte Teil der Mongolen, die Mandschu, Kalkas, Eluthen u. f. verehrten, den Lama; und wenn sich in neueren Zeiten einige von der Anbetung seiner Person losrissen, so ist doch ein Stückwerk von der Religion des Schaka das einzige, was diese Völker von Glauben und Gottesdienst haben. Aber auch südlich zieht sich diese Religion weit hin; die Namen Sommona-Kodom, Schaktscha-Tuba, Sangol-Muni, Schige-Muni, Buddha, Fo, Schekia sind alle eins mit Schaka, und so geht diese heilige Mönchslehre, wenngleich nicht überall mit der weitläuftigen Mythologie der Tibetaner, durch Indostan, Ceylon, Siam, Pegu, Tonkin bis nach Sina, Korea und Japan. Selbst in Sina sind Grundsätze des Fo der eigentliche Volksglaube; dagegen die Grundsätze Konfuzius' und Laotse nur Gattungen einer politischen Religion und Philosophie sind unter den obern, d. i. den gelehrten Ständen. Der Regierung daselbst ist jede dieser Religionen gleichgültig; ihre Sorge ist nicht weiter gegangen, als daß sie die Lamas und Bonzen dem Staat unschädlich zu machen, sie von der Herrschaft des Dalai-Lama trennte. Japan vollends ist lange Zeit ein halbes Tibet gewesen; der Dairi war der geistliche Oberherr und der Kubo sein weltlicher Diener, bis dieser die Herrschaft an sich riß und jenen zum bloßen Schatten machte: ein Schicksal, das im Lauf der Dinge liegt und gewiß einmal auch das Los des Lamas sein wird. Nur durch die Lage seines Reichs, durch die Barbarei der mongolischen Stämme, am meisten aber durch die Gnade des Kaisers in Sina ist er so lange, was er ist, geblieben.
Auf den kalten Bergen in Tibet entstand die lamaische Religion gewiß nicht; sie ist das Erzeugnis warmer Klimate, ein Geschöpf menschlicher Halbseelen, die die Wohllust der Gedankenlosigkeit in körperlicher Ruhe über alles lieben. Nach den rauhen tibetanischen Bergen, ja nach Sina selbst ist sie nur im ersten Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung kommen, da sie sich denn in jedem Lande nach des Landes Weise verändert. In Tibet und Japan wurde sie hart und strenge, unter den Mongolen ist sie beinah ein wirksamer Aberglaube worden; dagegen Siam, Indostan und die Länder, die ihnen gleichen, sie als Naturprodukte ihres warmen Klima aufs mildeste nähren. Bei so verschiedner Gestalt hat sie auch ungleiche Folgen auf jeden Staat gehabt, in dem sie lebte. In Siam, Indostan, Tunkin u. f. schläfert sie die Seelen ein; sie macht mitleidig und unkriegerisch, geduldig, sanft und träge. Die Talapoinen streben nicht nach dem Thron; bloße Almosen sind's, um die sie menschliche Sünden büßen. In hartem Ländern, wo das Klima den müßigen Beter nicht so leicht nährt, mußte ihre Einrichtung auch künstlicher werden, und so machte sie endlich den Palast zum Tempel. Sonderbar ist der Unzusammenhang, in welchem die Sachen der Menschen sich nicht nur binden, sondern auch lange erhalten. Befolgte jeder Tibetaner die Gesetze der Lamas, indem er ihren höchsten Tugenden nachstrebte, so wäre kein Tibet mehr. Das Geschlecht der Menschen, die einander nicht berühren, die ihr kaltes Land nicht bauen, die weder Handel noch Geschäfte treiben, hörte auf; verhungert und erfroren lägen sie da, indem sie sich ihren Himmel träumen. Aber zum Glück ist die Natur der Menschen stärker als jeder angenommene Wahn. Der Tibetaner heiratet, ob er gleich damit sündigt; und die geschäftige Tibetanerin, die gar mehr als einen Mann nimmt und fleißiger als die Männer selbst arbeitet, entsagt gerne den hohem Graden des Paradieses, um diese Welt zu erhalten. Wenn eine Religion der Erde ungeheuer und widrig ist, so ist's die Religion in Tibet188, und wäre, wie es wohl nicht ganz zu leugnen ist, in ihre härtesten Lehren und Gebräuche das Christentum hinübergeführt worden, so erschiene dies wohl nirgend in ärgerer Gestalt als auf den tibetanischen Bergen.
Glücklicherweise aber hat die harte Mönchsreligion den Geist der Nation sowenig als ihr Bedürfnis und Klima ändern mögen. Der hohe Bergbewohner kauft seine Büßungen ab und ist gesund und munter; er zieht und schlachtet Tiere, ob er gleich die Seelenwanderung glaubt, und erlustigt sich funfzehn Tage mit der Hochzeit, obgleich seine Priester der Vollkommenheit ehelos leben. So hat sich allenthalben der Wahn der Menschen mit dem Bedürfnis abgefunden; er dung so lange, bis ein leidlicher Vergleich wurde. Sollte jede Torheit, die im angenommenen Glauben der Nationen herrscht, auch durchgängig geübt werden: welch ein Unglück! Nun aber werden die meisten geglaubt und nicht befolgt, und dies Mittelding toter Überzeugung heißt eben auf der Erde Glauben. Denke man nicht, daß der Kaimucke nach dem Muster der Vollkommenheit in Tibet lebt, wenn er ein kleines Götzenbild oder den heiligen Kot des Lama verehrt.
Aber nicht nur unschädlich, auch nutzlos sogar ist dieses widerliche Regiment der Lamas nicht gewesen. Ein grobes heidnisches Volk, das sich selbst für die Abkunft eines Affen hielt, ist dadurch unstreitig zu einem gesitteten, ja in manchen Stücken feinen Volk erhoben, wozu die Nachbarschaft der Sinesen nicht wenig beitrug. Eine Religion, die in Indien entsprang, liebt Reinlichkeit; die Tibetaner dürfen also nicht wie tatarische Steppenvölker leben. Selbst die überhohe Keuschheit, die ihre Lamas preisen, hat der Nation ein Tugendziel aufgesteckt, zu welchem jede Eingezogenheit, Nüchternheit und Mäßigung, die man an beiden Geschlechtern rühmt, wenigstens als ein Teil der Wallfahrt betrachtet werden mag, bei welcher auch die Hälfte mehr ist als das Ganze. Der Glaube einer Seelenwanderung macht mitleidig gegen die lebendige Schöpfung, so daß rohe Berg- und Felsenmenschen vielleicht mit keinem sanftem Zaum als mit diesem Wahn und dem Glauben an lange Büßungen und Höllenstrafen gebändigt werden konnten. Kurz, die tibetanische ist eine Art päpstlicher Religion, wie sie Europa selbst in seinen dunkeln Jahrhunderten, und sogar ohne jene Ordnung und Sittlichkeit, hatte, die man an Tibetanern und Mongolen rühmt. Auch daß diese Religion des Schaka eine Art Gelehrsamkeit und Schriftsprache unter dies Bergvolk und weiterhin selbst unter die Mongolen gebracht hat, ist ein Verdienst für die Menschheit, vielleicht das vorbereitende Hülfsmittel einer Kultur, die auch diesen Gegenden reift.
Wunderbar langsam ist der Weg der Vorsehung unter den Nationen, und dennoch ist er lautre Naturordnung. Gymnosophisten und Talapoinen, d. i. einsame Beschauer, gab es von den ältesten Zeiten her im Morgenlande; ihr Klima und ihre Natur lud sie zu dieser Lebensart ein. Die Ruhe suchend, flohen sie das Geräusch der Menschen und lebten mit dem wenigen vergnügt, was ihnen die reiche Natur gewährte. Der Morgenländer ist ernst und mäßig, so wie in Speise und Trank, so auch in Worten; gern überläßt er sich dem Fluge der Einbildungskraft, und wohin konnte ihn diese als auf Beschauung der allgemeinen Natur, mithin auf Weltentstehung, auf den Untergang und die Erneuung der Dinge führen? Die Kosmogonie sowohl als die Metempsychose der Morgenländer sind poetische Vorstellungsarten dessen, was ist und wird, wie solches sich ein eingeschränkter menschlicher Versland und ein mitfühlendes Herz denkt. »Ich lebe und genieße kurze Zeit meines Lebens; warum sollte, was neben mir ist, nicht auch seines Daseins genießen und von mir ungekränkt leben?« Daher nun die Sittenlehre der Talapoinen, die insonderheit auf die Nichtigkeit aller Dinge, auf das ewige Umwandeln der Formen der Welt, auf die innere Qual der unersättlichen Begierden eines Menschenherzens und auf das Vergnügen einer reinen Seele so rührend und aufopfernd dringt. Daher auch die sanften humanen Gebote, die sie zu Verschonung ihrer selbst und anderer Wesen der menschlichen Gesellschaft gaben und in ihren Hymnen und Sprüchen preisen. Aus Griechenland haben sie solche sowenig als ihre Kosmogonie geschöpft; denn beide sind echte Kinder der Phantasie und Empfindungsart ihres Klima. In ihnen ist alles bis zum höchsten Ziel gespannt, so daß nach der Sittenlehre der Talapoinen auch nur indische Einsiedler leben mögen; dazu ist alles mit so unendlichen Märchen umhüllt, daß, wenn je ein Schaka gelebt hat, er sich schwerlich in einem der Züge erkennen würde, die man dankend und lobend auf ihn häufte. Indessen lernt nicht ein Kind seine erste Weisheit und Sittenlehre durch Märchen? Und sind nicht die meisten dieser Nationen in ihrem sanften Seelenschlaf lebenslang Kinder? Lasst uns also der Vorsehung verzeihen, was nach der Ordnung, die sie fürs Menschengeschlecht wählte, nicht anders als also sein konnte. Sie knüpfte alles an Tradition, und so konnten Menschen einander nicht mehr geben, als sie selbst hatten und wußten. Jedes Ding in der Natur, mithin auch die Philosophie des Buddha, ist gut und böse, nachdem sie gebraucht wird. Sie hat so hohe und schöne Gedanken, als sie auf der andern Seite Betrug und Trägheit erwecken und nähren kann, wie sie es auch reichlich getan hat. In keinem Lande blieb sie ganz dieselbe; allenthalben aber, wo sie ist, steht sie immer doch eine Stufe über dem rohen Heidentum, die erste Dämmerung einer reinem Sittenlehre, der erste Kindestraum einer weltumfassenden Wahrheit.