XV.3. Das Menschengeschlecht ist bestimmt, mancherlei Stufen der Kultur in mancherlei Veränderungen zu durchgehen; auf Vernunft und Billigkeit aber ist der daurende Zustand seiner Wohlfahrt wesentlich und allein gegründet

 

 Erstes Naturgesetz. In der mathematischen Naturlehre ist's erwiesen, daß zum Beharrungszustande eines Dinges jederzeit eine Art Vollkommenheit, ein Maximum oder Minimum, erfodert werde, das aus der Wirkungsweise der Kräfte dieses Dinges folgt. So könnte z.B. unsere Erde nicht dauren, wenn der Mittelpunkt ihrer Schwere nicht am tiefsten Ort läge und alle Kräfte auf und von demselben in harmonischem Gleichgewicht wirkten. Jedes bestehende Dasein trägt also nach diesem schönen Naturgesetz seine physische Wahrheit, Güte und Notwendigkeit als den Kern seines Bestehens in sich.

 Zweites Naturgesetz. Gleichergestalt ist's erwiesen, daß alle Vollkommenheit und Schönheit zusammengesetzter, eingeschränkter Dinge oder ihrer Systeme auf einem solchen Maximum ruhe. Das Ähnliche nämlich und das Verschiedene, das Einfache in den Mitteln und das Vielfältige in den Wirkungen, die leichteste Anwendung der Kräfte zu Erreichung des gewissesten oder fruchtbarsten Zweckes bilden eine Art Ebenmaßes und harmonischer Proportion, die von der Natur allenthalben bei den Gesetzen ihrer Bewegung, in der Form ihrer Geschöpfe, beim Größesten und Kleinsten beobachtet ist und von der Kunst des Menschen, soweit seine Kräfte reichen, nachgeahmt wird. Mehrere Regeln schränken hiebei einander ein, so daß, was nach der einen größer wird, nach der andern abnimmt, bis das zusammengesetzte Ganze seine sparsam-schönste Form und mit derselben innern Bestand, Güte und Wahrheit gewinnt. Ein vortreffliches Gesetz, das Unordnung und Willkür aus der Natur verbannet und uns auch in jedem veränderlichen eingeschränkten Teil der Weltordnung eine Regel der höchsten Schönheit zeigt.

 Drittes Naturgesetz. Ebensowohl ist's erwiesen, daß, wenn ein Wesen oder ein System derselben aus diesem Beharrungszustande seiner Wahrheit, Güte und Schönheit verrückt worden, es sich demselben durch innere Kraft, entweder in Schwingungen oder in einer Asymptote, wieder nähere, weil außer diesem Zustande es keinen Bestand findet. Je lebendiger und vielartiger die Kräfte sind, desto weniger ist der unvermerkte gerade Gang der Asymptote möglich, desto heftiger werden die Schwingungen und Oszillationen, bis das gestörte Dasein das Gleichgewicht seiner Kräfte oder ihrer harmonischen Bewegung, mithin den ihm wesentlichen Beharrungszustand erreicht.

 Da nun die Menschheit sowohl im ganzen als in ihren einzelnen Individuen, Gesellschaften und Nationen ein daurendes Natursystem der vielfachsten lebendigen Kräfte ist, so lasst uns sehen, worin der Bestand desselben liege, auf welchem Punkt sich seine höchste Schönheit, Wahrheit und Güte vereine und welchen Weg es nehme, um sich bei einer jeden Verrückung, deren uns die Geschichte und Erfahrung so viele darbeut, seinem Beharrungszustande wiederum zu nähern.

 1. Die Menschheit ist ein so reicher Entwurf von Anlagen und Kräften, daß, weil alles in der Natur auf der bestimmtesten Individualität ruht, auch ihre großen und vielen Anlagen nicht anders als unter Millionen verteilt auf unserm Planeten erscheinen konnten. Alles wird geboren, was auf ihm geboren werden kann, und erhält sich, wenn es nach Gesetzen der Natur seinen Beharrungszustand findet. Jeder einzelne Mensch trägt also, wie in der Gestalt seines Körpers, so auch in den Anlagen seiner Seele das Ebenmaß, zu welchem er gebildet ist und sich selbst ausbilden soll, in sich. Es geht durch alle Arten und Formen menschlicher Existenz, von der kränklichsten Unförmlichkeit, die sich kaum lebend erhalten konnte, bis zur schönsten Gestalt eines griechischen Gottmenschen, von der leidenschaftlichsten Hitze eines Negergehirns bis zur Anlage der schönsten Weisheit. Durch Fehler und Verirrungen, durch Erziehung, Not und Übung sucht jeder Sterbliche dies Ebenmaß seiner Kräfte, weil in solchem allein der vollste Genuß seines Daseins lieget; nur wenige Glückliche aber erreichen es auf die reinste, schönste Weise.

 2. Da der einzelne Mensch für sich sehr unvollkommen bestehen kann, so bildet sich mit jeder Gesellschaft ein höheres Maximum zusammenwirkender Kräfte. In wilder Verwirrung laufen diese so lange gegeneinander, bis nach unfehlbaren Gesetzen der Natur die widrigen Regeln einander einschränken und eine Art Gleichgewicht und Harmonie der Bewegung werde. So modifizieren sich die Nationen nach Ort, Zeit und ihrem innern Charakter; jede trägt das Ebenmaß ihrer Vollkommenheit, unvergleichbar mit andern, in sich. Je reiner und schöner nun das Maximum war, auf welches ein Volk traf, auf je nützlichere Gegenstände es seine Übung schönerer Kräfte anlegte, je genauer und fester endlich das Band der Vereinigung war, das alle Glieder des Staats in ihrem Innersten knüpfte und sie auf diese guten Zwecke lenkte, desto bestehender war die Nation in sich, desto edler glänzt ihr Bild in der Menschengeschichte. Der Gang, den wir bisher durch einige Völker genommen, zeigte, wie verschieden nach Ort, Zeit und Umständen das Ziel war, auf welches sie ihre Bestrebungen richteten. Bei den Sinesen war's eine feine politische Moral, bei den Indiern eine Art abgezogener Reinheit, stiller Arbeitsamkeit und Duldung, bei den Phöniciern der Geist der Schiffahrt und des handelnden Fleißes. Die Kultur der Griechen, insonderheit Athens, ging auf ein Maximum des Sinnlichschönen, sowohl in der Kunst als den Sitten, in Wissenschaften und in der politischen Einrichtung. In Sparte und Rom bestrebte man sich nach der Tugend eines vaterländischen oder Heldenpatriotismus; in beiden auf eine sehr verschiedene Weise. Da in diesem allen das meiste von Ort und Zeit abhangt, so sind in den auszeichnendsten Zügen des Nationalruhms die alten Völker einander beinahe unvergleichbar.

 3. Indessen sehen wir bei allen ein Principium wirken, nämlich eine Menschenvernunft, die aus vielem eins, aus der Unordnung Ordnung, aus einer Mannigfaltigkeit von Kräften und Absichten ein Ganzes mit Ebenmaß und daurender Schönheit hervorzubringen sich bestrebt. Von jenen unförmlichen Kunstfelsen, womit der Sinese seine Gärten verschönt, bis zur ägyptischen Pyramide oder zum griechischen Ideal ist allenthalben Plan und Absicht eines nachsinnenden Verstandes, obwohl in sehr verschiednen Graden, merkbar. Je feiner nun dieser Verstand überlegte, je näher er dem Punkt kam, der ein Höchstes seiner Art enthält und keine Abweichung zur Rechten oder zur Linken verstattet, desto mehr wurden seine Werke Muster; denn sie enthalten ewige Regeln für den Menschenverstand aller Zeiten. So lässet sich z.B. über eine ägyptische Pyramide oder über mehrere griechische und römische Kunstwerke nichts Höheres denken. Sie sind rein aufgelöste Probleme des menschlichen Verstandes in dieser Art, bei welchen keine willkürliche Dichtung, daß das Problem etwa auch nicht aufgelöst sei oder besser aufgelöst werden könne, stattfindet; denn der reine Begriff dessen, was sie sein sollten, ist in ihnen auf die leichteste, reichste, schönste Art erschöpft. Jede Verirrung von ihnen wäre Fehler, und wenn dieser auf tausendfache Art wiederholt und vervielfältigt würde, so müßte man immer doch zu jenem Ziel zurückkehren, das ein Höchstes seiner Art und nur ein Punkt ist.

 4. Es zieht sich demnach eine Kette der Kultur in sehr abspringenden krummen Linien durch alle gebildete Nationen, die wir bisher betrachtet haben und weiterhin betrachten werden. In jeder derselben bezeichnet sie zu- und abnehmende Größen und hat Maxima allerlei Art. Manche von diesen schließen einander aus oder schränken einander ein, bis zuletzt dennoch ein Ebenmaß im ganzen stattfindet, so daß es der trüglichste Schluß wäre, wenn man von einer Vollkommenheit einer Nation auf jede andere schließen wollte. Weil Athen z.B. schöne Redner hatte, durfte es deshalb nicht auch die beste Regierungsform haben, und weil Sina so vortrefflich moralisiert, ist sein Staat noch kein Muster der Staaten. Die Regierungsform bezieht sich auf ein ganz anderes Maximum als ein schöner Sittenspruch oder eine pathtische Rede; obwohl zuletzt alle Dinge bei einer Nation, wenn auch nur ausschließend und einschränkend, sich in einen Zusammenhang finden. Kein anderes Maximum als das vollkommenste Band der Verbindung macht die glücklichsten Staaten; gesetzt, das Volk müßte auch mancherlei blendende Eigenschaften dabei entbehren.

 5. Auch bei einer und derselben Nation darf und kann nicht jedes Maximum ihrer schönen Mühe ewig dauren; denn es ist nur ein Punkt in der Linie der Zeiten. Unablässig rückt diese weiter, und von je mehreren Umständen die schöne Wirkung abhing, desto mehr ist sie dem Hingange und der Vergänglichkeit unterworfen. Glücklich, wenn ihre Muster alsdann zur Regel anderer Zeitalter bleiben; denn die nächstfolgenden stehen ihnen gemeiniglich zu nah und sanken vielleicht sogar eben deshalb, weil sie solche übertreffen wollten. Eben bei dem regsamsten Volk geht es oft in der schnellesten Abnahme vom siedenden bis zum Gefrierpunkt hinunter.

 


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