XIII.6. Allgemeine Betrachtungen über die Geschichte Griechenlandes
Wir haben die Geschichte dieses merkwürdigen Erdstrichs von mehreren Seiten betrachtet, weil sie zur Philosophie der Geschichte gewissermaßen ein einziges Datum ist unter allen Völkern der Erde. Nicht nur sind die Griechen von der Zumischung fremder Nationen befreit und in ihrer ganzen Bildung sich eigen geblieben, sondern sie haben auch ihre Perioden so ganz durchlebt und von den kleinsten Anfängen der Bildung die ganze Laufbahn derselben so vollständig durchschritten als sonst kein anderes Volk der Geschichte. Entweder sind die Nationen des festen Landes bei den ersten Anfängen der Kultur stehengeblieben und haben solche in Gesetzen und Gebräuchen unnatürlich verewigt, oder sie wurden, ehe sie sich auslebten, eine Beute der Eroberung: die Blume wurde abgemäht, ehe sie zum Flor kam. Dagegen genoß Griechenland ganz seiner Zeiten; es bildete an sich aus, was es ausbilden konnte, zu welcher Vollkommenheit ihm abermals das Glück seiner Umstände half. Auf dem festen Lande wäre es gewiß bald die Beute eines Eroberers worden, wie seine asiatischen Brüder; hätten Darius und Xerxes ihre Absichten an ihm erreicht, so wäre keine Zeit des Perikles erschienen. Oder hätte ein Despot über die Griechen geherrscht, er wäre nach dem Geschmack aller Despoten bald selbst ein Eroberer worden und hätte, wie Alexander es tat, mit dem Blut seiner Griechen ferne Flüsse gefärbet. Auswärtige Völker wären in ihr Land gemischt, sie in auswärtigen Ländern sieghaft umhergestreut worden u. f. Gegen das alles schützte sie nun ihre mäßige Macht, selbst ihr eingeschränkter Handel, der sich nie über die Säulen Herkules' und des Glückes hinausgewaget. Wie also der Naturlehrer seine Pflanze nur dann vollständig betrachten kann, wenn er sie von ihrem Samen und Keim aus bis zur Blüte und Abblüte kennt, so wäre uns die griechische Geschichte eine solche Pflanze; schade nur, daß nach dem gewohnten Gange dieselbe bisher noch lange nicht wie die römische ist bearbeitet worden. Meines Orts ist's jetzo, aus dem, was gesagt worden, einige Gesichtspunkte auszuzeichnen, die aus diesem wichtigen Beitrage für die gesamte Menschengeschichte dem Auge des Betrachters zunächst vorliegen; und da wiederhole ich zuerst den großen Grundsatz:
Erstlich. Was im Reich der Menschheit nach dem Umfange gegebner National-, Zeit- und Ortumstände geschehen kann, geschieht in ihm wirklich; Griechenland gibt hievon die reichsten und schönsten Erweise.
In der physischen Natur zählen wir nie auf Wunder: wir bemerken Gesetze, die wir allenthalben gleich wirksam, unwandelbar und regelmäßig finden; wie? und das Reich der Menschheit mit seinen Kräften, Veränderungen und Leidenschaften sollte sich dieser Naturkette entwinden? Setzt Sinesen nach Griechenland, und es wäre unser Griechenland nie entstanden; setzt unsere Griechen dahin, wohin Darius die gefangenen Eretrier führte, sie werden kein Sparta und Athen bilden. Betrachtet Griechenland jetzt; ihr findet die alten Griechen, ja oft ihr Land nicht mehr. Sprächen sie nicht noch einen Rest ihrer Sprache, säht ihr nicht noch Trümmern ihrer Denkart, ihrer Kunst, ihrer Städte oder wenigstens ihrer alten Flüsse und Berge, so müßtet ihr glauben, das alte Griechenland sei euch als eine Insel der Kalypso oder des Alkinous vorgedichtet worden. Wie nun diese neuern Griechen nur durch die Zeitfolge in einer gegebenen Reihe von Ursachen und Wirkungen das worden sind, was sie wurden, nicht minder jene alten, nicht minder jede Nation der Erde. Die ganze Menschengeschichte ist eine reine Naturgeschichte menschlicher Kräfte, Handlungen und Triebe nach Ort und Zeit.
So einfach dieser Grundsatz ist, so aufklärend und nützlich wird er in Behandlung der Geschichte der Völker. Jeder Geschichtforscher ist mit mir einig, daß ein nutzloses Anstaunen und Lernen derselben den Namen der Geschichte nicht verdiene; und ist dies, so muß bei jeder ihrer Erscheinungen, wie bei einer Naturbegebenheit, der überlegende Verstand mit seiner ganzen Schärfe wirken. Im Erzählen der Geschichte wird dieser also die größeste Wahrheit, im Fassen und Beurteilen den vollständigsten Zusammenhang suchen und nie eine Sache, die ist oder geschieht, durch eine andere, die nicht ist, zu erklären streben. Mit diesem strengen Grundsatz verschwinden alle Ideale, alle Phantome eines Zauberfeldes; überall sucht man, rein zu sehen, was da ist, und sobald man dies sah, fällt meistens auch die Ursache in die Augen, warum es nicht anders als also sein konnte. Sobald das Gemüt an der Geschichte sich diese Gewohnheit eigen gemacht hat, hat es den Weg der gesunderen Philosophie gefunden, den es außer der Naturgeschichte und Mathematik schwerlich anderswo finden konnte.
Eben dieser Philosophie zufolge werden wir uns also zuerst und vorzüglich hüten, den Taterscheinungen der Geschichte verborgne einzelne Absichten eines uns unbekannten Entwurfs der Dinge oder gar die magische Einwirkung unsichtbarer Dämonen anzudichten, deren Namen man bei Naturerscheinungen auch nur zu nennen sich nicht getraute. Das Schicksal offenbart seine Absichten durch das, was geschieht und wie es geschieht; also entwickelt der Betrachter der Geschichte diese Absichten bloß aus dem, was da ist und sich in seinem ganzen Umfange zeigt. Warum waren die aufgeklärten Griechen in der Welt? Weil sie da waren und unter solchen Umständen nicht anders als aufgeklärte Griechen sein konnten. Warum zog Alexander nach Indien? Weil er Philipps Sohn Alexander war und nach den Anstalten seines Vaters, nach den Taten seiner Nation, nach seinem Alter und Charakter, nach seinem Lesen Homers u. f. nichts Bessers zu tun wußte. Legten wir seinem raschen Entschluß verborgene Absichten einer höheren Macht und seinen kühnen Taten eine eigne Glücksgöttin unter, so liefen wir Gefahr, dort seine schwärzesten Unbesonnenheiten zu göttlichen Endzwecken zu machen, hier seinen persönlichen Mut und seine Kriegsklugheit zu schmälern, überall aber der ganzen Begebenheit ihre natürliche Gestalt zu rauben. Wer in der Naturgeschichte den Feenglauben hätte, daß unsichtbare Geister die Rose schminken oder den silbernen Tau in ihren Kelch tröpfeln; wer den Glauben hätte, daß kleine Lichtgeister den Leib des Nachtwurms zu ihrer Hülle nehmen oder auf dem Schweif des Pfauen spielen, der mag ein sinnreicher Dichter sein, nie wird er als Natur- oder als Geschichtforscher glänzen. Geschichte ist die Wissenschaft dessen, was da ist, nicht dessen, was nach geheimen Absichten des Schicksals etwa wohl sein könnte.