XIV.1. Etrusker und Lateiner
Schon ihrer Lage nach war die hervorgestreckte Halbinsel Italien einer Menge verschiedener Ankömmlinge und Bewohner fähig. Da sie im obern Teil mit dem großen festen Lande zusammenhängt, das von Spanien und Gallien aus, über Illyrien hin, sich bis zum Schwarzen Meer, der großen Wegscheide der Völker, verbreitet und längs dem Meer hin gerade den Küsten Illyriens und Griechenlandes gegenüberliegt, so war's unvermeidlich, daß nicht in jenen Zeiten uralter Völkerwanderungen auch verschiedne Stämme verschiedner Nationen längsab dahin gelangen mußten. Oberhalb waren einige von ihnen iberischen, andere gallischen Stammes; hinunterwärts wohnten Ausonier, deren höheren Ursprung man nicht weiß; und da sich mit den meisten dieser Völker Pelasger und späterhin Griechen, ja vielleicht selbst Trojaner, und jene aus verschiednen Gegenden zu verschiednen Zeiten vermischt haben, so kann man schon dieser merkwürdigen Ankömmlinge wegen Italien als ein Treibhaus ansehn, in welchem früher oder später etwas Merkwürdiges hervorsprießen mußte. Viele dieser Völker kamen nämlich nicht ungebildet hieher: die pelasgischen Stämme hatten, ihre Buchstaben, ihre Religion und Fabel; manche Iberier, die dem phönicischen Handel nahe gewohnt hatten, vielleicht auch; es kam also nur darauf an, auf welcher Stelle und in welcher Weise die einländische Blüte sich hervortun würde.
Sie sproßte bei den Etruskern auf, die, woher sie auch gewesen sein mögen, eins der frühesten und eigentümlichsten Völker im Geschmack und in der Kultur wurden. Auf Eroberungen ging nicht ihr Sinn, aber auf Anlagen, Einrichtungen, Handel, Kunst und Schiffahrt, zu welcher ihnen die Küsten dieses Landes sehr bequem waren. Fast in ganz Italien bis nach Kampanien hin haben sie Pflanzstädte angelegt, Künste eingeführt und Handel getrieben, so daß eine Reihe der berühmtesten Städte dieses Landes ihnen ihren Ursprung verdankt.232 Ihre bürgerliche Einrichtung, in welcher sie den Römern selbst zum Vorbilde dienten, hebt sich hoch über die Verfassung der Barbaren empor und hat zugleich so ganz das Gepräge eines europäischen Geistes, daß sie gewiß von keinem asiatisch- oder afrikanischen Volk entlehnt sein konnte. Nahe noch vor den Zeiten ihres Unterganges war Etrurien eine Gemeinrepublik von zwölf Stämmen, nach Grundsätzen vereinigt, die in Griechenland selbst weit später und nur durch die äußerste Not erzwungen wurden. Kein einzelner Staat durfte ohne Teilnehmung des gesamten Ganzen Krieg anfangen oder Frieden schließen; der Krieg selbst war von ihnen schon zu einer Kunst gemacht, da sie zu Zeichen des Angriffes, des Abzuges, des Marsches, des Fechtens in geschloßnen Gliedern die Kriegstrompete, die leichten Spieße, das Pilum u. f. erfunden hatten oder gebrauchten. Mit dem feierlichen Rechte der Herolde, das sie einführten, beobachteten sie eine Art Krieges- und Völkerrechts; wie denn auch die Augurien und mehrere Gebräuche ihrer Religion, die uns bloß Aberglaube dünken, offenbar zugleich Werkzeuge ihrer Staatseinrichtung waren, durch welche sie in Italien als das erste Volk erscheinen, das die Religion kunstmäßig mit dem Staat zu verbinden suchte. In alle diesem hat Rom fast alles von ihnen gelernt, und wenn Einrichtungen solcher Art unleugbar zur Festigkeit und Größe der römischen Macht beitrugen, so sind die Römer den Etruskern hierin das meiste schuldig. Auch die Schiffahrt trieb dieses Volk frühe schon als wirkliche Kunst und herrschte in Kolonien oder durch Handel längs der italienischen Küste. Sie verstanden die Befestigungs- und Baukunst; die toskanische Säule, älter als selbst die dorische der Griechen, hat von ihnen den Namen und ist von keinem fremden Volk entlehnt. Sie liebten das Wettrennen auf Wagen, Theaterspiele, die Musik, ja auch die Dichtkunst und hatten, wie ihre Kunstdenkmale zeigen, die pelasgische Fabel sich sehr eigen zugebildet. Jene Trümmern und Scherben ihrer Kunst, die uns meistens nur das rettende Totenreich aufbewahrt hat, zeigen, daß sie von den rohesten Anfängen ausgegangen sind und auch nachher, in der Bekanntschaft mehrerer Völker, selbst der Griechen, ihrer eigentümlichen Denkart treu zu bleiben wußten. Sie haben wirklich einen eignen Stil der Kunst233 und haben diesen, wie den Gebrauch ihrer Religionssagen, bis über das Ende ihrer Freiheit behauptet.234 So scheinen sie auch in guten bürgerlichen Gesetzen für beide Geschlechter, in Anstalten für den Acker- und Weinbau, für die innere Sicherheit des Handels, für die Aufnahme der Fremden u. f. den Rechten der Menschheit nähergekommen zu sein, als selbst späterhin manche griechische Republiken kamen; und da ihr Alphabet der nähere Typus aller europäischen Alphabete geworden ist, so dürfen wir Etrurien als die zweite Pflanzstätte der Kultur unseres Weltteils ansehen. Um so mehr ist's zu bedauren, daß wir von den Bestrebungen dieses kunstreichen, gesitteten Volks so wenige Denkmale und Nachrichten haben; denn selbst die nähere Geschichte ihres Unterganges hat uns ein feindlicher Zufall geraubet.
Woher nun diese etruskische Blüte? Woher, daß sie nicht zur griechischen Schönheit stieg und vor dem Gipfel ihrer Vollkommenheit verblühte?
Sowenig wir von den Etruskern wissen, so sehen wir doch auch bei ihnen das große Naturwerk in Bildung der Nationen, das sich nach innern Kräften und äußern Verbindungen mit Ort und Zeit gleichsam selbst umschreibet. Ein europäisches Volk waren sie, schon weiter entfernt vom altbewohnten Asien, jener Mutter der früheren Bildung. Auch die pelasgischen Stämme kamen als halbverwilderte Wanderer an diese oder jene italienische Küste, da Griechenland hingegen dem Zusammenstrom gebildeter Nationen wie im Mittelpunkt lag. Hier drängten sich mehrere Völker zusammen, so daß auch die etruskische Sprache ein Gemisch mehrerer Sprachen scheint235, dem vielbewohnten Italien war also die Blüte der Bildung aus einem reinen Keime versagt. Schon daß der Apennin voll roher Bergvölker mitten durch Italien streicht, ließ jene Einförmigkeit eines Reiches oder Nationalgeschmacks nicht zu, auf welche sich doch allein die feste Dauer einer allgemeinen Landeskultur gründet. Auch in spätem Zeiten hat kein Land den Römern mehr Mühe gekostet als Italien selbst, und sobald ihre Herrschaft dahin war, ging es abermals in seinen natürlichen Zustand der mannigfaltigsten Teilung über. Die Lage seiner Länder nach Gebirgs' und Küsten sowie auch der verschiedne Stammescharakter seiner Bewohner machte diese Teilung natürlich denn noch jetzt, da die politische Gewalt alles unter ein Haupt zu bringen oder an eine Kette zu reihen sucht, ist unter allen Ländern Europas Italien das vielgeteilteste Land geblieben. Auch die Etrusker also wurden bald von mehreren Völkern bedrängt; und da sie mehr ein handelndes als ein kriegerisches Volk waren, so mußte selbst ihre gebildetere Kriegskunst beinahe jedem neuen Anfall wilderer Nationen weichen. Durch die Gallier verloren sie ihre Plätze in Oberitalien und wurden ins eigentliche Etrurien eingeschränkt; späterhin gingen ihre Pflanzstädte in Kampanien an die Samniten über. Als ein kunstliebendes, handelndes Volk mußten sie roheren Nationen gar bald unterliegen; denn Künste sowohl als der Handel führen Üppigkeit mit sich, von der ihre Kolonien an den schönsten Küsten Italiens nicht frei waren. Endlich gerieten die Römer über sie, denen sie unglücklicherweise zu nahe lagen, denen also auch, trotz alles rühmlichen Widerstandes, weder ihre Kultur noch ihr Staatenbund ewig widerstehen mochte. Durch jene waren sie zum Teil schon ermattet, indes Rom noch ein hartes kriegerisches Volk war; ihre Staatenverbündung konnte ihnen auch wenig Nutzen schaffen, da die Römer sie zu trennen wußten und mit einzelnen Staaten fochten. Einzeln also bezwangen sie dieselbe, nicht ohne vieljährige Mühe, da von der andern Seite auch die Gallier oft in Etrurien streiften. Das bedrängte Volk, von zwei mächtigen Feinden begrenzt, erlag also dem, der seine Unterjochung mit dem festesten Plan fortsetzte, und dies waren die Römer. Seit der Aufnahme des stolzen Tarquins in Etrurien und seit dem Glück des Porsenna sahen sie diesen Staat als ihren gefährlichsten Nachbar an; denn Demütigungen, wie Rom vom Porsenna erfahren hatte, konnte es nie vergeben. Daher es kein Wunder war, wenn einem rohen Volk ein beinah erschlafftes, einem kriegerischen ein handelndes, einer festvereinigten Stadt ein uneiniges Staatenbündnis zuletzt unterliegen mußte. Wenn Rom nicht zerstören sollte, so mußte es frühe zerstört werden; und da solches der gute Porsenna nicht tat, so wurde sein Land endlich des verschonten Feindes Beute.