XIII.2. Griechenlands Sprache, Mythologie und Dichtkunst
Wir kommen zu Gegenständen, die Jahrtausende schon das Vergnügen des feineren Menschengeschlechts waren und, wie ich hoffe, es immerhin sein werden. Die griechische Sprache ist die gebildetste der Welt, die griechische Mythologie die reichste und schönste auf der Erde, die griechische Dichtkunst endlich vielleicht die vollkommenste ihrer Art, wenn man sie ort- und zeitmäßig betrachtet. Wer gab nun diesen einst rohen Stämmen eine solche Sprache, Poesie und bildliche Weisheit? Der Genius der Natur gab sie ihnen, ihr Land, ihre Lebensart, ihre Zeit, ihr Stammescharakter.
Von rohen Anfängen ging die griechische Sprache aus; aber diese Anfänge enthielten schon Keime zu dem, was aus ihr werden sollte und werden konnte. Sie war kein Hieroglyphenmachwerk, keine Reihe hervorgestoßener einzelner Silben, wie die Sprachen jenseit der mongolischen Berge. Biegsamere, leichtere Organe brachten unter den Völkern des Kaukasus eine leichtere Modulation hervor, die von der geselligen Liebe zur Tonkunst gar bald in Form gebracht werden konnte. Sanfter wurden die Worte gebunden, die Töne zum Rhythmus geordnet; die Sprache floß in einen volleren Strom, die Bilder derselben in eine angenehme Harmonie; sie stiegen sogar zum Wohllaut eines Tanzes. Und so wurde jenes einzige Gepräge der griechischen Sprache, das nicht von stummen Gesetzen erpreßt, das durch Musik und Tanz, durch Gesang und Geschichte, endlich durch den plauderhaften freien Umgang vieler Stämme und Kolonien wie eine lebendige Form der Natur entstanden war. Die nordischen Völker Europens hatten bei ihrer Bildung dies Glück nicht. Da ihnen durch fremde Gesetze und durch eine gesanglose Religion ausländische Sitten gegeben wurden, so verstümmele auch ihre Sprache. Die deutsche z.B. hat unstreitig viel von ihrer innern Biegsamkeit, von ihrer bestimmtem Zeichnung in der Flexion der Worte, ja noch mehr von jenem lebendigen Schall verloren, den sie unter günstigem Himmelsstrichen ehedem hatte. Einst war sie eine nahe Schwester der griechischen Sprache, und jetzt, wie fernab von dieser ist sie gebildet! Keine Sprache jenseit des Ganges hat die Biegsamkeit und den sanften Fortfluß der griechischen. Mundart, kein aramäischer Dialekt diesseit des Euphrats hatte ihn in seinen alten Gestalten. Nur die griechische Sprache ist wie durch Gesang entstanden: denn Gesang und Dichtkunst und ein früher Gebrauch des freien Lebens hat sie zur Musensprache der Welt gebildet. So selten sich nun jene Umstände der Griechenkultur wieder zusammenfinden werden, sowenig das Menschengeschlecht in seine Kindheit zurückgehen und einen Orpheus, Musäus und Linus oder einen Homerus und Hesiodus mit allem, was sie begleitete, von den Toten zurückführen kann, sowenig ist die Genesis einer griechischen Sprache in unsern Zeiten selbst für diese Gegenden möglich.
Die Mythologie der Griechen floß aus Sagen verschiedener Gegenden zusammen, die Glaube des Volks, Erzählungen der Stämme von ihren Urvätern oder die ersten Versuche denkender Köpfe waren, sich die Wunder der Welt zu erklären und der menschlichen Gesellschaft Gestalt zu geben.214) So unecht und neugeformt unsere Hymnen des alten Orpheus sein mögen, so sind sie immer doch Nachbilder von jenen lebendigen Anbetungen und Grüßen an die Natur, die alle Völker auf der ersten Stufe der Bildung lieben. Der rohe Jäger spricht seinen gefürchteten Bär215), der Neger seinen heiligen Fetisch, der parsische Mobed seine Naturgeister und Elemente beinah auf orphische Weise an; nur, wie ist der orphische Naturhymnus bloß und allein schon durch die griechischen Worte und Bilder gereinigt und veredelt! Und wie angenehm leichter wurde die griechische Mythologie, da sie mit der Zeit auch in den Hymnen selbst die Fesseln bloßer Beiworte abwarf und dafür, wie in den Homerischen Gesängen, Fabeln der Götter erzählte! Auch in den Kosmogonien zog man mit der Zeit die alten, harten Ursagen näher zusammen und sang dafür menschliche Helden und Stammväter, die man dicht an jene und an die Gestalten der Götter knüpfte. Glücklicherweise hatten die alten Theogonienerzähler in die Stammtafeln ihrer Götter und Helden so treffende, schöne Allegorien, oft nur mit einem Wort ihrer holden Sprache, gebracht, daß, wenn die späteren Weisen die Bedeutung derselben nur ausspinnen und ihre feinern Ideen daran knüpfen wollten, ein neues schönes Gewebe wurde. Daher verließen selbst die epischen Sänger mit der Zeit ihre oft gebrauchten Sagen von Göttererzeugungen, Himmelsstürmern, Taten des Herkules u. f. und sangen dafür menschlichere Gegenstände zum menschlichen Gebrauche.
Vor allen ist unter diesen Homer berühmt, der Vater aller griechischen Dichter und Weisen, die nach ihm lebten. Durch ein glückliches Schicksal wurden seine zerstreuten Gesänge zu rechter Zeit gesammelt und zu einem zwiefachen Ganzen vereint, das wie ein unzerstörbarer Palast der Götter und Helden auch nach Jahrtausenden glänzt. Wie man ein Wunder der Natur zu erklären strebt, so hat man sich Mühe gegeben, das Werden Homers zu erklären216), der doch nichts als ein Kind der Natur war, ein glücklicher Sänger der ionischen Küste. So manche seiner Art mögen untergegangen sein, die ihm teilweise den Ruhm streitig machen könnten, in welchem er jetzt als ein Einziger lebt. Man hat ihm Tempel gebaut und ihn als einen menschlichen Gott verehrt; die größeste Verehrung indes ist die bleibende Wirkung, die er auf seine Nation hatte und noch jetzt auf alle diejenigen hat, die ihn zu schätzen vermögen. Zwar sind die Gegenstände, die er besingt, Kleinigkeiten nach unserer Weise; seine Götter und Helden mit ihren Sitten und Leidenschaften sind keine andere, als die ihm die Sage seiner und der vergangenen Zeiten darbot; ebenso eingeschränkt ist auch seine Natur- und Erdkenntnis, seine Moral und Staatslehre. Aber die Wahrheit und Weisheit, mit der er alle Gegenstände seiner Welt zu einem lebendigen Ganzen verwebt, der feste Umriß jedes seiner Züge in jeder Person seiner unsterblichen Gemälde, die unangestrengte sanfte Art, in welcher er, frei als ein Gott, alle Charaktere sieht und ihre Laster und Tugenden, ihre Glücks- und Unglücksfälle erzählt, die Musik endlich, die in so abwechselnden großen Gedichten unaufhörlich von seinen Lippen strömt und jedem Bilde, jedem Klange seiner Worte eingehaucht, mit seinen Gesängen gleich ewig lebt: sie sind's, die in der Geschichte der Menschheit den Homer zum Einzigen seiner Art und der Unsterblichkeit würdig machen, wenn etwas auf Erden unsterblich sein kann.