XIII.2. Griechenlands Sprache, Mythologie und Dichtkunst
Notwendig hatte Homer auf die Griechen eine andere Wirkung, als er auf uns haben kann, von denen er so oft eine erzwungene kalte Bewunderung oder gar eine kalte Verachtung zum Lohn hat; bei den Griechen nicht also. Ihnen sang er in einer lebendigen Sprache, völlig noch ungebunden von dem, was man in spätem Zeiten Dialekte nannte; er sang ihnen die Taten der Vorfahren mit Patriotismus gegen die Fremden und nannte ihnen dabei Geschlechter, Stämme, Verfassungen und Gegenden, die ihnen teils als ihr Eigentum vor Augen waren, teils in der Erinnerung ihres Ahnenstolzes lebten. Also war ihnen Homer in mehrerem Betracht ein Götterbote des Nationalruhms, ein Quell der vielseitigsten Nationalweisheit. Die spätem Dichter folgten ihm: die tragischen zogen aus ihm Fabeln, die lehrenden Allegorien, Beispiele und Sentenzen; jeder erste Schriftsteller einer neuen Gattung nahm am Kunstgebäude seines Werkes zu dem seinigen das Vorbild, also daß Homer gar bald das Panier des griechischen Geschmacks wurde und bei schwachem Köpfen die Regel aller menschlichen Weisheit. Auch auf die Dichter der Römer hat er gewirkt, und keine Äneis würde ohne ihn da sein. Noch mehr hat auch er die neueren Völker Europas aus der Barbarei gezogen: so mancher Jüngling hat an ihm bildende Freude genossen, und der arbeitende sowohl als der betrachtende Mann Regeln des Geschmacks und der Menschenkenntnis aus ihm gezogen. Indessen ist's ebenso unleugbar, daß, wie jeder große Mann durch eine übertriebne Bewunderung seiner Gaben Mißbrauch stiftete, auch der gute Homer davon nicht frei gewesen, so daß er sich selbst am meisten wundern würde, wenn er, wiedererscheinend, sähe, was man zu jeder Zeit aus ihm gemacht hat. Unter den Griechen hielt er die Fabel länger und fester, als sie ohne ihn wahrscheinlich gedauert hätte: Rhapsodisten sangen ihn her, kalte Dichterlinge ahmten ihn nach, und der Enthusiasmus für den Homer wurde unter den Griechen endlich eine so kahle, süße, zugespitzte Kunst, als er's kaum irgend für einen Dichter unter einem andern Volk gewesen. Die zahllosen Werke der Grammatiker über ihn sind meistens verloren, sonst würden wir auch an ihnen die unselige Mühe sehen, die Gott den spätem Geschlechtern der Menschen durch jeden überwiegenden Geist auflegt; denn sind nicht auch in den neuern Zeiten Beispiele gnug von der falschen Bearbeitung und Anwendung Homers vorhanden? Das bleibt indessen immer gewiß, daß ein Geist wie er in den Zeiten, in denen er lebte, und für die Nation, der er gesammelt wurde, ein Geschenk der Bildung sei, dessen sich schwerlich ein anderes Volk rühmen könnte. Kein Morgenländer besitzt einen Homer; keinem europäischen Volk ist zur rechten Zeit in seiner Jugendblüte ein Dichter wie er erschienen. Selbst Ossian war es seinen Schotten nicht, und ob je das Schicksal einen zweiten Glückswurf tun werde, dem Sunde neugriechischer Freundschafts-Inseln einen Homer zu geben, der sie so hoch wie sein alter Zwillingsbruder führe: darüber trage man das Schicksal.
Da also einmal die griechische Kultur von Mythologie, Dichtkunst und Musik ausging, so ist's nicht zu verwundern, daß der Geschmack, daran ein Hauptstrich ihres Charakters geblieben, der auch ihre ernsthaftesten Schriften und Anstalten bezeichnet. Unsern Sitten ist's fremde, daß die Griechen von der Musik als dem Hauptstück der Erziehung reden, daß sie solche als ein großes Werkzeug des Staats behandeln und dem Verfall derselben die wichtigsten Folgen zuschreiben. Noch sonderbarer scheinen uns die Lobsprüche, die sie dem Tanz, der Gebärden- und Schauspielkunst als natürlichen Schwestern der Poesie und Weisheit so begeistert und fast entzückt geben. Manche, die diese Lobsprüche lasen, glaubten, daß die Tonkunst der Griechen auch in systematischer Vollkommenheit ein Wunder der Welt gewesen, weil die gerühmten Wirkungen derselben uns so ganz fremde blieben. Daß es aber auf wissenschaftliche Vollkommenheit der Musik bei den Griechen nicht vorzüglich angelegt gewesen sei, zeigt selbst der Gebrauch, den sie von ihr machten. Sie behandelten sie nämlich gar nicht als eine besondre Kunst, sondern ließen sie der Poesie, dem Tanze, der Gebärden- und Schauspielkunst nur dienen. In dieser Verbindung also und im ganzen Gange, den die griechische Kultur nahm, liegt das Hauptmoment der Wirkung ihrer Töne. Die Dichtkunst der Griechen, von der Musik ausgegangen, kam gern auf sie zurück; selbst das hohe Trauerspiel war nur aus dem Chor entstanden, so wie auch das alte Lustspiel, die öffentlichen Ergötzungen, die Züge zur Schlacht und die häuslichen Freuden des Gastmahls bei ihnen selten ohne Musik und Gesang, die meisten Spiele aber nicht ohne Tänze blieben. Nun war hierin zwar, da Griechenland aus vielen Staaten und Völkern bestand, eine Provinz von der andern sehr verschieden; die Zeiten, die mancherlei Stufen der Kultur und des Luxus änderten darin noch mehr; im ganzen aber blieb's allerdings wahr, daß die Griechen auf eine gemeinschaftliche Ausbildung dieser Künste als auf den höchsten Punkt menschlicher Wirkung rechneten und darauf den größesten Wert legten. Es darf wohl gesagt werden, daß weder die Gebärden- noch Schauspielkunst, weder der Tanz noch die Poesie und Musik bei uns die Dinge sind, die sie bei den Griechen waren. Bei ihnen waren sie nur ein Werk, eine Blüte des menschlichen Geistes, deren rohen Keim wir bei allen wilden Nationen, wenn sie gefälligen, leichten. Charakters sind und in einem glücklichen Himmelsstrich leben, wahrnehmen. So töricht es nun wäre, sich in dies Zeitalter jugendlichen Leichtsinns zurücksetzen zu wollen, da es einmal vorüber ist, und wie ein lahmer Greis mit Jünglingen zu hüpfen: warum sollte dieser Greis es den Jünglingen verübeln, daß sie munter sind und tanzen? Die Kultur der Griechen traf auf dies Zeitalter jugendlicher Fröhlichkeit, aus deren Künsten sie alles, was sich daraus machen ließ, machten, notwendig also auch damit eine Wirkung erreichten, deren Möglichkeit wir jetzt kaum in Krankheiten und Überspannungen einsehn. Denn ich zweifle, ob es ein größeres Moment der feinem sinnlichen Wirkung aufs menschliche Gemüt gebe, als der ausstudierte höchste Punkt der Verbindung dieser Künste war, zumal bei Gemütern, die, dazu erzogen und gebildet, in einer lebendigen Welt solcher Eindrücke lebten. Lasst uns also, wenn wir selbst nicht Griechen sein können, uns wenigstens freuen, daß es einmal Griechen gegeben und daß, wie jede Blüte der menschlichen Denkart, so auch diese ihren Ort und ihre Zeit zur schönsten Entwicklung fand.
Aus dem, was bisher gesagt worden, läßt sich vermuten, daß wir manche Gattung der griechischen Komposition, die sich auf eine lebendige Vorstellung durch Musik, Tanz und die Gebärdensprache bezieht, nur als ein Schattenwerk ansehen, mithin auch bei der sorgsamsten Erklärung vielleicht irregehen werden. Äschylus', Sophokles', Aristophanes' und Euripides' Theater war nicht unser Theater; das eigentliche Drama der Griechen ist unter keinem Volk mehr erschienen, so vortreffliche Stücke auch andere Nationen in dieser Art gearbeitet haben. Ohne Gesang, ohne jene Feierlichkeiten und hohen Begriffe der Griechen von ihren Spielen müssen Pindars Oden uns Ausbrüche der Trunkenheit scheinen, so wie selbst Platons Gespräche, voll Silbenmusik und schöner Komposition in Bildern und Worten, eben in Stellen ihrer künstlichsten Einkleidung sich die meisten Vorwürfe zugezogen haben. Jünglinge müssen daher die Griechen lesen lernen, weil Alte sie selten zu sehen oder ihre Blüte sich zuzueignen geneigt sind. Laß es sein, daß ihre Einbildungskraft oft den Verstand, daß jene feine Sinnlichkeit, in welche sie das Wesen der guten Bildung setzt en, zuweilen die Vernunft und Tugend überwogen: wir wollen sie schätzenlernen, ohne selbst Griechen zu werden. An ihrer Einkleidung, am schönen Maß und Umriß ihrer Gedanken, an der naturvollen Lebhaftigkeit ihrer Empfindungen, endlich an jenem klangvollen Rhythmus ihrer Sprache, der nie und nirgend seinesgleichen gefunden, haben wir immer noch zu lernen.