XIII.6. Allgemeine Betrachtungen über die Geschichte Griechenlandes

 

 Zweitens. Was von einem Volk gilt, gilt auch von der Verbindung mehrerer Völker untereinander: sie stehen zusammen, wie Zeit und Ort sie band; sie wirken aufeinander, wie der Zusammenhang lebendiger Kräfte es bewirkte.

 Auf die Griechen haben Asiaten und sie auf jene zurückgewirkt. Römer, Goten, Türken, Christen übermanneten sie, und Römer, Goten, Christen haben von ihnen mancherlei Mittel der Aufklärung erhalten; wie hangen diese Dinge zusammen? Durch Ort, Zeit und die natürliche Wirkung lebendiger Kräfte. Die Phönicier brachten ihnen Buchstaben; sie hatten aber diese Buchstaben nicht für sie erfunden; sie brachten ihnen solche, weil sie eine Kolonie zu ihnen schickten. So war's mit den Hellenen und Ägyptern, so mit den Griechen, da sie gen Baktra zogen; so ist's mit allen Geschenken der Muse, die wir von ihnen erhielten. Homer sang, aber nicht für uns; nur weil er zu uns kam, haben wir ihn und dürfen von ihm lernen. Hätte ihn uns ein Umstand der Zeitenfolge geraubt, wie soviel andere vortreffliche Werke; wer wollte mit der Absicht eines geheimen Schicksals rechten, wenn er die natürlichen Ursachen seines Unterganges vor sich sieht? Man gehe die verlornen und erhaltenen Schriften, die verschwundenen und übriggebliebenen Werke der Kunst samt den Nachrichten über ihre Erhaltung und Zerstörung durch und wage es, die Regel anzuzeigen, nach welcher in einzelnen Fällen das Schicksal erhielt oder zerstörte. Aristoteles wurde in einem Exemplar unter der Erde, andere Schriften als verworfne Pergamente in Kellern und Kisten, der Spötter Aristophanes unter dem Kopfkissen des H. Chrysostomus erhalten, damit dieser aus ihm predigen lernte; und so sind die verworfensten kleinsten Wege gerade diejenigen gewesen, von denen unsere ganze Aufklärung abhing. Nun ist unsere Aufklärung unstreitig ein großes Ding in der Weltgeschichte: sie hat fast alle Völker in Aufruhr gebracht und legt jetzt mit Herschel die Milchstraßen des Himmels wie Strata auseinander. Und dennoch von welchen kleinen Umständen hing sie ab, die uns das Glas und einige Bücher brachten, so daß wir ohne diese Kleinigkeiten vielleicht noch wie unsere alten Brüder, die unsterblichen Scythen, mit Weibern und Kindern auf Wagenhäusern führen. Hätte die Reihe der Begebenheiten es gewollt, daß wir statt griechischer mongolische Buchstaben erhalten sollten, so schrieben wir jetzt mongolisch, und die Erde ging deshalb mit ihren Jahren und Jahrszeiten ihren großen Gang fort, eine Ernährerin alles dessen, was nach göttlichen Naturgesetzen auf ihr lebt und wirkt.

 Drittens. Die Kultur eines Volks ist die Blüte seines Daseins, mit welcher es sich zwar angenehm, aber hinfällig offenbart.

 Wie der Mensch, der auf die Welt kommt, nichts weiß; er muß, was er wissen will, lernen: so lernt ein rohes Volk durch Übung für sich oder durch Umgang von andern. Nun hat aber jede Art der menschlichen Kenntnisse ihren eignen Kreis, d. i. ihre Natur, Zeit, Stelle und Lebensperiode; die griechische Kultur z.B. erwuchs nach Zeiten, Orten und Gegenständen und sank mit denselben. Einige Künste und die Dichtkunst gingen der Philosophie zuvor: wo die Kunst oder die Rednerei blühte, durfte nicht eben auch die Kriegskunst oder die patriotische Tugend blühen; die Redner Athens bewiesen ihren größesten Enthusiasmus, da es mit dem Staat zu Ende ging und seine Redlichkeit hin war.

 Aber das haben alle Gattungen menschlicher Aufklärung gemein, daß jede zu einem Punkt der Vollkommenheit strebt, der, wenn er durch einen Zusammenhang glücklicher Umstände hier oder dort erreicht ist, sich weder ewig erhalten noch auf der Stelle wiederkommen kann, sondern eine abnehmende Reihe anfängt. Jedes vollkommenste Werk nämlich, sofern man von Menschen Vollkommenheit fodern kann, ist ein Höchstes in seiner Art; hinter ihm sind also bloß Nachahmungen oder unglückliche Bestrebungen, es übertreffen zu wollen, möglich. Als Homer gesungen hatte, war in seiner Gattung kein zweiter Homer denkbar; jener hatte die Blüte des epischen Kranzes gepflückt, und wer auf ihn folgte, mußte sich mit einzelnen Blättern begnügen. Die griechischen Trauerspieldichter wählten sich also eine andere Laufbahn; sie aßen, wie Äschylus sagt, vom Tisch Homers, bereiteten aber für ihr Zeitalter ein anderes Gastmahl. Auch ihre Periode ging vorüber: die Gegenstände des Trauerspiels erschöpften sich und konnten von den Nachfolgern, der größesten Dichter nur verändert, d. i. in einer schlechtem Form gegeben werden, weil die bessere, die höchstschöne Form des griechischen Drama mit jenen Mustern schon gegeben war. Trotz aller seiner Moral konnte Euripides nicht mehr an Sophokles reichen, geschweige, daß er ihn im Wesen seiner Kunst zu übertreffen vermocht hätte, und der kluge Aristophanes wählte daher eine andere Laufbahn. So war's mit allen Gattungen der griechischen Kunst und wird unter allen Völkern also bleiben; ja daß die Griechen in ihren schönern Zeiten dieses Naturgesetz einsahn und ein Höchstes durch ein noch Höheres nicht zu überstreben suchten, das eben machte ihren Geschmack so sicher und die Ausbildung desselben so mannigfaltig. Als Phidias seinen allmächtigen Jupiter erschaffen hatte, war kein höherer Jupiter möglich; wohl aber konnte das Ideal desselben auch auf andere Götter seines Geschlechts angewandt werden, und so erschuf man jedem Gott seinen Charakter: die ganze Provinz der Kunst wurde bepflanzt.

 Arm und klein wäre es also, wenn wir unsere Liebe zu irgendeinem Gegenstande menschlicher Kultur der allwaltenden Vorsehung als Regel vorzeichnen wollten, um dem Augenblick, in welchem er allein Platz gewinnen konnte, eine unnatürliche Ewigkeit zu geben. Es hieße diese Bitte nichts anders, als das Wesen der Zeit zu vernichten und die ganze Natur der Endlichkeit zu zerstören. Unsere Jugend kommt nicht wieder; mithin auch nie die Wirkung unserer Seelenkräfte wie sie dann und dort war. Eben daß die Blume erschien, zeigt, daß sie verblühen werde; von der Wurzel aus hat sie die Kräfte der Pflanze in sich gezogen, und wenn sie stirbt, stirbt die Pflanze ihr nach. Unglücklich wäre es gewesen, wenn die Zeit, die einen Perikles und Sokrates hervorbrachte, nur ein Moment länger hätte dauren sollen, als ihr die Kette der Umstände Dauer bestimmte; es war für Athen ein gefährlicher, unerträglicher Zeitpunkt. Ebenso eingeschränkt wäre es, wenn die Mythologie Homers in den Gemütern der Menschen ewig dauern, die Götter der Griechen ewig herrschen, ihre Demosthene ewig donnern sollen u. f. Jede Pflanze der Natur muß verblühen; aber die verblühte Pflanze streut ihren Samen weiter, und dadurch erneuert sich die lebendige Schöpfung, Shakespeare war kein Sophokles, Milton kein Homer, Bolingbroke kein Perikles; sie waren aber das in ihrer Art und auf ihrer Stelle, was jene in der ihrigen waren. Jeder strebe also auf seinem Platz, zu sein, was er in der Folge der Dinge sein kann; dies soll er auch sein, und ein anderes ist für ihn nicht möglich.

 Viertens. Die Gesundheit und Dauer eines Staats beruht nicht auf dem Punkt seiner höchsten Kultur, sondern auf einem weisere oder glücklichen Gleichgewicht seiner lebendig wirkenden Kräfte. Je tiefer bei diesem lebendigen Streben sein Schwerpunkt liegt, desto fester und daurender ist er.

 Worauf rechneten jene alten Einrichter der Staaten? Weder auf träge Ruhe noch auf ein Äußerstes der Bewegung; wohl aber auf Ordnung und eine richtige Verteilung der nie schlafenden, immer erweckten Kräfte. Das Principium dieser Weisen war eine der Natur abgelernte echte Menschenweisheit. Jedesmal, da ein Staat auf seine Spitze gestellt wurde, gesetzt, daß es auch vom glänzendsten Mann unter dem blendendsten Vorwande geschehen wäre, geriet er in Gefahr des Unterganges und kam zu seiner vorigen Gestalt nur durch eine glückliche Gewalt wieder. So stand Griechenland gegen die Perser auf einer fürchterlichen Spitze; so strebten Athen, Lacedämon und Theben zuletzt mit äußerster Anstrengung gegeneinander, welches dem ganzen Griechenlande den Verlust der Freiheit zuzog. Gleichergestalt stellte Alexander mit seinen glänzenden Siegen das ganze Gebäude seines Staats auf eine Kegelspitze; er starb, der Kegel fiel und zerschellte. Wie gefährlich Alcibiades und Perikles für Athen gewesen, beweist ihre Geschichte; ob es gleich ebenso wahr ist, daß Zeitpunkte dieser Art, zumal wenn sie bald und glücklich ausgehen, seltene Wirkungen zum Vorschein bringen und unglaubliche Kräfte regen. Alles Glänzende Griechenlandes ist durch die rege Wirksamkeit vieler Staaten und lebendiger Kräfte, alles Daurende und Gesunde seines Geschmacks und seiner Verfassung dagegen ist nur durch ein weises, glückliches Gleichgewicht seiner strebenden Kräfte bewirkt worden. Jedesmal war das Glück seiner Einrichtungen um so daurender und edler, je mehr es sich auf Humanität, d. i. auf Vernunft und Billigkeit, stützte. Hier nun böte sich uns ein weites Feld der Betrachtungen über die Verfassung Griechenlands dar, was es mit seinen Erfindungen und Anstalten sowohl für die Glückseligkeit seiner Bürger als für die gesamte Menschheit geleistet habe. Hiezu aber ist's noch zu früh. Wir müssen erst mehrere Zeitverbindungen und Völker durchschauen, ehe wir hierüber zu sichern Resultaten schreiten.

 


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