XI.4. Indostan
Die Frage, ob etwas gut oder übel sei, ist bei allen Einrichtungen der Menschen vielseitig. Ohne Zweifel war die Einrichtung der Brahmanen, als sie gestiftet war, gut; sonst hätte sie weder den Umfang noch die Tiefe und Dauer gewonnen, in der sie dasteht. Das menschliche Gemüt entledigt sich dessen, was ihm schädlich ist, sobald es kann, und obgleich der Indier mehr zu dulden vermag als irgendein anderer, so würde er doch geradezu nicht Gift lieben. Unleugbar ist's also, daß die Brahmanen ihrem Volk eine Sanftmut, Höflichkeit, Mäßigung und Keuschheit angebildet oder es wenigstens in diesen Tugenden so bestärkt haben, daß die Europäer ihnen dagegen oft als Unreine, Trunkne und Rasende erscheinen. Ungezwungen- zierlich sind ihre Gebärden und Sprache, friedlich ihr Umgang, rein ihr Körper, einfach und harmlos ihre Lebensweise. Die Kindheit wird milde erzogen, und doch fehlt es ihnen nicht an Kenntnissen, noch minder an stillem Fleiß und fein nachahmenden Künsten; selbst die niedrigem Stämme lernen lesen, schreiben und rechnen. Da nun die Brahmanen die Erzieher der Jugend sind, so haben sie damit seit Jahrtausenden ein unverkennbares Verdienst um die Menschheit. Man merke in den Hallischen Missionsberichten auf den gesunden Verstand und den gutmütigen Charakter der Brahmanen und Malabaren sowohl in Einwürfen, Fragen und Antworten als in ihrem ganzen Betragen, und man wird sich selten auf der Seite ihrer Bekehrer finden. Die Hauptidee der Brahmanen von Gott ist so groß und schön, ihre Moral so rein und erhaben, ja selbst ihre Märchen, sobald Verstand durchblickt, sind so fein und lieblich, daß ich ihren Erfindern auch im Ungeheuern und Abenteuerlichen nicht ganz den Unsinn zutrauen kann, den wahrscheinlich nur die Zeitfolge im Munde des Pöbels darauf gehäuft. Daß trotz aller mohammedanischen und christlichen Bedrückung der Orden der Brahmanen seine künstliche, schöne Sprache192) und mit ihr einige Trümmern von alter Astronomie und Zeitrechnung, von Rechtswissenschaft und Heilkunde erhalten hat, ist auf seiner Stelle nicht ohne Wert193), denn auch die handwerksmäßige Manier, mit der sie diese Kenntnisse treiben, ist gnug zum Kreise ihres Lebens, und was der Vermehrung ihrer Wissenschaft abgeht, ersetzt die Stärke ihrer Dauer und Einwirkung. Übrigens verfolgen die Hindus nicht, sie gönnen jedem seine Religion, Lebensart und Weisheit; warum sollte man ihnen die ihrige nicht gönnen und sie bei den Irrtümern ihrer ererbten Tradition wenigstens für gute Betrogene halten? Gegen alle Sekten des Fo, die Asiens östliche Welt einnehmen, ist diese die Blüte; gelehrter, menschlicher, nützlicher, edler als alle Bonzen, Lamen und Talapoinen.
Dabei ist nicht zu bergen, daß, wie alle menschliche Verfassungen, auch diese viel Drückendes habe. Des unendlichen Zwanges nicht zu gedenken, den die Verteilung der Lebensarten unter erbliche Stämme notwendig mit sich führt, weil sie alle freie Verbesserung und Vervollkommung der Künste beinah ganz ausschließt; so ist insonderheit die Verachtung auffallend, mit der sie den niedrigsten der Stämme, die Parias, behandeln. Nicht nur zu den schlechtesten Verrichtungen ist er verdammt und vom Umgange aller andern Stämme auf ewig gesondert, er ist sogar der Menschenrechte und Religion beraubt; denn niemand darf einen Parias berühren, und sein Anblick sogar entweiht den Brahmanen. Ob man gleich mancherlei Ursachen dieser Erniedrigung, unter andern auch diese angegeben, daß die Parias eine unterjochte Nation sein mögen, so ist doch keine derselben durch die Geschichte gnugsam bewährt; wenigstens unterscheiden sie sich von den andern Hindus nicht an Bildung. Also kommt es, wie bei so vielen Dingen alter Einrichtung, auch hier auf die erste harte Stiftung an, nach der vielleicht sehr Arme oder Missetäter und Verworfne zu einer Erniedrigung bestimmt wurden, der sich die unschuldigen zahlreichen Nachkommen derselben bis zur Verwunderung willig unterwerfen. Der Fehler hierbei liegt nirgend als in der Einrichtung nach Familien, bei der doch einige auch das niedrigste Los des Lebens tragen mußten, dessen Beschwerden ihnen die angemaßte Reinigkeit der andern Stämme von Zeit zu Zeit noch mehr erschwerte. Was war nun natürlicher, als daß man es zuletzt als Strafe des Himmels ansah, ein Parias geboren zu sein und nach der Lehre der Seelenwandrung durch Verbrechen eines vorigen Lebens diese Geburt vom Schicksal verdient zu haben? überhaupt hat die Lehre der Seelenwandrung, so groß ihre Hypothese im Kopf des ersten Erfinders gewesen und so manches Gute sie der Menschlichkeit gebracht haben möge, ihr notwendig auch viel Übel bringen müssen, wie überhaupt jeder Wahn, der über die Menschheit hinausreicht. Indem sie nämlich ein falsches Mitleiden gegen alles Lebendige weckte, verminderte sie zugleich das wahre Mitgefühl mit dem Elende unseres Geschlechts, dessen Unglückliche man als Missetäter unter der Last voriger Verbrechen oder als Geprüfte unter der Hand eines Schicksals glaubte, das ihre Tugend in einem künftigen Zustande belohnen werde. Auch an den weichen Hindus hat man daher einen Mangel an Mitgefühl bemerkt, der wahrscheinlich die Folge ihrer Organisation, noch mehr aber ihrer tiefen Ergebenheit ans ewige Schicksal ist: ein Glaube, der den Menschen wie in einen Abgrund wirft und seine tätigen Empfindungen abstumpft. Das Verbrennen der Weiber auf dem Scheiterhaufen der Ehemänner gehört mit unter die barbarischen Folgen dieser Lehre; denn welche Ursachen auch die erste Einführung desselben gehabt habe, da es entweder als Nacheiferung großer Seelen oder als Strafe in den Gang der Gewohnheit gekommen sein mag, so hat unstreitig doch die Lehre der Brahmanen von jener Welt den unnatürlichen Gebrauch veredelt und die armen Schlachtopfer mit Beweggründen des künftigen Zustandes zum Tode begeistert. Freilich machte dieser grausame Gebrauch das Leben des Mannes dem Weibe teurer, indem sie auch im Tode untrennbar von ihm wurde und ohne Schmach nicht zurückbleiben konnte; war indessen das Opfer des Gewinnes wert, sobald jenes auch nur durch die schweigende Gewohnheit ein zwingendes Gesetz wurde? Endlich übergehe ich bei der Brahmaneneinrichtung den mannigfaltigen Betrug und Aberglauben, der schon dadurch unvermeidlich wurde, daß Astronomie und Zeitrechnung, Heilkunst und Religion, durch mündliche Tradition fortgepflanzt, die geheime Wissenschaft eines Stammes wurden; die verderblichere Folge fürs ganze Land war diese, daß jede Brahmanenherrschaft früher oder später ein Volk zur Unterjochung reif macht. Der Stamm der Krieger mußte bald unkriegerisch werden, da seine Bestimmung der Religion zuwider und einem edleren Stamm untergeordnet war, der alles Blutvergießen haßte. Glücklich wäre ein so friedfertiges Volk, wenn es, von Überwindern geschieden, auf einer einsamen Insel lebte; aber am Fuß jener Berge, auf welchen menschliche Raubtiere, kriegerische Mongolen, wohnen, nahe jener busenreichen Küste, an welcher geizigverschmitzte Europäer landen: arme Hindus, in längerer oder kürzerer Zeit seid ihr mit eurer friedlichen Einrichtung verloren! So ging's der indischen Verfassung; sie unterlag in- und auswärtigen Kriegen, bis endlich die europäische Schifffahrt sie unter ein Joch gebracht hat, unter dem sie mit ihrer letzten Kraft duldet.
Harter Lauf des Schicksals der Völker! Und doch ist er nichts als Naturordnung. Im schönsten, fruchtbarsten Strich der Erde mußte der Mensch früh zu feinen Begriffen, zu weiten Einbildungen über die Natur, zu sanften Sitten und einer regelmäßigen Einrichtung gelangen; aber in diesem Erdstrich mußte er sich ebensobald einer mühsamen Tätigkeit entschlagen, mithin eine Beute jedes Räubers werden, der auch dies glückliche Land suchte. Von alten Zeiten her war Handel nach Ostindien ein reicher Handel; das fleißige, gnügsame Volk gab von den Schätzen seines Weltteils zu Meer und zu Lande andern Nationen mancherlei Kostbarkeiten im Überfluß her und blieb seiner Entfernung wegen in ziemlich friedlicher Ruhe, bis endlich Europäer, denen nichts entfernt ist, kamen und sich selbst Königreiche unter ihnen schenkten. Alle Nachrichten und Waren, die sie uns daher zuführen, sind kein Ersatz für die Übel, die sie einem Volk auflegen, das gegen sie nichts verübte. Indessen ist die Kette des Schicksals dahin einmal geknüpft; das Schicksal wird sie auflösen oder weiterführen.