XII.5. Ägypten
Überhaupt läßt sich aus Hieroglyphen so wenig auf eine tiefe Weisheit der Ägypter schließen, daß sie vielmehr gerade das Gegenteil davon beweisen. Hieroglyphen sind der erste rohe Kindesversuch des menschlichen Verstandes, der Zeichen sucht, um seine Gedanken zu erklären; die rohesten Wilden in Amerika hatten Hieroglyphen, soviel als sie bedurften; denn konnten nicht jene Mexikaner sogar die ihnen unerhörteste Sache, die Ankunft der Spanier, in Hieroglyphen melden? Daß aber die Ägypter so lange bei dieser unvollkommenen Schrift blieben und sie Jahrhunderte hin mit ungeheurer Mühe auf Felsen und Wände malten: welche Armut von Ideen, welch einen Stillstand des Verstandes zeigt dieses! Wie enge mußte der Kreis von Kenntnissen einer Nation und ihres weitläuftigen gelehrten Ordens sein, der sich Jahrtausende durch an diesen Vögeln und Strichen begnügte! Denn ihr zweiter Hermes, der die Buchstaben erfand, kam sehr spät; auch war er kein Ägypter. Die Buchstabenschrift der Mumien ist nichts als die fremde phönicische Schrittart, vermischt mit hieroglyphischen Zeichen, die man also auch aller Wahrscheinlichkeit nach von handelnden Phöniciern lernte. Die Sinesen selbst sind weiter gegangen als die Ägypter und haben aus ähnlichen Hieroglyphen sich wirkliche Gedankencharaktere erfunden, zu welchen, wie es scheint, diese nie gelangten. Dürfen wir uns also wundern, daß ein so schriftarmes und doch nicht ungeschicktes Volk sich in mechanischen Künsten hervortat? Der Weg zur wissenschaftlichen Literatur war ihnen durch die Hieroglyphen versperrt, und so mußte sich ihre Aufmerksamkeit desto mehr auf sinnliche Dinge richten. Das fruchtbare Niltal machte ihnen den Ackerbau leicht; jene periodischen Überschwemmungen, von denen ihre Wohlfahrt abhing, lehrten sie messen und rechnen. Das Jahr und die Jahrszeiten mußten doch endlich einer Nation geläufig werden, deren Leben und Wohlsein von einer einzigen Naturveränderung abhing, die, jährlich wiederholt, ihnen einen ewigen Landkalender machte.
Also auch die Natur- und Himmelsgeschichte, die man an diesem alten Volk rühmt: sie war ein ebenso natürliches Erzeugnis ihrer Erd- und Himmelsgegend. Eingeschlossen zwischen Bergen, Meeren und Wüsten, in einem engen fruchtbaren Tale, wo alles von einer Naturbegebenheit abhing und auf dieselbe zurückführte, wo Jahrszeiten und Ernte, Krankheiten und Winde, Insekten und Vögel sich nach einer und derselben Revolution, der Überschwemmung des Nils, fügten: hier sollte der ernste Ägypter und sein zahlreicher müßiger Priesterorden nicht endlich eine Art von Natur- und Himmelsgeschichte sammlen? Aus allen Weltteilen ist's bekannt, daß eingeschlossene sinnliche Völker die reichste, lebendigste Kenntnis ihres Landes haben, ob sie solche gleich nicht aus Büchern lernen. Was bei den Ägyptern die Hieroglyphen dazu tun konnten, war der Wissenschaft eher schädlich als nützlich. Die lebendige Bemerkung wurde mit ihnen nicht nur ein dunkles, sondern auch ein totes Bild, das den Fortgang des Menschenverstandes gewiß nicht förderte, sondern hemmte. Man hat viel darüber geredet, ob die Hieroglyphen Priestergeheimnisse enthalten haben, mich dünkt, jede Hieroglyphe enthalte ihrer Natur nach ein Geheimnis, und eine Reihe derselben, die eine geschlossene Zunft aufbewahrt, müsse für den großen Haufen notwendig ein Geheimnis werden, gesetzt auch, daß man ihm solche auf Weg und Stegen vorstellte. Er kann sich nicht einweihen lassen, selbige verstehen zu lernen; denn dies ist nicht sein Beruf, und selbst wird er ihre Bedeutung nicht finden. Daher der notwendige Mangel einer verbreiteten Aufklärung in jedem Lande, in jeder Zunft einer sogenannten Hieroglyphenweisheit, es mögen Priester oder Nichtpriester dieselbe lehren. Nicht jedem können und werden sie ihre Symbole entziffern, und was sich nicht durch sich selbst lernen läßt, bewahrt sich leider seiner Natur nach als Geheimnis. Jede Hieroglyphenweisheit neuerer Zeiten ist also ein eigensinniger Riegel gegen alle freiere Aufklärung, weil in den ältern Zeiten selbst Hieroglyphik immer nur die unvollkommenste Schrift war. Unbillig ist die Forderung, etwas durch sich verstehen zu lernen, was auf tausenderlei Art gedeutet werden kann, und tötend die Mühe, die man auf willkürliche Zeichen, als wären sie notwendige ewige Sachen, wendet. Daher ist Ägypten jederzeit ein Kind an Kenntnissen geblieben, weil es ein Kind in Andeutung derselben blieb, und für uns sind diese Kinderideen wahrscheinlich auf immer verloren.
Also auch an der Religion und Staatsweisheit der Ägypter können wir uns schwerlich etwas anders als die Stufe denken, die wir bei mehreren Völkern des hohen Altertums bisher bemerkt haben und bei den Nationen des östlichen Asiens zum Teil noch jetzt bemerken. Wäre es gar wahrscheinlich zu machen, daß mehrere Kenntnisse der Ägypter in ihrem Lande schwerlich erfunden sein möchten, daß sie vielmehr mit solchen, wie mit gegebnen Formeln und Prämissen, nur fortgerechnet und sie ihrem Lande bequemt haben, so fiele ihr Kindesalter in allen diesen Wissenschaften noch mehr in die Augen. Daher vielleicht die langen Register ihrer Könige und Weltzeiten; daher ihre vielgedeuteten Geschichten vom Osiris, der Isis, dem Horus, Typhon u. f.; daher ein großer Vorrat ihrer heiligen Sagen. Die Hauptideen ihrer Religion haben sie mit mehreren Ländern des höheren Asiens gemein; hier sind sie nur nach der Naturgeschichte des Landes und dem Charakter des Volks in Hieroglyphen verkleidet. Die Grundzüge ihrer politischen Einrichtung sind andern Völkern auf gleicher Stufe der Kultur nicht fremde; nur daß sie hier im schönen Niltal ein eingeschlossenes Volk sehr ausarbeitete und nach seiner Weise brauchte.208 Schwerlich würde Ägypten in den hohen Ruf seiner Weisheit gekommen sein, wenn nicht seine uns nähere Lage, die Trümmern seiner Altertümer, vorzüglich aber die Sagen der Griechen es dahin gebracht hätten.
Und eben diese Lage zeigt auch, welche Stelle es in der Reihe der Völker einnehme. Wenige Nationen sind von ihm entsprossen oder durch dasselbe kultiviert worden, so daß von jenen mir nur die Phönicier, von diesen die Juden und Griechen bekannt sind; ins innere Afrika weiß man nicht, wie weit sich ihr Einfluß verbreitet. Armes Ägypten, wie bist du jetzo verändert! Durch eine jahrtausendlange Verzweiflung elend und träge geworden, war es einst arbeitsam und duldend fleißig. Auf den Wink seiner Pharaonen spann es und webte, trug Steine und grub in den Bergen, trieb Künste und baute das Land. Geduldig ließ es sich einschließen und zur Arbeit verteilen, war fruchtbar und erzog seine Kinder kärglich, scheute die Fremden und genoß seines eingeschlossenen Landes. Seitdem es dies Land aufschloß oder Kambyses vielmehr sich selbst den Weg dahin bahnte, wurde es Jahrtausende hin Völkern nach Völkern zur Beute. Perser und Griechen, Römer, Byzantiner, Araber, Fatimiten, Kurden, Mamlucken und Türken plagten dasselbe nacheinander, und noch jetzt ist's ein trauriger Tummelplatz arabischer Streifereien und türkischer Grausamkeiten in seiner schönen Weltgegend.