XIII.4. Sitten- und Staatenweisheit der Griechen

Bald also taten sich in vielen frei gewordenen Stämmen und Kolonien weise Männer hervor, die Vormünder des Volks wurden. Sie sahen, unter welchen Übeln ihr Stamm litt, und sannen auf eine Einrichtung desselben, die auf Gesetze und Sitten des Ganzen erbaut wäre. Natürlich waren also die meisten dieser alten griechischen Weisen Männer in öffentlichen Geschäften, Vorsteher des Volks, Ratgeber der Könige, Heerführer; denn bloß von diesen Edeln konnte die politische Kultur ausgehn, die weiter hinab aufs Volk wirkte. Selbst Lykurg, Drako, Solon waren aus den ersten Geschlechtern ihrer Stadt, zum Teil selbst obrigkeitliche Personen; die Übel der Aristokratie samt der Unzufriedenheit des Volks waren zu ihrer Zeit aufs höchste gestiegen; daher die bessere Einrichtung, die sie angaben, so großen Eingang gewann. Unsterblich bleibt das Lob dieser Männer, daß sie, vom Zutrauen des Volks unterstützt, für sich und die Ihrigen den Besitz der Oberherrschaft verschmähten und allen ihren Fleiß, alle ihre Menschen- und Volkskenntnis auf ein Gemeinwesen, d. i. auf den Staat als Staat, wandten. Wären ihre ersten Versuche in dieser Art auch bei weitem nicht die höchsten und ewigen Muster menschlicher Einrichtungen; sie sollten dieses auch nicht sein; sie gehören nirgend hin, als wo sie eingeführt wurden; ja auch hier mußten sie sich den Sitten des Stammes und seinen eingewurzelten Übeln oft wider Willen bequemen. Lykurg hatte freiere Hand als Solon; er ging aber in zu alte Zeiten zurück und baute einen Staat, als ob die Welt ewig im Heldenalter der rohen Jugend verharren könnte. Er führte seine Gesetze ein, ohne ihre Wirkungen abzuwarten, und für seinen Geist wäre es wohl die empfindlichste Strafe gewesen, durch alle Zeitalter der griechischen Geschichte die Folgen zu sehen, die sie teils durch Mißbrauch, teils durch ihre zu lange Dauer seiner Stadt und bisweilen dem ganzen Griechenlande verursacht haben. Die Gesetze Solons wurden auf einem andern Wege schädlich. Den Geist derselben hatte er selbst überlebt; die übeln Folgen seiner Volksregierung sähe er voraus, und sie sind bis zum letzten Atem Athens den Weisesten und Besten seiner Stadt unverkennbar geblieben.224 Das ist aber einmal das Schicksal aller menschlichen Einrichtungen, insonderheit der schwersten, über Land und Leute. Zeit und Natur verändern alles, und das Leben der Menschen sollte sich nicht ändern? Mit jedem neuen Geschlecht kommt eine neue Denkart empor, so altväterisch auch die Einrichtung und die Erziehung bleibe. Neue Bedürfnisse und Gefahren, neue Vorteile des Sieges, des Reichtums, der wachsenden Ehre, selbst der mehreren Bevölkerung drängen sich hinzu; und wie kann nun der gestrige Tag der heutige, das alte Gesetz ein ewiges Gesetz bleiben? Es wird beibehalten, aber vielleicht nur zum Schein, und leider am meisten in Mißbräuchen, deren Aufopferung eigennützigen, trägen Menschen zu hart fiele. Dies war der Fall mit Lykurgs, Solons, Romulus', Moses' und allen Gesetzen, die ihre Zeit überlebten.
Äußerst rührend ist's daher, wenn man die eigne Stimme dieser Gesetzgeber in ihren spätem Jahren hört; sie ist meistens klagend. Denn wenn sie lange lebten, hatten sie sich selbst schon überlebt. So ist's die Stimme Moses' und auch Solons in den wenigen Fragmenten, die wir von ihm haben; ja, wenn ich die bloßen Sittensprüche ausnehme, haben fast alle Betrachtungen der griechischen Weisen einen traurigen Ton. Sie sahen das wandelbare Schicksal und Glück der Menschen durch Gesetze der Natur enge beschränkt, durch ihr eigenes Verhalten schnöde verwirrt, und klagten. Sie klagten über die Flüchtigkeit des menschlichen Lebens und seiner blühenden Jugend; dagegen schilderten sie das oftmals arme und kranke, immer aber schwache und nichts geachtete Alter. Sie klagten über der Frechen Glück und des Gutmütigen Leiden, verfehlten aber auch nicht, die echten Waffen dagegen, Klugheit und gesunde Vernunft, Mäßigung der Leidenschaften und stillen Fleiß, Eintracht und freundschaftliche Treue, Standhaftigkeit und eisernen Mut, Ehrfurcht gegen die Götter und Liebe zum Vaterlande, den Bürgern ihrer Welt sanft rührend einzuflößen. Selbst in den Resten des neuen griechischen Lustspiels tönt noch diese klagende Stimme der sanften Humanität wider.225
Trotz also aller bösen, zum Teil auch schrecklichen Folgen, die für Heloten, Pelasger, Kolonien, Ausländer und Feinde mancher Griechenstaat gehabt hat, so können wir doch das hohe Edle jenes Gemeinsinnes nicht verkennen, der in Lakedämon, Athen und Thebe, ja gewissermaßen in jedem Staate Griechenlands zu seinen Zeiten lebte. Es ist völlig wahr und gewiß, daß, nicht aus einzelnen Gesetzen eines einzelnen Mannes erwachsen, er auch nicht in jedem Gliede des Staats auf gleiche Weise, zu allen Zeiten gelebt habe; gelebt hat er indes unter den Griechen, wie es selbst noch ihre ungerechten, neidigen Kriege, die härtesten ihrer Bedrückungen und die treulosesten Verräter ihrer Bürgertugend zeigen. Die Grabschrift jener Spartaner, die bei Thermopylä fielen:
»Wanderer, sag's zu Sparta, daß, seinen Gesetzen gehorsam,
Wir erschlagen hier liegen -«
bleibt allemal der Grundsatz der höchsten politischen Tugend, bei dem wir auch zwei Jahrtausende später nur zu bedauren haben, daß er zwar einst auf der Erde der Grundsatz weniger Spartaner über einige harte Patriziergesetze eines engen Landes, noch nie aber das Principium für die reinen Gesetze der gesamten Menschheit hat werden mögen. Der Grundsatz selbst ist der höchste, den Menschen zu ihrer Glückseligkeit und Freiheit ersinnen und ausüben mögen. Ein Ähnliches ist's mit der Verfassung Athens, obgleich dieselbe auf einen ganz andern Zweck führte. Denn wenn die Aufklärung des Volks in Sachen, die zunächst für dasselbe gehören, der Gegenstand einer politischen Einrichtung sein darf, so ist Athen ohnstreitig die aufgeklärteste Stadt in unserer bekannten Welt gewesen. Weder Paris noch London, weder Rom noch Babylon, noch weniger Memphis, Jerusalem, Peking und Benares werden ihr darüber den Rang anstreiten. Da nun Patriotismus und Aufklärung die beiden Pole sind, um welche sich alle Sittenkultur der Menschheit bewegt, so werden auch Athen und Sparta immer die beiden großen Gedächtnisplätze bleiben, auf welchen sich die Staatskunst der Menschen über diese Zwecke zuerst jugendlich froh geübt hat. Die andern Staaten der Griechen folgten meistens nur diesen zwei großen Mustern, so daß einigen, die nicht folgen wollten, die Staatsverfassungen Athens und Lacedämons von ihren Überwindern sogar aufgedrungen wurden. Auch sieht die Philosophie der Geschichte nicht sowohl darauf, was auf diesen beiden Erdpunkten in dem kleinen Zeitraum, da sie wirkten, von schwachen Menschen wirklich getan sei, als vielmehr, was aus den Prinzipien ihrer Einrichtung für die gesamte Menschheit folge. Trotz aller Fehler werden die Namen Lykurgs und Solons, Miltiades und Themistokles, Aristides, Cimon, Phocion, Epaminondas, Pelopidas, Agesilaus, Agis, Kleomenes, Dion, Timoleon u. f. mit ewigem Ruhme gepriesen, dagegen die ebenso große Männer Alcibiades, Konon, Pausanias, Lysander als Zerstörer des griechischen Gemeingeistes oder als Verräter ihres Vaterlandes mit Tadel genannt werden. Selbst die bescheidene Tugend Sokrates' konnte ohn' ein Athen schwerlich zu der Blüte erwachsen, die sie durch einige seiner Schüler wirklich erreicht hat; denn Sokrates war nur ein atheniensischer Bürger, alle seine Weisheit nur atheniensische Bürgerweisheit, die er in häuslichen Gesprächen fortpflanzte. In Absicht der bürgerlichen Aufklärung sind wir dem einzigen Athen also das meiste und Schönste aller Zeiten schuldig.
Und so dürfen wir auch, da von praktischen Tugenden wenig geredet werden kann, noch einige Worte jenen Anstalten gönnen, die nur eine atheniensische Volksregierung möglich machte, den Rednern und dem Theater. Redner vor Gericht, zumal in Sachen des Staats und des augenblicklichen Entschlusses, sind gefährliche Triebfedern; auch sind die bösen Folgen derselben offenbar gnug in der atheniensischen Geschichte. Da sie indessen ein Volk voraussetzen, das in jeder öffentlichen Sache, die vorgetragen wurde, Kenntnisse hatte oder wenigstens empfangen konnte, so bleibt das atheniensische Volk, aller Parteien ohngeachtet, hierin das einzige unserer Geschichte, an welches auch das römische Volk schwerlich reicht. Der Gegenstand selbst, Feldherrn zu wählen oder zu verdammen, über Krieg und Frieden, über Leben und Tod und jedes öffentliche Geschäft des Staats zu sprechen, war gewiß nicht die Sache eines unruhigen Haufens; durch den Vortrag dieser Geschäfte aber und durch alle Kunst, die man darauf wandte, wurde selbst dem wilden Haufen das Ohr geöffnet und ihm jener aufgeklärte, politische Schwätzergeist gegeben, von dem keines der Völker Asiens wußte. Die Beredsamkeit vor den Ohren des Volks hob sich damit zu einer Höhe, die sie außer Griechenland und Rom niemals gehabt hat, die sie auch schwerlich je haben wird und haben kann, bis etwa die Volksrednerei wahre allgemeine Aufklärung werde. Unstreitig ist der Zweck dieser Sache groß, wenngleich in Athen die Mittel dazu dem Zweck unterlagen. Mit dem atheniensischen Theater war es ein gleiches. Es enthielt Spiele fürs Volk, und zwar ihm angemessene, erhabene, geistreiche Spiele; mit Athen ist seine Geschichte vorbei; denn der enge Kreis bestimmter Fabeln, Leidenschaften und Absichten, aufs Volk zu wirken, findet sich kaum mehr in dem vermischten Haufen einer andern Stammesart und Regimentsverfassung wieder.
Niemals also messe man die griechische Sittenbildung, weder in ihrer öffentlichen Geschichte noch in ihren Rednern und theatralischen Dichtern, nach dem Maßstabe einer abstrakten Moral, weil keinem dieser gegebnen Fälle ein solcher Maßstab zum Grunde lieget. 226 Die Geschichte zeigt, wie die Griechen in jedem Zeitpunkt alles waren, was sie, gut und böse, nach ihrer Lage sein konnten. Der Redner zeigt, wie er in seinem Handel die Parteien sah und seinem Zweck gemäß schildern mußte. Der theatralische Dichter endlich brachte Gestalten in sein Spiel, wie sie ihm die Vorzeit gab oder wie er solche seinem Beruf gemäß diesen und keinen andern Zuschauern darstellen wollte. Schlüsse hieraus auf die Sittlichkeit oder Unsittlichkeit des gesamten Volks zu machen wäre grundlos; daran wird aber niemand zweifeln, daß die Griechen in gewissen Zeitpunkten und Städten, nach dem Kreise von Gegenständen, der ihnen damals vorlag, das geschickteste, leichteste und aufgeklärteste Volk ihrer Welt gewesen. Die Bürger Athens gaben Feldherren, Redner, Sophisten, Richter, Staatsleute und Künstler, nachdem es die Erziehung, Neigung, Wahl oder das Schicksal und der Zufall wollte, und oft waren in einem Griechen mehrere der schönsten Vorzüge eines Guten und Edlen vereinigt.