XIII.1. Griechenlands Lage und Bevölkerung

 

 Wir dürfen daher auch nicht lange fragen, woher dem Lande der Griechen seine ersten Bewohner kamen. Pelasger heißen sie, Ankömmlinge, die sich auch in dieser Entfernung noch als Brüder der Völker jenseit des Meers, d. i. Kleinasiens, erkannten. Es wäre eine grundlose Mühe, alle die Züge herzuzählen, wie über Thrazien oder über den Hellespont und Sund west- und südwärts die Völker dahingesteurt und sich, beschützt von den nordischen Gebirgen, allmählich über Griechenland verbreitet haben. Ein Stamm folgte dem andern, ein Stamm verdrängte den andern; Hellenen brachten den alten Pelasgern neue Kultur, so wie sich mit der Zeit griechische Kolonien wieder an die asiatischen Ufer verpflanzten. Günstig gnug für die Griechen, daß sie eine so schöne Halbinsel des großen festen Landes sich nahe zur Seite hatten, auf welcher die meisten Völker nicht nur eines Stammes, sondern auch von früher Kultur waren.212) Dadurch bekam nicht nur ihre Sprache jene Originalität und Einheit, die sie als ein Gemisch vieler Zungen nie würde erhalten haben; auch die Nation selbst nahm an dem sittlichen Zustande ihrer benachbarten Stammvölker teil und kam bald mit denselben in mannigfaltige Verhältnisse des Krieges und des Friedens. Kleinasien also ist die Mutter Griechenlandes, sowohl in seiner Anpflanzung als den Hauptzügen seiner frühesten Bildung; dagegen es auf die Küsten seines Mutterlandes wiederum Kolonien sandte und in ihnen eine zweite, schönere Kultur erlebte.

 Leider aber, daß uns auch von der asiatischen Halbinsel aus der frühesten Zeit so wenig bekannt ist! Das Reich der Trojer kennen wir nur aus Homer, und so hoch er als Dichter seine Landesleute über jene erhebt, so ist doch selbst bei ihm der blühende Zustand des trojanischen Reichs auch in Künsten und sogar in der Pracht unverkennbar. Desgleichen sind die Phrygier ein altes frühegebildetes Volk, dessen Religion und Sagen auf die älteste Mythologie der Griechen unstreitig gewirkt haben. So späterhin die Karier, die sich selbst Brüder der Mysier und Lydier nannten und mit den Pelasgern und Lelegern eines Stammes waren: sie legten sich frühe auf die Schiffahrt, welche damals Seeräuberei war, da die gesittetem Lydier sogar die Erfindung des geprägten Geldes als eines Mittels der Handlung mit den Phöniziern teilen.

Keinem von diesen Völkern also, sowenig als den Mysiern und Thraciern, hat es an früher Kultur gefehlt, und bei einer guten Verpflanzung konnten sie Griechen werden.

 Der erste Sitz der griechischen Musen war gegen Thrazien zu, nordöstlich. Aus Thrazien kam Orpheus, der den verwilderten Pelasgern zuerst ein menschliches Leben gab und Jene Religionsgebräuche einführte, die so weit umher und so lange galten. Die ersten Berge der Musen waren Thessaliens Berge, der Olympus, Helikon, Parnassus, Pindus: hier (sagt der feinste Forscher der griechischen Geschichte213)), hier war der älteste Sitz ihrer Religion, Weltweisheit, Musik und Dichtkunst. Hier lebten die ersten griechischen Barden; hier bildeten sich die ersten gesitteten Gesellschaften; die Lyra und Kithara wurde hier erfunden, und allem, was nachher der Geist der Griechen ausschuf, die erste Gestalt angebildet. In Thessalien und Böotien, die in spätem Zeiten durch Geistesarbeiten sich so wenig hervorgetan haben, ist kein Quell, kein Fluß, kein Hügel, kein Hain, der nicht durch Dichtungen bekannt und in ihnen verewigt wäre. Hier floß der Peneus, hier war das angenehme Tempe, hier wandelte Apoll als Schäfer, und die Riesen türmten ihre Berge. Am Fuß des Helikons lernte noch Hesiodus seine Sagen aus dem Munde der Musen; kurz, hier hat sich zuerst die griechische Kultur einheimisch gebildet, so wie auch von hier aus durch die Stämme der Hellenen die reinere griechische Sprache in ihren Hauptdialekten ausging.

 Notwendig aber entstand mit der Folge der Zeiten auf so verschiednen Küsten und Inseln, bei so manchen Wanderungen und Abenteuern eine Reihe anderer Sagen, die sich ebenfalls durch Dichter im Gebiet der griechischen Muse festsetzten. Beinah jedes kleine Gebiet, jeder berühmte Stamm trug seine Vorfahren oder Nationalgottheiten in dasselbe, und diese Verschiedenheit, die ein undurchschaulicher Wald wäre, wenn wir die griechische Mythologie als eine Dogmatik behandeln müßten, eben sie brachte aus dem Leben und Weben der Stämme auch Leben ins Gebiet der Nationaldenkart. Nur aus so vielartigen Wurzeln und Keimen konnte jener schöne Garten aufblühn, der selbst in der Gesetzgebung mit der Zeit die mannigfaltigsten Früchte brachte. Im vielgeteilten Lande schützte diesen Stamm sein Tal, jenen seine Küste und Insel, und so erwuchs aus der langen jugendlichen Regsamkeit zerstreuter Stämme und Königreiche die große freie Denkart der griechischen Muse. Von keinem Allgemeinherrscher war ihnen Kultur aufgezwungen worden; durch den Klang der Leier bei heiligen Gebräuchen, Spielen und Tänzen, durch selbsterfundene Wissenschaften und Künste, am meisten endlich durch den vielfachen Umgang untereinander und mit andern Völkern nahmen sie freiwillig, jetzt dieser, jetzt jener Strich, Sittlichkeit und Gesetze an: auch im Gange zur Kultur also ein griechisches Freivolk. Daß hiezu, wie in Theben, auch phönizische und, wie in Attika, ägyptische Kolonien beigetragen haben, ist außer Zweifel, obgleich durch diese Völker glücklicherweise weder der Hauptstamm der griechischen Nation noch ihre Denkart und Sprache gebildet wurde. Ein ägyptisch-kananitisches Volk sollten die Griechen, dank ihrer Abstammung, Lebensart und einländischen Muse, nicht werden.

 


 © textlog.de 2004 • 24.12.2024 03:23:28 •
Seite zuletzt aktualisiert: 26.10.2004 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright