XV.5. Es waltet eine weise Güte im Schicksal der Menschen; daher es keine schönere Würde, kein dauerhafteres und reineres Glück gibt, als im Rat derselben zu wirken

 

 9. Im Ganzen des Geschlechts hatte sie kein anderes Schicksal, als was sie bei den einzelnen Gliedern desselben hatte: denn das Ganze besteht nur in einzelnen Gliedern. Sie wurde von wilden Leidenschaften der Menschen, die in Verbindung mit andern noch stürmiger wurden, oft gestört, jahrhundertelang von ihrem Wege abgelenkt und blieb wie unter der Asche schlummernd. Gegen alle diese Unordnungen wandte die Vorsehung kein anderes Mittel an, als welches sie jedem einzelnen gewährt, nämlich daß auf den Fehler das übel folge und jede Trägheit, Torheit, Bosheit, Unvernunft und Unbilligkeit sich selbst strafe. Nur weil in diesen Zuständen das Geschlecht haufenweise erscheint, so müssen auch Kinder die Schuld der Eltern, Völker die Unvernunft ihrer Führer, Nachkommen die Trägheit ihrer Vorfahren büßen, und wenn sie das übel nicht verbessern wollen oder können, können sie Zeitalter hin darunter leiden.

 10. Jedem einzelnen Gliede wird also die Wohlfahrt des Ganzen sein eigenes Beste; denn wer unter den Übeln desselben leidet, hat auch das Recht und die Pflicht auf sich, diese übel von sich abzuhalten und sie für seine Brüder zu mindern. Auf Regenten und Staaten hat die Natur nicht gerechnet, sondern auf das Wohlsein der Menschen in ihren Reichen. Jene büßen ihre Frevel und Unvernunft langsamer, als sie der einzelne büßet, weil sie sich immer nur mit dem Ganzen berechnen, in welchem das Elend jedes Armen lange unterdrückt wird; zuletzt aber büßet es der Staat und sie mit desto gefährlicherm Sturze. In alle diesem zeigen sich die Gesetze der Wiedervergeltung nicht anders als die Gesetze der Bewegung bei dem Stoß des kleinsten physischen Körpers, und der höchste Regent Europas bleibt den Naturgesetzen des Menschengeschlechts sowohl unterworfen als der Geringste seines Volkes. Sein Stand verband ihn bloß, ein Haushalter dieser Naturgesetze zu sein und bei seiner Macht, die er nur durch andere Menschen hat, auch für andere Menschen ein weiser und gütiger Menschengott zu werden.

 11. In der allgemeinen Geschichte also wie im Leben verwahrloster einzelner Menschen erschöpfen sich alle Torheiten und Laster unseres Geschlechts, bis sie endlich durch Not gezwungen werden, Vernunft und Billigkeit zu lernen. Was irgend geschehen kann, geschieht und bringt hervor, was es seiner Natur nach hervorbringen konnte. Dies Naturgesetz hindert keine, auch nicht die ausschweifendste Macht an ihrer Wirkung; es hat aber alle Dinge in die Regel beschränkt, daß eine gegenseitige Wirkung die andere aufhebe und zuletzt nur das Ersprießliche daurend bleibe. Das Böse, das andere verderbt, muß sich entweder unter die Ordnung schmiegen oder selbst verderben. Der Vernünftige und Tugendhafte also ist im Reich Gottes allenthalben glücklich; denn sowenig die Vernunft äußern Lohn begehrt, sowenig verlangt ihn auch die innere Tugend. Mißlingt ihr Werk von außen, so hat nicht sie, sondern ihr Zeitalter davon den Schaden; und doch kann es die Unvernunft und Zwietracht der Menschen nicht immer verhindern: es wird gelingen, wenn seine Zeit kommt.

 12. Indessen geht die menschliche Vernunft im Ganzen des Geschlechts ihren Gang fort: sie sinnet aus, wenn sie auch noch nicht anwenden kann; sie erfindet, wenn böse Hände auch lange Zeit ihre Erfindung mißbrauchen. Der Mißbrauch wird sich selbst strafen und die Unordnung eben durch den unermüdeten Eifer einer immer wachsenden Vernunft mit der Zeit Ordnung werden. Indem sie Leidenschaften bekämpft, stärkt und läutert sie sich selbst; indem sie hier gedruckt wird, flieht sie dorthin und erweitert den Kreis ihrer Herrschaft über die Erde. Es ist keine Schwärmerei, zu hoffen, daß, wo irgend Menschen wohnen, einst auch vernünftige, billige und glückliche Menschen wohnen werden: glücklich, nicht nur durch ihre eigene, sondern durch die gemeinschaftliche Vernunft ihres ganzen Brudergeschlechtes.

 Ich beuge mich vor diesem hohen Entwurf der allgemeinen Naturweisheit über das Ganze meines Geschlechts um so williger, da ich sehe, daß er der Plan der gesamten Natur ist. Die Regel, die Weltsysteme erhält und jeden Kristall, jedes Würmchen, jede Schneeflocke bildet, bildete und erhält auch mein Geschlecht; sie machte seine eigne Natur zum Grunde der Dauer und Fortwirkung desselben, solange Menschen sein werden. Alle Werke Gottes haben ihren Bestand in sich und ihren schönen Zusammenhang mit sich; denn sie beruhen alle in ihren gewissen Schranken auf dem Gleichgewicht widerstrebender Kräfte durch eine innere Macht, die diese zur Ordnung lenkte. Mit diesem Leitfaden durchwandere ich das Labyrinth der Geschichte und sehe allenthalben harmonische göttliche Ordnung: denn was irgend geschehen kann, geschieht; was wirken kann, wirkt. Vernunft aber und Billigkeit allein dauren, da Unsinn und Torheit sich und die Erde verwüsten.

 Wenn ich also, nach jener Fabel, einen Brutus, den Dolch in der Hand, unter dem Sternenhimmel bei Philippi sagen höre: »O Tugend, ich glaubte, daß du etwas seist; jetzt sehe ich, daß du ein Traum bist!«, so verkenne ich den ruhigen Weisen in dieser letzten Klage. Besaß er wahre Tugend, so hatte sich diese, wie seine Vernunft, immer bei ihm belohnet und mußte ihn auch diesen Augenblick lohnen. War seine Tugend aber bloß Römerpatriotismus, was Wunder, daß der Schwächere dem Starken, der Träge dem Rüstigem weichen mußte? Auch der Sieg des Antonius samt allen seinen Folgen gehörte zur Ordnung der Welt und zu Roms Naturschicksal.

 Gleichergestalt, wenn unter uns der Tugendhafte so oft klagt, daß sein Werk mißlinge, daß rohe Gewalt und Unterdrückung auf Erden herrsche und das Menschengeschlecht nur der Unvernunft und den Leidenschaften zur Beute gegeben zu sein scheine, so trete der Genius seiner Vernunft zu ihm und frage ihn freundlich, ob seine Tugend auch rechter Art und mit dem Verstande, mit der Tätigkeit verbunden sei, die allein den Namen der Tugend verdienet. Freilich gelingt nicht jedes Werk allenthalben; darum aber mache, daß es gelinge, und befördre seine Zeit, seinen Ort und jene innre Dauer desselben, in welcher das wahrhaft Gute allein dauert. Rohe Kräfte können nur durch die Vernunft geregelt werden; es gehört aber eine wirkliche Gegenmacht, d. i. Klugheit, Ernst und die ganze Kraft der Güte, dazu, sie in Ordnung zu setzen und mit heilsamer Gewalt darin zu erhalten.

 Ein schöner Traum ist's vom zukünftigen Leben, da man sich im freundschaftlichen Genuß aller der Weisen und Guten denkt, die je für die Menschheit wirkten und mit dem süßen Lohn vollendeter Mühe das höhere Land betraten; gewissermaßen aber eröffnet uns schon die Geschichte diese ergötzende Lauben des Gesprächs und Umgangs mit den Verständigen und Rechtschaffenen so vieler Zeiten. Hier steht Plato vor mir; dort höre ich Sokrates' freundliche Fragen und teile sein letztes Schicksal. Wenn Mark-Antonin im Verborgnen mit seinem Herzen spricht, redet er auch mit dem meinigen, und der arme Epiktet gibt Befehle, mächtiger als ein König. Der gequälte Tullius, der unglückliche Boethius sprechen zu mir, mir vertrauend die Umstände ihres Lebens, den Gram und den Trost ihrer Seele. Wie weit und wie enge ist das menschliche Herz! Wie einerlei und wiederkommend sind alle seine Leiden und Wünsche, seine Schwachheiten und Fehler, sein Genuß und seine Hoffnung! Tausendfach ist das Problem der Humanität rings um mich aufgelöst, und allenthalben ist das Resultat der Menschenbemühungen dasselbe: auf Verstand und Rechtschaffenheit ruhe das Wesen unseres Geschlechts, sein Zweck und sein Schicksal.

Keinen edlem Gebrauch der Menschengeschichte gibt's als diesen; er führt uns gleichsam in den Rat des Schicksals und lehrt uns in unserer nichtigen Gestalt nach ewigen Naturgesetzen Gottes handeln. Indem er uns die Fehler und Folgen jeder Unvernunft zeigt, so weist er uns in jenem großen Zusammenhange, in welchem Vernunft und Güte zwar lange mit wilden Kräften kämpfen, immer aber doch ihrer Natur nach Ordnung schaffen und auf der Bahn des Sieges bleiben, endlich auch unsern kleinen und ruhigen Kreis an.

 Mühsam haben wir bisher das dunklere Feld alter Nationen durchwandert; freudig gehen wir jetzt dem näheren Tage entgegen und sehen, was aus dieser Saat des Altertums für eine Ernte nachfolgender Zeiten keime. Rom hatte das Gleichgewicht der Völker gehoben, unter ihm verblutete eine Welt; was wird aus diesem gestörten Gleichgewicht für ein neuer Zustand und aus der Asche so vieler Nationen für ein neues Geschöpf hervorgehn?

 


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