XV.4. Nach Gesetzen ihrer innern Natur muß mit der Zeitenfolge auch die Vernunft und Billigkeit unter den Menschen mehr Platz gewinnen und eine dauerndere Humanität befördern

 

 Drittens. Alle bisherige Tätigkeit des menschlichen Geistes ist kraft ihrer innern Natur auf nichts anders als auf Mittel hinausgegangen, die Humanität und Kultur unseres Geschlechts tiefer zu gründen und weiter zu verbreiten.

 Welch ein ungeheurer Fortgang ist's von der ersten Flöße, die das Wasser bedeckte, zu einem europäischen Schiff! Weder der Erfinder jener noch die zahlreichen Erfinder der mancherlei Künste und Wissenschaften, die zur Schiffahrt gehören, dachten daran, was aus der Zusammensetzung ihrer Entdeckungen werden würde; jeder folgte seinem Triebe der Not oder der Neugierde, und nur in der Natur des menschlichen Verstandes, des Zusammenhanges aller Dinge lag's, daß kein Versuch, keine Entdeckung vergebens sein konnte. Wie das Wunder einer andern Welt staunten jene Insulaner, die nie ein europäisches Schiff gesehen hatten, dies Ungeheuer an und verwunderten sich noch mehr, da sie bemerkten, daß Menschen wie sie es nach Gefallen über die wilde Meerestiefe lenkten. Hätte ihr Anstaunen zu einer vernünftigen Überlegung jedes großen Zwecks und jedes kleinen Mittels in dieser schwimmenden Kunstwelt werden können: wie höher wäre ihre Bewunderung des menschlichen Verstandes gestiegen. Wohin reichen anjetzt nicht bloß durch dies eine Werkzeug die Hände der Europäer? Wohin werden sie künftig nicht reichen?

 Und wie diese Kunst, so hat das Menschengeschlecht in wenigen Jahren ungeheuer viel Künste erfunden, die über Luft, Wasser, Himmel und Erde seine Macht ausbreiten. Ja, wenn wir bedenken, daß nur wenige Nationen in diesem Konflikt der Geistestätigkeit waren, indes der größeste Teil der andern über alten Gewohnheiten schlummerte; wenn wir erwägen, daß fast alle Erfindungen unseres Geschlechts in sehr junge Zeiten fallen und beinah keine Spur, keine Trümmer eines alten Gebäudes oder einer alten Einrichtung vorhanden ist, die nicht an unsere junge Geschichte geknüpft sei: welche Aussicht gibt uns diese historisch erwiesene Regsamkeit des menschlichen Geistes in das Unendliche künftiger Zeiten! In den wenigen Jahrhunderten, in welchen Griechenland blühte, in den wenigen Jahrhunderten unserer neuen Kultur, wie vieles ist in dem kleinsten Teil der Welt, in Europa, und auch beinah in dessen kleinsten Teile ausgedacht, erfunden, getan, geordnet und für künftige Zeiten aufbewahrt worden! Wie eine fruchtbare Saat sproßten die Wissenschaften und Künste haufenweise hervor, und eine nährte, eine begeisterte und erweckte die andere. Wie, wenn eine Saite berührt wird, nicht nur alles, was Ton hat, ihr zutönet, sondern auch bis ins Unvernehmbare hin alle ihre harmonischen Töne dem angeklungenen Laut nachtönen, so erfand, so schuf der menschliche Geist, wenn eine harmonische Stelle seines Innern berührt wurde. Sobald er auf eine neue Zusammenstimmung traf, konnten in einer Schöpfung, wo alles zusammenhängt, nicht anders als zahlreiche neue Verbindungen ihr folgen.

 Aber, wird man sagen, wie sind alle diese Künste und Erfindungen angewandt worden? Hat sich dadurch die praktische Vernunft und Billigkeit, mithin die wahre Kultur und Glückseligkeit des Menschengeschlechts, erhöht? Ich berufe mich auf das, was ich kurz vorher über den Gang der Unordnungen im ganzen Reich der Schöpfung gesagt habe, daß es nach einem innern Naturgesetz ohne Ordnung keine Dauer erhalten könne, nach welcher doch alle Dinge wesentlich streben. Das scharfe Messer in der Hand des Kindes verletzt dasselbe; deshalb ist aber die Kunst, die dies Messer erfand und schärfte, eine der unentbehrlichsten Künste. Nicht alle, die ein solches Werkzeug brauchen, sind Kinder, und auch das Kind wird durch seinen Schmerz den bessern Gebrauch lernen.

Künstliche Übermacht in der Hand des Despoten, fremder Luxus unter einem Volk ohne ordnende Gesetze sind dergleichen tötende Werkzeuge; der Schade selbst aber macht die Menschen klüger, und früh oder spät muß die Kunst, die sowohl den Luxus als den Despotismus schuf, beide selbst zuerst in ihre Schranken zwingen und sodann in ein wirkliches Gute verwandeln. Jede ungeschickte Pflugschar reibet sich durch den langen Gebrauch selbst ab; unbehülfliche, neue Räder und Triebwerke gewinnen bloß durch den Umlauf die bequemere, künstliche Epizykloide. So arbeitet sich auch in den Kräften des Menschen der übertreibende Mißbrauch mit der Zeit zum guten Gebrauch um; durch Extreme und Schwankungen zu beiden Seiten wird notwendig zuletzt die schöne Mitte eines dauernden Wohlstandes in einer regelmäßigen Bewegung. Nur, was im Menschenreiche geschehen soll, muß durch Menschen bewirkt werden; wir leiden so lange unter unserer eignen Schuld, bis wir, ohne Wunder der Gottheit, den bessern Gebrauch unserer Kräfte selbst lernen.

 Also haben wir auch nicht zu zweifeln, daß jede gute Tätigkeit des menschlichen Verstandes notwendig einmal die Humanität befördern müsse und befördern werde. Seitdem der Ackerbau in Gang kam, hörte das Menschen- und Eichelnfressen auf; der Mensch fand, daß er von den süßen Gaben der Ceres humaner, besser, anständiger leben könne als vom Fleisch seiner Brüder oder von Eicheln, und wurde durch die Gesetze weiserer Menschen gezwungen, also zu leben. Seitdem man Häuser und Städte bauen lernte, wohnte man nicht mehr in Höhlen; unter Gesetzen eines Gemeinwesens schlug man den armen Fremdling nicht mehr tot. So brachte der Handel die Völker näher aneinander; und je mehr er in seinem Vorteil allgemein verstanden wird, desto mehr müssen sich notwendig jene Mordtaten, Unterdrückungen und Betrugsarten vermindern, die immer nur Zeichen des Unverstandes im Handel waren. Durch jeden Zuwachs nützlicher Künste ist das Eigentum der Menschen gesichert, ihre Mühe erleichtert, ihre Wirksamkeit verbreitet, mithin notwendig der Grund zu einer weitem Kultur und Humanität gelegt worden. Welche Mühe z.B. wurde durch die einzige Erfindung der Buchdruckerkunst abgetan, welch ein größerer Umlauf der menschlichen Gedanken, Künste und Wissenschaften durch sie befördert! Wage es jetzt ein europäischer Kang-Ti und wolle die Literatur dieses Weltteils ausrotten: es ist ihm schlechterdings nicht möglich. Hätten Phönicier und Karthaginenser, Griechen und Römer diese Kunst gehabt, der Untergang ihrer Literatur wäre ihren Verwüstern nicht so leicht, ja beinahe unmöglich worden. Lasst wilde Völker auf Europa stürmen: sie werden unserer Kriegskunst nicht bestehen, und kein Attila wird mehr vom Schwarzen und Kaspischen Meer her bis an die Katalaunischen Felder reichen. Lasst Pfaffen, Weichlinge, Schwärmer und Tyrannen aufstehn, soviel da wollen: die Nacht der mittleren Jahrhunderte bringen sie nie mehr wieder. Wie nun kein größerer Nutze einer menschlichen und göttlichen Kunst denkbar ist, als wenn sie uns Licht und Ordnung nicht nur gibt, sondern es ihrer Natur nach auch verbreitet und sichert, so lasst uns dem Schöpfer danken, daß er unserm Geschlecht den Verstand und diesem die Kunst wesentlich gemacht hat. In ihnen besitzen wir das Geheimnis und Mittel einer sichernden Weltordnung.

 Auch darüber dürfen wir nicht sorgen, daß manche trefflich ersonnene Theorie, die Moral selbst nicht ausgenommen, in unserm Geschlecht so lange Zeit nur Theorie bleibe. Das Kind lernt viel, was nur der Mann anwenden kann; deswegen aber hat es solches nicht umsonst gelernt. Unbedachtsam vergaß der Jüngling, woran er sich einst mühsam erinnern wird, oder er muß es gar zum zweitenmal lernen. Bei dem immer erneuerten Menschengeschlecht ist also keine aufbewahrte, ja sogar keine erfundene Wahrheit ganz vergeblich; spätere Zeitumstände machen nötig, was man jetzt versäumt, und in der Unendlichkeit der Dinge muß jeder Fall zum Vorschein kommen, der auf irgendeine Weise das Menschengeschlecht übt. Wie wir uns nun bei der Schöpfung die Macht, die das Chaos schuf, zuerst und sodann in ihm ordnende Weisheit und harmonische Gute gedenken, so entwickelt die Naturordnung des Menschengeschlechts zuerst rohe Kräfte; die Unordnung selbst muß sie der Bahn des Verstandes zuführen, und je mehr dieser sein Werk ausarbeitet, desto mehr sieht er, daß Güte allein dem Werk Dauer, Vollkommenheit und Schönheit gewähre.

 


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