c. Die Kollision
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γγ) Eine letzte Seite der Kollisionen nun endlich, welche ihren Grund aus der Natürlichkeit entnehmen, ist die subjektive Leidenschaft, wenn sie auf Naturgrundlagen des Temperaments und Charakters beruht. Hierher gehört vor allem als Beispiel die Eifersucht Othellos. Herrschsucht, Geiz, ja zum Teil auch die Liebe sind ähnlicher Art.
Diese Leidenschaften nun aber bringen wesentlich nur in Kollision, insofern sie der Anlaß werden, daß sich die Individuen, welche von der ausschließlichen Gewalt solch einer Empfindung ergriffen und beherrscht sind, gegen das wahrhaft Sittliche und an und für sich im Menschenleben Berechtigte kehren und dadurch in einen tieferen Konflikt hineingeraten.
Dies führt uns zur Betrachtung einer dritten Hauptart des Zwiespalts hinüber, welche ihren eigentlichen Grund in geistigen Mächten und deren Differenz findet, insofern dieser Gegensatz durch die Tat des Menschen selbst hervorgerufen ist.
γ) Schon in bezug auf die rein natürlichen Kollisionen ist oben bemerkt worden, daß sie nur den Anknüpfungspunkt für weitere Gegensätze bilden. Dasselbe ist nun auch mehr oder weniger bei den Konflikten der soeben betrachteten zweiten Art der Fall. Sie alle bleiben in Werken von tieferem Interesse nicht bei dem bisher angedeuteten Widerstreite stehen, sondern schicken dergleichen Störungen und Gegensätze nur als die Gelegenheit voraus, aus welcher sich die an und für sich geistigen Lebensmächte in ihrer Differenz gegeneinander herausstellen und bekämpfen. Das Geistige aber kann nur durch den Geist betätigt werden, und so müssen die geistigen Differenzen auch aus der Tat des Menschen ihre Wirklichkeit gewinnen, um in ihrer eigentlichen Gestalt auftreten zu können.
Wir haben jetzt also einerseits eine Schwierigkeit, ein Hindernis, eine Verletzung, hervorgebracht durch eine wirkliche Tat des Menschen; andererseits eine Verletzung an und für sich berechtigter Interessen und Mächte. Erst beide Bestimmungen zusammengenommen begründen die Tiefe dieser letzten Art von Kollisionen.
Die Hauptfälle, welche in diesem Kreise vorkommen können, lassen sich in folgender Weise unterscheiden.
αα) Indem wir soeben erst aus dem Bezirk derjenigen Konflikte herauszutreten anfangen, welche auf der Grundlage des Natürlichen beruhen, so steht der nächste Fall dieser neuen Art noch mit den früheren in Verbindung. Soll nun aber das menschliche Tun die Kollision begründen, so kann das Natürliche, durch den Menschen, nicht insofern er Geist ist, Vollbrachte, nur darin bestehen, daß er unwissend, absichtslos etwas getan hat, das sich ihm später als eine Verletzung wesentlich zu respektierender sittlicher Mächte erweist. Das Bewußtsein, das er später über seine Tat erhält, treibt ihn dann durch diese früher bewußtlose Verletzung, wenn er sich dieselbe als von ihm ausgegangen zurechnet, in Zwiespalt und Widerspruch hinein. Der Widerstreit des Bewußtseins und der Absicht bei der Tat und des nachfolgenden Bewußtseins dessen, was die Tat an sich war, macht hier den Grund des Konfliktes aus. Ödipus und Ajax können uns als Beispiele gelten. Ödipus' Tat, seinem Wollen und Wissen nach, bestand darin, daß er einen ihm fremden Mann im Streit erschlagen hatte; das Ungewußte aber war die wirkliche Tat an und für sich, der Mord des eigenen Vaters. Ajax umgekehrt tötet im Wahnsinn die Herden der Griechen, weil er sie für die griechischen Fürsten selber hält. Als er dann mit wachem Bewußtsein das Geschehene betrachtet, ist es die Scham über seine Tat, welche ihn ergreift und in Kollision bringt. Was in solcher Weise absichtslos vom Menschen verletzt worden ist, muß jedoch etwas sein, das er wesentlich seiner Vernunft nach zu ehren und heilig zu halten hat. Ist diese Achtung und Verehrung dagegen eine bloße Meinung und ein falscher Aberglauben, so kann für uns mindestens eine solche Kollision kein tieferes Interesse mehr haben.
ββ) Da nun aber in unserem jetzigen Kreise der Konflikt eine geistige Verletzung geistiger Mächte durch die Tat des Menschen sein soll, so besteht zweitens die angemessenere Kollision in der bewußten und aus diesem Bewußtsein und dessen Absicht hervorgegangenen Verletzung. Den Ausgangspunkt kann auch hier wieder Leidenschaft, Gewalttätigkeit, Torheit usf. bilden. Der Trojanische Krieg z. B. hat zu seinem Anfange den Raub der Helena; Agamemnon dann weiter opfert die Iphigenie und verletzt dadurch die Mutter, indem er ihr die liebste der Wehen tötet; Klytämnestra erschlägt dafür den Gatten; Orest, weil sie ihm den Vater und König gemordet, rächt sich durch den Tod der Mutter. Ähnlich ist im Hamlet der Vater heimtückisch ins Grab geschickt, und Hamlets Mutter schmäht die Manen des Getöteten durch eine schnellfolgende Verheiratung mit dem Mörder.
Auch bei diesen Kollisionen bleibt der Hauptpunkt der, daß gegen etwas an und für sich Sittliches, Wahrhaftiges, Heiliges, welches der Mensch dadurch gegen sich aufregt, angekämpft werde. Ist dies nicht der Fall, so bleibt für uns, insofern wir ein Bewußtsein von dem wahrhaft Sittlichen und Heiligen haben, ein solcher Konflikt ohne Wert und Wesentlichkeit, wie z. B. in der bekannten Episode des Mahabharata, Nala und Damayanti. König Nala hatte die Fürstentochter Damayanti geheiratet, der das Privilegium zustand, selbständig unter ihren Freiern die Auswahl zu treffen. Die übrigen Bewerber schweben als Genien in der Luft, Nala allein steht auf der Erde, und sie hatte den guten Geschmack, sich den Menschen auszuerlesen. Darüber nun sind die Genien aufgebracht und lauern dem König Nala auf. Viele Jahre hindurch können sie aber nichts wider ihn aufbringen, da er sich keines Vergehens schuldig macht.
Endlich jedoch gewinnen sie Macht über ihn, denn er begeht ein großes Verbrechen, indem er sein Wasser abschlägt und mit dem Fuß in den urinfeuchten Boden tritt. Nach der indischen Vorstellung ist dies eine schwere Schuld, deren Strafe nicht ausbleiben kann. Von nun an haben ihn die Genien in ihrer Gewalt; der eine flößt ihm die Lust zum Spiel ein, der andere regt seinen Bruder wider ihn auf, und Nala muß endlich, des Throns verlustig, verarmt mit Damayanti ins Elend wandern.
Zuletzt hat er auch noch die Trennung von ihr zu ertragen, bis er nach mannigfachen Abenteuern schließlich zu dem früheren Glücke noch einmal wieder emporgehoben wird. Der eigentliche Konflikt, um welchen das Ganze sich dreht, ist nur für die alten Inder eine wesentliche Verletzung des Heiligen, nach unserem Bewußtsein aber nichts als eine Absurdität.
γγ) Drittens braucht aber die Verletzung nicht direkt zu sein, d. h. es ist nicht nötig, daß die Tat als solche schon für sich genommen eine kollidierende Tat sei, sondern sie wird es erst durch die dagegenstrebenden, ihr widersprechenden, gewußten Verhältnisse und Umstände, unter denen sie sich vollführt. Julia und Romeo z. B. lieben sich; in der Liebe an und für sich liegt keine Verletzung; aber sie wissen, daß ihre Häuser in Haß und Feindschaft leben, daß die Eltern die Ehe nie zugeben werden, und geraten durch diesen vorausgesetzten zwiespältigen Boden in Kollision. Dies Allgemeinste mag in betreff auf die bestimmte Situation, dem allgemeinen Weltzustande gegenüber, genug sein. Wollte man diese Betrachtung allen ihren Seiten, Schattierungen und Nuancen nach durchführen und jede mögliche Art der Situation beurteilen, so würde dies Kapitel allein schon Gelegenheit zu den unendlich weitläufigsten Erörterungen geben. Denn die Erfindung der verschiedenen Situationen hat eine unerschöpfliche Fülle der Möglichkeiten in sich, wobei es dann immer wieder auf die bestimmte Kunst, ihrer Gattung und Art nach, wesentlich ankommt. Dem Märchen z. B. gestattet man vieles, was einer anderen Weise der Auffassung und Darstellung würde verboten sein. Überhaupt aber ist die Erfindung der Situation ein wichtiger Punkt, der denn auch den Künstlern gewöhnlich große Not zu machen pflegt. Besonders hört man heutzutage die häufige Klage über die Schwierigkeit, die rechten Stoffe zu finden, aus denen die Umstände und Situationen zu entnehmen wären. Auf den ersten Blick kann es in dieser Beziehung zwar des Dichters würdiger scheinen, original zu sein und sich die Situationen selber zu erfinden, doch ist diese Art der Selbsttätigkeit keine wesentliche Seite. Denn die Situation macht nicht das Geistige für sich, nicht die eigentliche Kunstgestalt aus, sondern betrifft nur das äußerliche Material, in welchem und an welchem sich ein Charakter und Gemüt entfalten und darstellen soll. Erst bei der Verarbeitung dieses äußerlichen Anfangs zu Handlungen und Charakteren erweist sich die echt künstlerische Tätigkeit. Man kann es daher dem Dichter gar keinen Dank wissen, diese an sich undichterische Seite selbst gemacht zu haben, und es muß ihm erlaubt bleiben, aus schon Vorhandenem, aus der Geschichte, Sage, Mythe, aus Chroniken, ja selbst aus künstlerisch bereits verarbeiteten Stoffen und Situationen immer von neuem wieder zu schöpfen; wie in der Malerei das Äußerliche der Situation aus den Legenden der Heiligen entnommen und oft genug in ähnlicher Weise ist wiederholt worden. Die eigentliche künstlerische Produktion bei solcher Darstellung liegt weit tiefer als in dem Auffinden bestimmter Situationen. - Ähnlich verhält es sich auch mit dem Reichtum der vorübergeführten Zustände und Verwicklungen. Man hat in dieser Rücksicht oft genug von der neueren Kunst gerühmt, daß sie der alten gegenüber eine unendlich fruchtbarere Phantasie dartue, und in der Tat findet sich auch in den Kunstwerken des Mittelalters und der modernen Zeit die höchste Mannigfaltigkeit und Abwechslung von Situationen, Ereignissen, Begebenheiten und Schicksalen. Mit dieser äußeren Fülle aber ist es nicht getan. Wir besitzen ihr zum Trotz nur wenige vortreffliche Dramen und epische Gedichte. Denn die Hauptsache ist nicht der äußere Gang und Wechsel der Begebnisse, so daß dieselben als Begebnisse und Geschichten den Inhalt des Kunstwerks erschöpfen, sondern die sittliche und geistige Gestaltung und die großen Bewegungen des Gemüts und Charakters, welche sich durch den Prozeß dieser Gestaltung darlegen und enthüllen.
Blicken wir jetzt auf den Punkt, von welchem aus wir weiter vorschreiten müssen, so werden einerseits die äußeren und inneren bestimmten Umstände, Zustände und Verhältnisse zur Situation erst durch das Gemüt, die Leidenschaft, welche sie auffaßt und in ihnen sich erhält. Andererseits, sahen wir, differenziert die Situation sich in ihrer Bestimmtheit zu Gegensätzen, Hindernissen, Verwicklungen und Verletzungen, so daß sich das Gemüt durch die ergriffenen Umstände veranlaßt fühlt, notwendig gegen das Störende und Hemmende, das sich seinen Zwecken und Leidenschaften entgegenstellt, zu agieren. In diesem Sinne geht die eigentliche Aktion erst an, wenn der Gegensatz herausgetreten ist, den die Situation enthielt. Indem nun aber die kollidierende Aktion eine entgegenstehende Seite verletzt, so ruft sie in dieser Differenz die gegenüberliegende angegriffene Macht gegen sich auf, und mit der Aktion ist dadurch unmittelbar die Reaktion verknüpft. Hiermit erst ist das Ideal in volle Bestimmtheit und Bewegung hineingetreten. Denn jetzt stehen zwei aus ihrer Harmonie herausgerissene Interessen einander kämpfend entgegen und fordern in ihrem wechselseitigen Widerspruche notwendig eine Auflösung.
Diese Bewegung nun als Ganzes genommen gehört nicht mehr zu dem Gebiet der Situation und deren Konflikten, sondern führt zur Betrachtung dessen, was wir oben als die eigentliche Handlung bezeichnet haben.
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