Zum Hauptinhalt springen

17.

[Dörfer in der Stadt]

Mit Moskaus Straßen hat es eine eigentümliche Bewandtnis: das russische Dorf spielt in ihnen Versteck. Tritt man durch irgendeine der großen Torfahrten – oft sind sie durch schmiedeeiserne Gitter verschließbar, aber ich habe nie eins versperrt gefunden –, dann steht man am Beginn einer geräumigen Siedlung. Da öffnet, breit und ausladend, sich ein Gutshof oder ein Dorf, der Grund ist uneben, Kinder fahren im Schlitten, Schuppen für Holz und Geräte füllen die Winkel, Bäume stehen verstreut, hölzerne Stiegen geben der Hinterfront von Häusern, welche von der Straße her städtisch wirken, das Äußere eines russischen Bauernhauses. Kirchen stehen häufig auf diesen Höfen, nicht anders wie auf einem weiten Dorfplatz. So wächst die Straße um die Dimension der Landschaft. Auch gibt es keine westliche Stadt, die in ihren riesenhaften Plätzen so dörflich gestaltlos und immer wie von schlechtem Wetter, tauendem Schnee oder Regen aufgeweicht daliegt. Kaum einer dieser weiten Plätze trägt ein Denkmal. (Dagegen gibt es in Europa beinahe keinen, dem nicht im neunzehnten Jahrhundert die geheime Struktur durch ein Denkmal profaniert und zerstört worden wäre.) Wie jede andere Stadt, so baut auch Moskau mit Namen eine kleine Welt im Innern auf. Da gibt es ein Kasino, das »Alkasar« heißt, ein Hotel namens »Liverpool«, ein Logierhaus »Tirol«. Bis zu den Zentren des städtischen Wintersports braucht es von da noch immer eine halbe Stunde. Man trifft zwar Schlittschuhläufer, Skifahrer in der ganzen Stadt, aber die Rodelbahn liegt mehr im Innern. Hier starten Schlitten verschiedenster Konstruktion: von einem Brett, das vorn auf Schlittschuhkufen läuft und hinten im Schnee schurrt, bis zu den komfortabelsten Bobsleighs. Nirgends sieht Moskau aus wie die Stadt selber; am ehesten noch wie sein Weichbild. Der nasse Grund, die Bretterbuden, lange Transporte von Rohmaterial, Vieh, das zum Schlächter getrieben wird, dürftige Schenken trifft man in den belebtesten Teilen an. Noch ist die Stadt durchsetzt von hölzernen Häuschen, genau der gleichen slawischen Bauart, wie man sie überall im Umkreis von Berlin trifft. Was als märkischer Steinbau so trostlos wirkt, lockt hier mit schönen Farben aus dem warmen Holz. In den Vorstadtstraßen zu seiten der breiten Alleen wechseln Bauernhütten mit Jugendstilvillen oder der nüchternen Fassade eines achtstöckigen Hauses. Der Schnee liegt hoch, und entsteht mit einmal eine Stille, so kann man glauben, tief im Innern Rußlands in einem Dorf zu sein, das überwintert. Sehnsucht nach Moskau macht nicht nur der Schnee mit seinem Sternenglanz bei Nacht und seinen blumenähnlichen Kristallen tags. Das tut auch der Himmel. Denn immer tritt zwischen geduckten Dächern der Horizont der weiten Ebenen in die Stadt. Nur gegen Abend wird er unsichtbar. Dann aber bringt die Wohnungsnot in Moskau ihren erstaunlichsten Effekt hervor. Durchstreift man in der frühen Dunkelheit die Straßen, so sieht man in den großen und den kleinen Häusern beinahe jedes Fenster hell erleuchtet. Wäre der Lichtschein, der von ihnen ausgeht, nicht so ungleichmäßig, man glaubte, eine Illumination vor sich zu haben.