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12.

[Macht und Geld]

Unter dem Kapitalismus sind Macht und Geld kommensurable Größen geworden. Jede gegebene Menge Geldes ist in eine ganz bestimmte Macht zu konvertieren und der Verkaufswert jeder Macht läßt sich errechnen. So steht es im großen gesehen. Von Korruption kann hierbei nur die Rede sein, wo dieser Vorgang allzu abgekürzt gehandhabt wird. Er hat in sicherem Ineinanderspiel von Presse, Ämtern, Trusts sein Schaltsystem, in dessen Grenzen er durchaus legal bleibt. Der Sowjetstaat hat diese Kommunikation von Geld und Macht unterbunden. Sich selber behält die Partei die Macht vor, das Geld überläßt sie dem NEP-Mann1. In der Wahrnehmung irgendwelcher Parteifunktionen, und sei es der höchsten, sich etwas zurückzulegen, die »Zukunft«, wenn auch nur »für die Kinder« sicherzustellen, ist ganz undenkbar. Mitgliedern garantiert die Kommunistische Partei ein allerschmalstes Minimum der Existenz – sie tut es praktisch, ohne eigentliche Verpflichtung. Dagegen kontrolliert sie deren ferneren Erwerb und setzt mit 250 Rubeln monatlich die Höchstgrenze ihres Einkommens fest. Zu mehr kann man es einzig und allein durch literarische Betätigung neben dem Berufe bringen. Solcher Disziplin unterliegt das Leben der herrschenden Klasse. Mit dem Besitze der regierenden Gewalt ist aber deren Macht durchaus noch nicht umschrieben. Rußland ist heute nicht nur Klassen- sondern Kastenstaat. Kastenstaat – das will besagen, daß die gesellschaftliche Geltung eines Bürgers nicht von der repräsentativen Außenseite seiner Existenz – als Kleidung oder Wohnung – sondern einzig von dem Verhältnis zur Partei bestimmt wird. Maßgeblich ist es auch für alle die, die nicht unmittelbar ihr angehören. Auch ihnen stehen Arbeitsfelder offen, sofern sie nicht demonstrativ sich dem Regime versagen. Auch unter ihnen finden die genauesten Unterschiede statt. Aber so übertrieben – oder so überholt – auf der einen Seite die europäische Vorstellung von der staatlichen Unterdrückung Andersgesinnter in Rußland ist, so wenig hat man andrerseits im Ausland von jener furchtbaren gesellschaftlichen Ächtung, welcher der NEP-Mann hier verfällt, Begriff. Es wäre anders auch die Schweigsamkeit, das Mißtrauen nicht zu erklären, das nicht allein dem Fremden gegenüber fühlbar wird. Fragt man hier einen oberflächlichen Bekannten nach seinem Eindruck von einem noch so unwichtigen Stück, einem noch so belanglosen Film, so hat man meist die formelhafte Antwort zu erwarten: »Hier wird gesagt ...« oder: »Hier herrscht ganz allgemein die Überzeugung ...« Man dreht das Urteil zehnmal auf der Zunge um, bevor man es vor Fernerstehenden verlautbart. Denn jederzeit kann die Partei beiläufig, unversehens in der »Prawda« Stellung nehmen und niemand will sich gern desavouiert sehen. Weil zuverlässige Gesinnung, wenn nicht das alleinige Gut, so für die meisten einzige Bürgschaft anderer Güter ist, geht jedermann mit seinem Namen und mit seiner Stimme so behutsam um, daß Bürger demokratischer Verfassung ihn nicht begreifen. – Es unterhalten sich zwei gute Bekannte. Im Laufe des Gesprächs sagt der eine: »Da war gestern dieser Michailowitsch bei mir und wollte in meinem Büro eine Stelle haben. Er sagte, er kennt dich.« »Ein tüchtiger Genosse ist er, pünktlich und fleißig.« Und damit reden sie von etwas anderem. Beim Auseinandergehen aber sagt der erste: »Könntest du so gut sein und mir die Auskunft über diesen Michailowitsch mit ein paar Worten bitte schriftlich geben?« – Die Klassenherrschaft hat Symbole aufgegriffen, die der Charakteristik ihres Klassengegners dienen. Und unter ihnen ist vielleicht der Jazz das populärste. Daß man ihn auch in Rußland mit Vergnügen hört, ist nicht erstaunlich. Aber danach zu tanzen ist verboten. Man hat ihn wie ein buntes, giftiges Reptil gewissermaßen hinter Glas verwahrt und so erscheint er denn als Attraktion in den Revuen. Doch immer ein Symbol des »Bourgeois«. Er zählt zu jenen primitiven Requisiten, mit deren Hilfe man in Rußland zu Propagandazwecken ein groteskes Bild des bürgerlichen Typus konstruiert. In Wahrheit ist es öfters nur ein lächerliches, in dem die Disziplin und Überlegenheit des Gegners übersehen wird. In solche schiefe Optik auf den Bürger spielt ein nationalistisches Moment hinein. Rußland war das Besitztum des Zaren. (Ja, wer die unabsehbar gestapelten Kostbarkeiten der Sammlungen im Kreml durchgeht, der ist versucht zu sagen: ein Besitztum.) Das Volk aber ist über Nacht zu dessen unermeßlich vermögendem Erben geworden. Es geht jetzt an die große Inventur seines Menschen- und Bodenreichtums. Und diese Arbeit unternimmt es im Bewußtsein, unvorstellbar Schweres bereits geleistet, gegen die Feindschaft eines halben Erdteils die neue Herrschaftsordnung aufgebaut zu haben. In der Bewunderung dieser nationalen Leistung verbinden sich alle Russen. Diese Umformung einer Herrschaftsgewalt macht ja das Leben hier so inhaltschwer. Es ist so in sich abgeschlossen und ereignisreich, arm und im gleichen Atem voller Perspektiven wie ein Goldgräberleben in Klondyke. Es wird von früh bis spät nach Macht gegraben. Die ganze Kombinatorik wesentlicher Existenzen ist überaus ärmlich im Vergleich zu den zahllosen Konstellationen, die hier im Lauf eines Monats den Einzelnen antreten. Freilich kann ein gewisser Rauschzustand die Folge sein, so daß ein Leben ohne Sitzungen und Kommissionen, Debatten, Resolutionen und Abstimmungen (und das alles sind Kriege oder zumindest Manöver des Machtwillens) sich gar nicht mehr vorstellen läßt. Was tut's – die nächsten Generationen Rußlands werden auf dieses Dasein eingestellt sein. Seine Gesundheit aber hat die eine unerläßliche Voraussetzung: daß nicht (so wie es eines Tages selbst der Kirche widerfuhr) eine schwarze Börse der Macht sich eröffne. Dränge die europäische Korrelation von Macht und Geld auch in Rußland ein, so wäre zwar nicht das Land, vielleicht nicht einmal die Partei, aber der Kommunismus in Rußland verloren. Noch hat man hier nicht europäische Konsumbegriffe und Konsumbedürfnisse. Das hat vor allem wirtschaftliche Gründe. Doch ist es möglich, daß zudem darin noch eine kluge Absicht der Partei sich durchsetzt: Ausgleichung des Konsumniveaus mit Westeuropa, die Feuerprobe für das bolschewistische Beamtentum, in einem freigewählten Augenblick, gestählt und mit der unbedingten Sicherheit des Sieges durchzuführen.



  1. NEP – Neue ökonomische Politik.