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19.

[Kneipen und Theater]

Noch der mühseligste Moskauer Werktag hat zwei Koordinaten, welche jeden Augenblick in ihm sinnlich bestimmen werden als Erwartung und Erfüllung. Das ist die Vertikale der Mahlzeiten, gekreuzt von der abendlichen Horizontale des Schauspiels. Man ist von beiden niemals weit entfernt. Moskau steht voller Wirtschaften und Theater. Posten mit Näschereien patrouillieren durch die Straßen, viele der großen Lebensmittelhäuser schließen erst gegen elf Uhr in der Nacht, und an den Ecken öffnen sich Tee- und Bierstuben. »Tschainaja«, »Piwnaja« – meist aber beides – hat man auf einen Hintergrund gepinselt, auf dem ein stumpfes Grün vom oberen Rand her allmählich und verdrossen in ein schmutziges Gelb verläuft. Zum Bier gibt es eigentümliche Zukost: winzige Stückchen getrocknetes Weißbrot, Schwarzbrot mit einer Salzkruste überbacken und getrocknete Erbsen in Salzwasser. In gewissen Kneipen kann man so tafeln, und noch dazu an einer primitiven »Inszenirowka« seine Freude haben. Man nennt so einen epischen oder lyrischen Stoff, der für das Theater verarbeitet wurde. Oft sind es schnöd in Chöre aufgeteilte Volksgesänge. In dem Orchester solcher Volksmusik lassen sich neben Ziehharmoniken und Geigen manchmal als Instrumente Rechenbretter hören. (Sie stehen in allen Läden und Büros. Nicht die kleinste Verrechnung ist ohne sie denkbar.) Der Wärmerausch, der beim Betreten dieser Stuben, beim heißen Tee, beim Genuß der scharfen Sakuska den Gast überkommt, ist Moskaus heimlichste Winterwollust. Darum kennt der die Stadt nicht, der sie nicht im Schnee kennt. Denn es will jede Gegend in der Jahreszeit bereist sein, in welche das Extrem ihres Klimas fällt. Ihm ist sie ja vor allem angepaßt, und erst aus dieser Anpassung versteht man sie. In Moskau ist das Leben im Winter um eine Dimension reicher. Der Raum verändert sich buchstäblich, je nachdem er heiß oder kalt ist. Man lebt auf der Straße wie in einem frostigen Spiegelsaal, jedes Einhalten und Besinnen fällt unglaublich schwer. Es braucht schon einen halbtägigen Vorsatz, um einen fertig adressierten Brief in den Kasten zu stecken, und trotz der strengen Kälte bedeutet es eine Willensleistung, in ein Geschäft zu gehen, um etwas zu kaufen. Doch hat man endlich ein Lokal gefunden, dann mag der Tisch bestellt sein wie er will – mit Wodka, der hier mit Kräutern versetzt wird, mit Kuchen oder einer Tasse Tee: Wärme macht Zeit im Verrinnen selber zum Rauschtrank. Sie fließt in den Ermüdeten hinein wie Honig.