4.
[Kinder der Proletarier]
Im Straßenbilde aller Proletarierviertel sind die Kinder wichtig. Sie sind zahlreicher dort als in den andern, sie bewegen sich zielsicherer und geschäftiger. Moskau wimmelt von Kindern in allen Quartieren. Schon unter ihnen gibt es eine kommunistische Hierarchie. Die Komsomolzen als die ältesten stehen an der Spitze. Sie haben ihre Klubs in allen Städten und sind der eigentliche geschulte Nachwuchs der Partei. Die Kleineren werden – mit sechs Jahren – »Pioniere«. Auch sie sind wieder in Klubs zusammengeschlossen, tragen als ein stolzes Abzeichen den roten Schlips. »Oktjabr« (»Oktobers«) endlich – oder auch »Wölfe« – heißen die kleinen Babys vom Augenblick an, wo sie aufs Lenin-Bildnis deuten können. Aber noch immer trifft man auch auf die verkommenen namenlos traurigen Besprisornye. Tagsüber sieht man sie meistens allein; sie gehen jedes seinen eigenen Kriegspfad. Am Abend aber stoßen sie vor grell beleuchteten Kinofassaden zu Trupps zusammen und man erzählt den Fremden, es sei nicht gut, auf einsamem Nachhausewege solcher Bande zu begegnen. Um diese durch und durch Verwilderten, Mißtrauischen, Verbitterten zu erfassen, blieb dem Erzieher gar nichts anderes übrig, als selber auf die Straße zu gehen. Man hat in jedem Moskauer Rayon bereits seit Jahren »Kinderplätze« eingerichtet. Sie unterstehen einer Angestellten, die selten mehr als eine Hilfskraft hat. Ihre Sache, wie sie es fertig bringt, an die Kinder ihres Rayons heranzukommen. Essen wird ausgegeben, es wird gespielt. Zu Anfang kommen zwanzig oder vierzig, greift aber eine Leiterin es richtig an, so können nach zwei Wochen hunderte von Kindern den Platz erfüllen. Daß hergebrachte pädagogische Methoden mit diesen Kindermassen nie zu Rande kämen, versteht sich. Um überhaupt zu ihnen vorzustoßen, gehört zu werden, muß man schon an die Parolen der Straße selber, des ganzen kollektiven Lebens sich so dicht und so deutlich wie möglich anschließen. Die Politik ist bei der Organisation von Scharen solcher Kinder nicht Tendenz, sondern so selbstverständlicher Beschäftigungsgegenstand, so evidentes Anschauungsmaterial wie Kaufmannsladen oder Puppenstube für die Bürgerkinder. Wenn man dann weiter sich vergegenwärtigt, daß eine Leiterin die Kinder acht Stunden lang zu überwachen, zu beschäftigen, zu speisen hat, dazu die Buchhaltung aller Ausgaben führt, die für Milch, Brot und Materialien erfordert werden, daß sie verantwortlich für alles dies ist, muß drastisch werden, wieviel solche Arbeit von dem privaten Dasein derer, die sie ausübt, übrig läßt. Mitten in allen Bildern eines noch längst nicht bezwungenen Kinderelends wird aber der, der aufmerkt, eins gewahr: wie der befreite Stolz der Proletarier mit der befreiten Haltung der Kinder zusammenstimmt. Nichts überrascht auf einem Studiengang durch Moskauer Museen mehr und schöner, als anzusehen, wie durch diese Räume in Gruppen, manchesmal um einen Führer, oder vereinzelt, Kinder und Arbeiter in aller Unbefangenheit sich bewegen. Hier ist nichts von der trostlosen Gedrücktheit der seltenen Proletarier, die in unseren Museen sich anderen Besuchern kaum zu zeigen wagen. In Rußland hat das Proletariat wirklich Besitz von der bürgerlichen Kultur zu nehmen begonnen, bei uns kommt es mit solchem Unternehmen sich so vor, als ob es einen Einbruchsdiebstahl plant. Es gibt nun freilich gerade in Moskau Sammlungen, in welchen Arbeiter und Kinder sich wirklich bald vertraut und heimisch finden können. Da ist das Polytechnische Museum mit seinen vielen tausenden von Proben, Apparaten, Dokumenten und Modellen zur Geschichte der Urproduktion und der verarbeitenden Industrie. Da ist das hervorragend geleitete Spielzeugmuseum, das unter seinem Direktor Bartram eine kostbare, instruktive Sammlung russischen Spielzeugs vereinigt hat und ebenso dem Forscher wie den Kindern dient, die stundenlang in diesen Sälen herumspazieren (gegen Mittag gibt es dazu dann großes, unentgeltliches Puppentheater, so schön wie nur eines im Luxembourg). Da ist die berühmte Tretjakoff-Galerie, in der man erst begreift, was Genremalerei bedeutet und wie gemäß sie gerade dem Russen ist. Der Proletarier findet hier Sujets aus der Geschichte seiner Bewegung: »Ein Konspirator von Gendarmen überrascht«, »Rückkehr eines Verbannten aus Sibirien«, »Die arme Gouvernante tritt den Dienst in einem reichen Kaufmannshause an«. Und daß dergleichen Szenen ganz im Geist der bürgerlichen Malerei gehalten sind, das schadet nicht nur nicht – es bringt sie diesem Publikum nur näher. Kunsterziehung wird ja (wie Proust bisweilen sehr gut zu verstehen gibt) nicht gerade durch Betrachtung von »Meisterwerken« gefördert. Vielmehr, das Kind oder der Proletarier, der sich eben bildet, erkennt mit Recht ganz anderes als Meisterwerk an denn ein Sammler. Solche Bilder haben für ihn eine sehr vorübergehende aber solide Bedeutung, und der strengere Maßstab tut nur den aktuellen Werken gegenüber not, die sich auf ihn, seine Arbeit und seine Klasse beziehen.