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20.

[Lenin]

Am Todestage Lenins zeigen viele sich mit Trauerbinden. Die ganze Stadt flaggt mindestens drei Tage Halbmast. Viele der schwarzumflorten Fähnchen aber bleiben, da sie nun einmal hängen, ein, zwei Wochen draußen. Die Trauer Rußlands um den toten Führer ist sicher nicht vergleichbar mit der Haltung, die anderswo das Volk an solchen Tagen einnimmt. Die Generation, die in den Bürgerkriegen aktiv war, wird alt, wenn nicht den Jahren so der Spannkraft nach. Es ist, als hätte die Stabilisierung auch in ihr eigenes Leben eine Ruhe, ja manchmal eine Apathie einziehen lassen, wie sie gewöhnlich erst das Alter bringt. Das »Halt«, das eines Tages mit der NEP die Partei dem Kriegskommunismus entgegensetzte, hat einen fürchterlichen Gegenstoß hervorgerufen, der viele Kämpfer der Bewegung niederwarf. Tausende gaben damals der Partei ihr Mitgliedsbuch zurück. Man weiß von Fällen so vollständiger Deroute, daß aus erprobten Stützen der Partei in wenigen Wochen Defraudanten wurden. Die Trauer um Lenin ist für die Bolschewisten zugleich die Trauer um den heroischen Kommunismus. Die wenigen Jahre, die er nun zurückliegt, sind für das russische Bewußtsein lange Zeit. Das Wirken Lenins hat den Ablauf der Geschehnisse in seiner Ära so beschleunigt, daß sein Erscheinen schnell Vergangenheit, sein Bild schnell fern wird. Jedoch bedeutet in der Optik der Geschichte – darin das Gegenbild der räumlichen – Bewegung in die Ferne Größerwerden. Jetzt gelten andere Befehle als zu Lenins Zeiten, freilich Parolen, die er selbst noch angab. Jetzt macht man jedem Kommunisten klar, die revolutionäre Arbeit dieser Stunde sei nicht Kampf, sei nicht der Bürgerkrieg sondern Kanalbau, Elektrifizierung und Fabrikbau. Das revolutionäre Wesen echter Technik wird immer deutlicher herausgestellt. Wie alles, so auch dies (mit Grund) in Lenins Namen. Dieser Name wächst fort und fort. Es ist bezeichnend, daß dem nüchternen und mit Prognosen sparsamen Bericht der englischen Gewerkschaftsdelegation die Möglichkeit erwähnenswert erschienen ist, »daß, wenn das Andenken Lenins seinen Platz in der Geschichte gefunden hat, dieser große, russische revolutionäre Reformer, selbst heilig gesprochen werden wird«. Schon heute geht der Kultus seines Bildes unabsehbar weit. Man findet ein Geschäft, in dem es als Spezialartikel in allen Größen, Haltungen und Materialien käuflich ist. Als Büste steht es in den Leninecken, als Bronzestatue oder Relief in größeren Klubs, als lebensgroßes Brustbild in den Büros, als kleines Photo in Küchen, Wäschekammern, Vorratsräumen. Es hängt im Vestibül der Orushnaja Palata im Kreml, wie an einem ehemals gottlosen Orte von bekehrten Heiden das Kreuz erstellt wurde. Auch bildet es allmählich seine kanonischen Formen aus. Das allbekannte Bild des Redners ist das häufigste. Doch noch ergreifender und näher spricht vielleicht ein anderes: Lenin am Tisch, gebeugt über ein Exemplar der »Prawda«. So hingegeben an ein ephemeres Blatt erscheint er in der dialektischen Verspannung seines Wesens: den Blick gewiß dem Fernen zugewandt, aber die unermüdete Sorge des Herzens dem Augenblick.