6.
[Labor]
Jeder Gedanke, jeder Tag und jedes Leben liegt hier wie auf dem Tisch eines Laboratoriums. Und als wäre es ein Metall, welchem man einen unbekannten Stoff mit allen Mitteln abgewinnen will, muß er bis zur Erschöpfung mit sich experimentieren lassen. Kein Organismus, keine Organisation kann sich diesem Vorgang entziehen. Die Angestellten werden in den Betrieben, die Ämter in den Gebäuden, die Möbel in den Wohnungen umgruppiert, versetzt und umhergerückt. Neue Zeremonien für die Namengebung, die Eheschließung werden in den Klubs als in Versuchsanstalten vorgeführt. Verordnungen werden verändert von Tag zu Tag, aber auch Trambahnhaltestellen wandern, Läden werden zu Restaurants und ein paar Wochen später zu Büros. Diese erstaunliche Versuchsanordnung – man nennt sie hier »Remonte« – betrifft nicht Moskau allein, sie ist russisch. Es steckt in dieser herrschenden Passion ebensoviel naiver Wille zum Guten wie uferlose Neugier und Verspieltheit. Weniges bestimmt heute Rußland stärker. Das Land ist Tag und Nacht mobilisiert, allen voran natürlich die Partei. Ja, was den Bolschewik, den russischen Kommunisten, von seinen westlichen Genossen unterscheidet, ist diese unbedingte Mobilbereitschaft. Seine Existenzbasis ist so schmal, daß er jahraus, jahrein zum Aufbruch fertig ist. Er wäre diesem Leben anders nicht gewachsen. Wo sonst ist denkbar, daß man eines Tages einen verdienten Militär zum Leiter eines großen Staatstheaters macht? Der gegenwärtige Direktor des Revolutionstheaters ist ein ehemaliger General. Es ist wahr: er war Literat, ehe er siegreicher Feldherr wurde. Oder in welchem Lande sonst kann man Geschichten hören wie sie mir der »Schwejzar« meines Hotels von sich erzählte? Bis 1924 saß er im Kreml. Dann befiel eines Tages ihn schwere Ischias. Die Partei ließ ihn von ihren besten Ärzten behandeln, sandte ihn in die Krim, ließ ihn Moorbäder nehmen, Strahlenbehandlung versuchen. Als alles vergeblich blieb, sagte man ihm: »Sie brauchen einen Posten, auf dem Sie sich schonen können, warm sitzen, keine Bewegung machen.« Am andern Tage war er Hotelportier. Wenn er kuriert ist, kommt er wieder in den Kreml. – Am Ende ist auch die Gesundheit der Genossen vor allem kostbarstes Besitztum der Partei, die, im gegebenen Falle über die Person hinweg, veranlaßt, was zu deren Konservierung ihr erfordert scheint. So stellt es jedenfalls in einer ausgezeichneten Novelle Boris Pilnjak dar. An einem hohen Funktionär wird gegen dessen Willen ein Eingriff vorgenommen, der letal verläuft. (Man nennt hier einen sehr berühmten Namen unter den Toten der letzten Jahre.) Keine Kenntnis und keine Fähigkeit, die nicht vom kollektiven Leben irgendwie ergriffen und ihm dienstbar gemacht würde. Der »Spez« – so nennt man allgemein den Spezialisten – ist Vorbildung der Versachlichung und der einzige Bürger, der unabhängig vom politischen Aktionskreis etwas vorstellt. Gelegentlich streift der Respekt vor diesem Typ den Fetischismus. So wurde an der roten Kriegsakademie ein General als Lehrer angestellt, der durch sein Auftreten im Bürgerkrieg berüchtigt ist. Jeden gefangenen Bolschewisten ließ er ohne Umstände hängen. Für Europäer ist ein solcher Standpunkt, der das Prestige der Ideologie dem sachlichen Gesichtspunkt unnachsichtlich unterordnet, kaum verständlich. Aber auch für die Gegenseite ist der Vorfall bezeichnend. Es sind ja nicht nur Militärs des Zarenreiches, die, wie bekannt, sich in den Dienst der Bolschewisten stellten. Auch Intellektuelle kehren mit der Zeit als Spezialisten auf die Posten zurück, die sie im Bürgerkrieg sabotiert haben. Opposition, wie man im Westen sie sich denken möchte – Intelligenz, die abseits steht, und unterm Joche schmachtet – gibt es nicht oder besser gesagt: gibt es nicht mehr. Sie ist – mit welchen Reservaten immer – den Waffenstillstand mit den Bolschewisten eingegangen oder sie ist vernichtet. Es gibt in Rußland – gerade außerhalb der Partei – keine andere Opposition, als die loyalste. Auf keinem lastet nämlich dieses neue Leben schwerer als auf dem betrachtenden Außenseiter. Als Müßiggänger dieses Dasein zu ertragen ist unmöglich, weil es in jedem mindesten Detail schön und verständlich nur durch Arbeit wird. Eigene Gedanken in ein vorgegebenes Kraftfeld einzutragen, ein wenn auch noch so virtuelles Mandat, organisierter, garantierter Kontakt mit Genossen – daran ist dieses Leben so sehr gebunden, daß, wer darauf verzichtet, oder sich das nicht verschaffen kann, geistig verkommt als säße er in jahrelanger Einzelhaft.