Aber zweifellos auch das intellektuelle Niveau
Aber zweifellos auch das intellektuelle Niveau seiner Verteidiger herabgesetzt. Denn die Entrüstung, die diese Debatte täglich fortspinnt und mit gräßlicher Monotonie die aus dem Zusammenbruch der Armee gerettete Ehre, den einzigen Besitz des Standes, zum Standesmonopol macht, erkennt nicht einmal, wie sie den verallgemeinernden Tadel mit gewiß geringerem Recht durch ein verallgemeinerndes Lob ersetzt. Hat ein Stabsoffizier zufällig recht, von sich zu behaupten, daß er sich um das Wohl seiner Leute gekümmert habe, so ruft er »die Mannschaft« zum Zeugen dafür auf, daß sich »die Stabsoffiziere« um ihr Wohl, das Wohl der Mannschaft gekümmert hätten. Die Mannschaft war aber offenbar auch schon während des Krieges Zeuge für den Heldenmut, mit dem »das Offizierskorps einen vierjährigen beispiellosen Kampf gegen die Übermacht einer Welt«, also gegen die Mannschaft aller Ententestaaten, »bestanden hat«. Und solch ein ehrlich erregter und für seine eigene Schuldlosigkeit glaubwürdiger Verteidiger der Standesehre merkt nicht, daß sie, selbst preisgegeben, besser dastände als unter dem Schutz der verächtlichsten Zeitung Deutsch-Österreichs, jener, deren Wesensart der ursprüngliche Sinn militärischer Tapferkeit ferner liegt als einem Erzengel das Börsenspiel. Ist es ein Zufall, daß heute gerade so etwas hinterher ist, die Offiziersehre zu apportieren? Die armen Kriegshunde, diese gütigsten Opfer des Militarismus, für die kein Kläger auftritt, hätten, weiß Gott, keinen Grund dazu! Da es aber doch eine Zeitung ist, die sich der Pflicht, amtliche Feststellungen über die Militärjustiz zu veröffentlichen, auch durch den kleinsten Druck nicht ganz entziehen kann, so erfahren wir auf der zweiten Seite: daß die Stabsoffiziere sich »für das Wohl und die möglichste Schonung der Mannschaft«, für die »Pflege eines innigeren, herzlicheren Kontaktes mit derselben«, für die »tunlichste Herabminderung der persönlichen Gefahr« — der Untergebenen — aufgeopfert haben, und auf der siebenten Seite: daß ein Generalstabshauptmann zwölf Unschuldige, davon zehn in zehn Tagen, sechs an einem Tag, hat erschießen oder aufhängen lassen. Dieser mag so wenig ein Typus sein wie jener; aber jener sollte diesen zum Schweigen bringen. Hier entscheidet die Zahl nicht; ein Mörder der Mannschaft wiegt hundert ihrer Freunde auf und zehn machen einen Beruf zuschanden, den die Menschheit nicht vermissen wird, wenn seine anständigen Vertreter auf ihn verzichten, weil sie seine Pflicht und ihre Ehre wenigstens hinterdrein als inkompatibel empfinden müssen. Mein Tadel generalisiert nicht, denn ich lasse Ausnahmen zu, deren ich manche zu genau kenne, um von ihrer unzerstörbaren Vornehmheit nicht den Entschluß zu erwarten, nach den Offenbarungen dieses Kriegs über ihren Beruf den Flammenwerfer als Waffe so sehr zu verabscheuen wie den Säbel als Ornament. Sie wissen, daß die Anklagen nicht sie treffen können und daß erst jene Verteidiger generalisierend wirken, die unter dem Vorwand oder in der naiven Meinung, es gehe gegen alle, sich schützend vor die Schuldigen stellen. Sie wissen aber auch jetzt, daß diese weit mehr geeignet sind, den beruflichen Anforderungen im neuen Krieg, der beruflichen Ehre gerecht zu werden als sie selbst, die Tüchtigen und Ehrenhaften. Sollten sie nicht wissen, daß eine Spezialehre, die solches Geklapper einer Verteidigung nötig hat, nicht für sie, sondern für jene restauriert wird, die da spüren, daß es ihnen an den Goldkragen geht? Man unterlasse den Versuch, einen Offiziersehrenrat als Instanz über dem Weltgericht zu etablieren. Man verzichte auf das Bemühen, einen Korpsgeist, den wir in unserm Jammer auch noch entbehren möchten, gegen den aus keinem Bewußtsein verlierbaren Kontrast aufzuwiegeln: zwischen dem Leben in der Offiziersmenage, wo es als Abendmenu einen »Sautanz« gibt oder ein Festmahl mit achtzehn Gängen, darunter: »Handgranaten«, und dem brotlosen Beruf der Mannschaft, die darüber beruhigt wird, daß Insektenmaden »die Bekömmlichkeit von Dörrgemüse nur insoweit beeinträchtigen, als sie ekelerregend sind«, und daß man ja an ganz anderen Dingen stirbt. Und zwischen dem Soldaten, der erschossen wird, weil er getrunken hat, und dem Leutnant, der Zimmerarrest bekommt, weil er eine Kellnerin, die keinen Wein bringt, erschossen hat. Wir haben genug von diesen Räuschen und lehnen die Nüchternen ab, die nicht von der Kameradschaft angewidert in einem weniger ehrenträchtigen Beruf Vergessen suchen, sondern uns weiter mit seinen Zierraten ködern, die uns auch ohne solche Mahnung unvergeßlich sind. Der Rhythmus dieser Empörung, der, wenn ich ihn auch zehnmal in all seiner Dürftigkeit nachgebildet habe, dem Schreibenden nacheilt und täglich noch, wie alle unbesiegbare Banalität, dem satirischen Echo seine drei Motive versetzt: »generalisieren«, »Blut von Eurem Blute, Geist von Eurem Geiste« und »das Einzige, was sie besitzen, die Ehre« — er möchte unsere Wehrlosigkeit verewigen, und so bleibt nichts als die Hoffnung, daß solchen, die sich am fremden Opfer befriedigt und bereichert, sich selbst für die Auszeichnung und uns für die Verelendung eingegeben haben, in einem staatlichen Gerichtsverfahren nachgewiesen wird, daß das einzige, was sie nach diesem Krieg nicht besitzen, die Ehre ist. Und nicht nur vermöge ihrer persönlich bewährten Defekte, sondern weil dieser unermeßliche Blutverlust seinen letzten Sinn verloren hätte, wenn die Menschheit nicht endlich ad notam nähme: Eine Debatte über Ehre kann es überhaupt nicht geben, wo es sich um Erfüllung oder Nichterfüllung der Pflichten innerhalb einer Tätigkeit handelt, welche von Natur, vor Gott und allem Zweck der Menschheit die ehrloseste ist! Jene aber, die es nicht nötig haben, von den Schuldigen verteidigt zu werden, müssen erkennen, daß keine Standesfrage, sondern das Problem des Standes zur Erörterung steht. Sie erkennen die Verwandtschaft mit dem einzigen Beruf, der außer dem militärischen mit Recht generalisierenden Vorwürfen ausgesetzt ist, gleich diesem wesentlich dazu inkliniert, weil er gleich ihm aus den Quellen der Unverantwortlichkeit und der Anonymität seine entsetzliche Befähigung schöpft: mit dem der Journalisten — mit ihm auch in solcher Anlage verknüpft zu dem furchtbaren Bunde, dessen Walten die Welt zwischen Blut und Tinte so verwechseln gelehrt hat, daß beide Kräfte als Ursache und Wirkung zugleich erschienen. Wahrlich, es ist so, als ob die Phrase von beiden Substanzen flüssig wäre und nicht minder das Verbrechen, und als wäre, könnten wir uns da und dort noch entziehen, die Verschlingung doch das Übel, das Macht hat über uns. Das sind so die Lebensbedingungen im Totenreich. Es mußte jenem General, der das Armeeoberkommando nach der Auflösung der Armee übernommen hat, jenem gespenstischen Köveß, ein seltsames Abenteuer zustoßen: er brach durch eine Zeitungsspalte vor und rief: »Indessen« — nämlich bis der Beweis der Unrichtigkeit aller Anklagen erbracht sei, was gewiß sehr viel Zeit erfordert — »wirkt der Giftstoff, den die Ehrabschneider ausspritzen«. Er hatte aber trotz dieser Häufung artilleristischer Methoden schon vergessen, daß Krieg Krieg war, bis er in der benachbarten Spalte von der Entdeckung eines Sprengstofflagers in der Leopoldstadt überrascht wurde, in welchem zweihundert intakte Gasbomben gefunden wurden, ein Vorrat, den man in diesen notigen Zeiten in solcher Fülle nicht mehr vermutet hätte. Dort habe sich nämlich eine »Gasschule« — denn so etwas gab’s wirklich — befunden, in der Offiziere und Mannschaften im Gasangriff und in der Gasabwehr unterrichtet wurden, also die heranwachsende Generation, die berufen war, dereinst im Zeichen des Grünkreuzes und des Gelbkreuzes zu siegen. Das Bildungsbedürfnis der Jugend habe jedoch nur bis zum Waffenstillstand vorgehalten, dann aber hätten Offiziere und Mannschaften die Gasschule geschwänzt und die dort eingelagerten Lehrmittel sich selbst und der Bevölkerung des Bezirkes überlassen, die nun durch die geringste Berührung, wenn etwa Kettenhändler ein Lebensmitteldepot vermutet hätten, in die Lage versetzt worden wäre, die Vorbedingung einer siegreichen Offensive mitzumachen, und dies ohne jede fachliche Ausbildung. Ja, nach sachverständiger Schätzung wäre sogar auch der Heldentod der angrenzenden Stadtteile verbürgt gewesen. Da kann man wirklich nur sagen, daß indessen, nämlich bis der Beweis der Unrichtigkeit aller Anklagen gegen den Militarismus erbracht ist, der Giftstoff fortwirkt, den die Gekränkten ausspritzen, und fragen, ob es berechtigter sei, nach Abschluß des Waffenstillstandes die bisher verschonte Festung Wien mit Gasbomben zu belegen oder ein Gewerbe zu hassen, dessen Inhaber Wert darauf legen, an der anonymen Mitwirkung bei solcher Glorie und an deren Fortwirkung beteiligt zu sein. Der Oberkommandant dieser Möglichkeit, die eine Stadtbevölkerung mit dem Grauen überfallt, das sie bis dahin nur in Zeitungstiteln zur Not erlebt hatte, der Unterrichtsminister einer im Stich gelassenen Gasschule wagt sich ans Tageslicht und spricht vom Giftstoffe der Ehrenbeleidigung. An den Kontrasten, nicht an den Dingen sollten wir zugrundegehen. Die Invaliden dieses Kriegs brauchen sich nicht gegen die Anschuldigung zur Wehr zu setzen, daß sie mehr als sechs Kreuzer täglich vom Vaterland genommen haben; aber den Leuten, die dafür, daß sie ihren Namen unter dem Generalstabsbericht lesen konnten, eine Felddienstzulage bezogen hatten, ist nichts geblieben als ein empfindliches Ehrgefühl. Die Polizei verbietet, daß man im Theaterfoyer eine Zigarette anzünde, und läßt die Stifter der hundertfachen Ringtheaterbrände laufen. Doch zur Ehrenrettung rückt selbst hier das Kriegsministerium aus. Auch wenn alle zweihundert Gasgeschosse explodierten, sei »die Gaswirkung nur lokal«, also mit dem Erfolg bei Tolmein nicht zu vergleichen; »unversperrt« seien »nur desadjustierte und unbrauchbare Reizhandgranaten« gelegen, also jene, deren Reiz sich sonst kaum ein lebendes Wesen, mit Ausnahme etwa der Generalstäbler, entziehen kann. Auch hätten die Lehrkräfte die Anstalt nicht verlassen, sondern »den Befehl gehabt«, auf ihren Posten zu verbleiben, »was auch tatsächlich durchgeführt erscheint«, da sie »bei der von der Gemeinde Wien am 12. d. stattgefundenen Kommission anwesend waren«. Ob sie auch bei der Entdeckung und bis dahin anwesend waren, läßt die vom Kriegsministerium stattgefundene Untersuchung dahingestellt. Es war aber immer die Weihe dieser munter fortfließenden Blutarbeit, daß gute Reden in einem Deutsch, das nur sich selbst gefiel, sie begleiteten, und so werden die Angriffe des Gegners noch heute mühelos abgewiesen. Die Kanzlei des Mordes arbeitet weiter und ist jetzt mit Alibis für Täter, Komplizen und Mitwisser überhäuft. Die unbegrabenen Leichen, die auf jedem der vielen Stützpunkte ihrer Ehrsucht liegen, stören ihren Schlaf nicht; die Todesopfer der Heimfahrt, die von der Menschenfracht in den Tunnels abfielen, machen sie nicht verstummen. So komme wenigstens das Blut der Kinder über sie, die in einer Stadt, welche Kinder und Handgranaten unbeaufsichtigt läßt, vom mitgebrachten Spielzeug zerfetzt werden! Wäre ich General und läse diese verspäteten Kriegsberichte, ich ginge an die nachgelassene Front der Soldatenspiele und stürbe den Heldentod von eigener Hand. Wäre ich General, ich wollte den Schafhirten nicht überleben, den aus einem vorüberfahrenden Heimkehrerzug die letzte Kugel dieses Krieges traf. Gibt es nicht mehr genug Phantasie, Strafen zu erfinden, wenn Taten aller Kombinationskraft der Träume gespottet haben? So exzentrisch in allen Einfällen ist dieses gigantische Schicksal, und seine Autoren und Parasiten sollten in die bürgerliche Norm einkehren dürfen, und wenn wir eben eine Speise zum Mund führen mögen, dürfte der Kellner uns zuflüstern: »Wissen S’ wer der Herr daneben war? Das war der Teisinger!« Nein, ich will ihnen allen in einem Musterungslokal begegnen, nackt müßten diese Satane ihrem Höllenobersten vorgeführt werden und wenn ein zweifelnder Regimentsarzt einen nierenkranken Heerführer pardonnieren wollte, müßte jener mit einem Witz, den der Oberteufel nur im Kriegsministerium gehört haben kann, rufen: Tauglich! Und hätten sie selbst nicht Millionen widerstrebender Seelen, hätten sie einen, nur einen hinfälligen Körper in diese Qual verdammt, hätte ihre Jurisprudenz nicht zehntausend, nein nur einen Galgen beschäftigt, hätte ihre Medizin nur einen Verwundeten zurechtgeflickt für neue Wunden, und wäre in diesem Krieg kein anderes Wort gesprochen worden als das jenes Generalarztes, der zuckenden Soldaten das Trommelfeuer empfohlen hat — sie alle, der fürchterliche Wasenmeister frontverdächtiger Menschen, vor dessen Namen alle Leibeigenschaft dieses Hinterlands erbebte, und hinter ihm der ganze Troß von Menschenschlächtern und Markthelfern aller Fächer und Grade müßten antreten, und hätten nichts weiter zu gewärtigen als die Herzensangst der einen Stunde, in der eine nackte Seele oder ein zitternder Leib ihre schäbige Grausamkeit befriedigt hat, und dann einrückend gemacht werden in die Hölle!
Weil aber selbst dort auf Zimmerreinheit gesehen wird und demnach schon die Anwesenheit von Männern der Wissenschaft auf Bedenken stieße, indem eigentlich nur fachlich befugte Massenmörder hingehören und nicht Individuen, die sich aus Selbsterhaltungstrieb zur Mitwirkung gedrängt haben, so könnte vollends den Zeitungsherausgebern, die von der Schlachtbank Pauschalien bezogen, höchstens der Abort der Hölle aufgetan sein. Desgleichen natürlich den Kriegslyrikern, die nach den Flügelschlägen des Doppelaars skandierten und sich vom Motiv eines Minenvolltreffers, eines russischen Sumpftodes oder auch nur eines Gurgelbisses anregen ließen und nun in derselben Anstalt, in der sie eben noch an Habsburgs Herrlichkeit geschafft haben, mit derselben Bereitwilligkeit schon die Dokumente der österreichischen Galgenjustiz bearbeiten. Auch den Jugendbildnern, die durch einen den außerordentlichen Verhältnissen angepaßten Unterricht die Kinder auf den Tod durch herumliegende Handgranaten vorbereitet hatten, würde leider keine andere Gelegenheit zum Nachdenken über der Zeiten Wandel offen stehen, und sie ist hoffentlich geräumig genug, um sie alle zu fassen, die dem Gedanken gelebt haben, daß es schön ist, andere fürs Vaterland sterben zu sehen. Dieser allseits rekommandierte Heldentod, der nur manchmal in sonst unverständlichen amtlichen Kundmachungen als die höchst zulässige Strafe für Hinterlandsvergehungen deklariert wurde, während die Kriegsanleihe nie als schlechtes Geschäft eingestanden erschien, hat nach dem Hingang eines Vaterlands, dem wir nicht nachtrauern, an Tragik gewonnen, und so belebend der Verlust dieses Staats eintrat, er hat den Schmerz unserer Erinnerung zur Qual gesteigert. Denn der Heldentod war ein Betrug jener, die ihn gefordert, vorbereitet, herbeigeführt oder gepriesen haben. In den Tod betrogen werden — das war das ausgesuchte Schicksal solcher, die an Österreich geglaubt oder sich gegen Österreich nicht gewehrt hatten. Kann ein Staat ein grauenvolleres Andenken hinterlassen als das Gefühl derer, die heute wissen, für welchen Haufen von Unrat sie ihre Liebsten verloren haben? Kein Mittel gibt es, diese Verzweiflung zu beschwichtigen, und es hilft weniger, von ihr zu schweigen als von ihr zu sprechen. Sie und nicht die Not allein wirkt an der Unruhe dieses Übergangs. Ein Massenselbstmord der Schuldigen könnte ihn erleichtern. Daß sie mit jenen, die sie beraubt und beschmutzt haben, über die reine Schwelle wollen, schafft dies Gedränge, das die neue Macht allein nicht bändigen kann. Nicht die Autorität der Scham und keine andere weist sie aus dem Leben. Denn die Charakterluft dieser Bevölkerung, deren vertretende Typen mit Recht sich gegen Generalisierung wehren, weil hier alles auf Vereinzelung hinausläuft und selbst die tragische Quantität nur als die Häufung einzelner Trauerfälle empfunden wird, läßt keinen Zusammenschluß zu, nach jenem, den die Befehlsgewalt zum Mord vermocht hatte. Dem durchdringendsten Wehruf wird es nicht gelingen, das Ensemble der Sühne aufzustellen. Die Unfähigkeit zur Konsequenz, die völlige Negation auch jener letzten Menschlichkeit, die eine Untat verantworten könnte, ein Bewußtsein, das höchstens zu dem Geständnis reicht, daß es ein anderer getan hat — wenn nicht die Zeit ein Wunder vermag, in dieser Wüste des Empfindens grünt keine Hoffnung! Ist es nicht ein Sinnbild dieses Exitus, daß in einer Zeitungsspalte — unter dem Titel »Eine berechtigte Klage« und nicht als Bitte an den Kosmos um ein Erdbeben — mitgeteilt wird, daß hierzulande die Kriegsblinden gefrozzelt werden, und daneben von der Großmut der Kohlennot berichtet wird, die gestattet hat, die Operettentheater zu eröffnen, damit die Konsortien zur Verwertung Schubertscher Unsterblichkeit nicht im Geschäft behindert seien. Die Schande geht am Tage bloß und drängt sich nach Kaffeehausschluß an jener Ecke der Kärntnerstraße zu einem sinnlosen Rudel von Böcken, die nichts hienieden zu tun haben, als sich durch gegenseitiges Anstarren zu vergewissern, daß sie alle da sind. Das Schulter an Schulter unseligsten Andenkens hat sich in der Sitte verewigt, Arm in Arm zu sechsen das Trottoir abzusperren und durch eine Fröhlichkeit, die der siegreichen Welt zur Revanche eine Haxen ausreißen will, über die wahren Sachverhalte hinwegzutäuschen. Das jubelt, nicht weil es Österreich nicht mehr gibt, sondern wiewohl es Österreich nicht mehr gibt, und ist eben darum verächtlich. Das Straßenbild dieser Menschheit ist nicht der Eindruck, der zur Versöhnung mit der Vergangenheit beitragen könnte: der Reue, in diesem Staat und in dieser Zeit geboren zu sein. Vielmehr setzt es bloß die Serie der Kriegsbilder fort und bietet noch immer den Anblick des gruseligen Hinterlands, das den Tod an der Front vom Hörensagen kennt und nur als die Gelegenheit erlebt, daß sich alle untereinander auswuchern können und alle zugleich bettelarm und steinreich wären, wenn es nicht doch schließlich einem Haufen von bessern Schiebern gelänge, stolz und mit dem Zahnstocher im Maul durch ein Krückenspalier von Bettlern und Helden hindurchzuschreiten. Unverändert bleibt sie die Stadt der Individualitäten, die durch nichts als durch die Taten ihres Selbsterhaltungstriebes den Anspruch auf ihr Dasein, ihr Dabeisein und ihr Bemerktwerden erbringen. Diese wesenlose Konsistenz ist der Nährboden einer Gerüchthaftigkeit, deren Bazillen mit Händen zu greifen sind und die hier den eigentlichen Ersatz für die Verantwortung bildet. Die Anonymität alles Geschehens hat hier die Kraft einer Beglaubigung, die der Persönlichkeit unerreichbar wäre. Die Verbindung mit den Kriegsgreueln, die den Krieg übertreffen haben, wird durch diese Lebensart leicht hergestellt. Das sonst unfaßbare Maß der militärischen Willkür wurde von einem Triebe aufgefüllt, der die eigene Freiheit nur darin erlebt, daß er die Freiheit des andern zum Spielball seiner Schadenslust, seiner Ranküne, seines Betätigungsdranges macht. Wie die reichsdeutsche Bevölkerung aus Pflicht zum Belogenwerden dem Krieg nachgeholfen hat, so die unsrige aus Hetz. Was sich einer nur dann vorstellen kann, wenn es ihm selbst geschieht, und was er nicht will daß ihm geschehe, das fügte er dem andern zu. Alle Mächte gefahrloser Anonymität waren in einer Zeit aufgeboten, deren Element die Gefahr war. Anonym war alles an dieser vierjährigen Schand- und Standjustiz, deren Deliriumswitz den Heldentod zugleich als Glorie und Strafe genehmigt, anonym wie die Waffe, die nichts ist als der maschinelle Ersatz für Mut und die maschinelle Vermehrung der Leiden, war das Mittel, um auch den Untauglichen in die Gelegenheit zu einem Bauchschuß, zu einer Erblindung, zum Tod für dieses unnennbare Vaterland zu bringen. Es brauchte bloß einer sich hinzusetzen und über einen, der seinen Gruß nicht erwidert, seine Bitte um Geld nicht erfüllt oder tatsächlich seine Ansicht über die sogenannten Katzelmacher oder über den U-Bootkrieg nicht geteilt hatte, im Namen des Vaterlands, nicht im eigenen Namen, eine Zuschrift an die Kriegsüberwacher zu richten. Frauen, die die Machtbüberei nicht in die Front verdammen konnte, gab sie gern einen Reisepaß, um ihnen den blödsinnigen Tort der »Kontumaz« anzutun, und in der Schweiz unterhielt sie ein Elitekorps von Kellnern und Konsuln, die für die Mitteilung über verdächtige Bewegungen österreichischer Staatsangehöriger, wie etwa Englischsprechen, nach dem Einlauf entlohnt wurden. Jeder, der nicht im Krieg war, war ein Kriegsüberwacher, ob er dazu in einem Amt saß oder bloß eine Meinung hatte, die er anonym zu Papier brachte. Das Schwelgen in der Kriegmaterie war so echt, daß der heutige Überdruß nicht das Format der reuigen Erkenntnis, sondern nur die Gebärde jenes Abwechslungsbedürfnisses hat, dem es zu fad geworden ist. Was fängt man mit dem angebrochenen Krieg an? Revolution. Auf der Szene dieser tragischen Operette stand ein Reigen, der im Vollbewußtsein seiner Unverantwortlichkeit die Russen und die Serben in Scherben hauend oder schon in Venedig einziehend, »wo die Gipsstatuen und Bilder sein«, sich vom höchsten Unwürdenträger zum letzten Extraausgabenrufer schlingt, vom Zeitungsbesitzer zur Soubrette, die dem Publikum mitteilt, daß soeben 40.000 Feinde am Drahtverhau verblutet sind. Es schlingt sich weiter. Larven und Lemuren einstiger Mehlspeisgesichter erkennen sich und markieren ein Leben, dem die Plakate, die keine Spielverderber sind, durch einen Veitstanz aufhelfen. Und dennoch hat er nicht die überredende Macht dieses einen sinnenden Antlitzes, das mit der Frage »Bist du’s, lachendes Glück?« alle Pforten einer Welt aufriegelt, in der Hunger, Grippe und Geld keine Rolle spielen; es ist Meister Lehars ... Antinikotin siegt noch immer, und es ist gut so, weil es darin hors concours ist. Ganz wie’s denn auch eintraf, fliegen in der Luft Russenlebern und Serbenohren herum und sonstige Bestandteile der Entente, während sich einer von den Unsrigen, von den Eigenen, von den Braven, hopsdoderoh, freut, weil ihm so etwas, dös is gscheit, erspart geblieben ist. Was da scheinbar an die Wand gedrückt ist, freut sich seines und unseres Daseins und ist springlebendig wie eh und je. Aber auch die schweigenden Gestalten haben eine Eindringlichkeit, der man sich nicht so leicht entzieht. Jenseits allen merkantilen Zwecks leben sie um ihrer selbst willen und locken den Passanten nicht an die Ware, sondern zu sich selbst. Es behielt sie nicht; wer durchhielt, hat sie nicht verloren und der Heimkehrer findet sie wieder. In den Alpen sind Leichenberge entstanden, aber das Ponem jenes Elementargeists, der sich »Homunculus« nennt, ist noch da und überschattet mit nachdenklichen Wimpern die Melancholie der Zeit. Und zu denken, daß man, von der Außenwelt abgesperrt, unter dem Blick des Lysoformjüngels leben und sterben wird! Es entschädigt. Kaiser und Könige haben ihre Zugkraft eingebüßt, aber jener, gigantischer denn je, schmunzelt heute im Bewußtsein seiner Unentbehrlichkeit. Konträr, jetzt präsentiert er sich erst wie das letzte Reichskleinod. Hat das nicht alles, in seiner unqualifizierbaren Modernität, irgendwie zu Habsburg gehört? Nichts derlei ist verschwunden. Nyari Jozsi geigt es einer leibhaftigen Gräfin ins Ohr und Macho — haben Sie schon Macho gehört? — steht in riesenhafter Einsamkeit, umgeben von Szegediner Hieroglyphen und neudeutschen Farbenwundern und sagt nichts als: »Waren Sie schon im K.W.K.?« Aber das bedeutet nicht mehr das; denn das gibts nicht mehr. Das A.O.K. gibts auch nicht mehr; es bedeutet aber auch nichts anderes. Die Schrecken, die unendlich schienen und in den abgekürzten Namen dieser Blut- und Wucherzentralen noch allen Ekel der Zeit draufgaben, sind nicht mehr. Abgekürzt bis zur Anonymität waren uns das Leben und der Tod, und der letzte Mann, bis auf den gekämpft wurde, sitzt im KM. und nennt es jetzt StAFHW. Anonym war alles und selbst die führenden Persönlichkeiten waren anonym. Der Generalstabschef war nur sein Stellvertreter, der Stellvertreter des Generalstabschefs, der den Bericht signierte, las am Abend in der Zeitung, daß an der Front nix Neues sei, und unbeteiligt wie nur Gott an diesem Grauen waren die Heerführer, die durch vier Jahre, Mann für Mann, ihr Konterfei in einem Theaterrevolverblatt an der Stelle vorführen ließen, wo im Frieden die Fritzi-Spritzi anläßlich ihres Sprungs vom Brettl auf die Bretter von Ödenburg abgebildet war. Anonym ist dieser Höchstkommandierende durch die Blutzeit gestapft, mit dessen Namen der Schauder einer organisierten Lynchjustiz verknüpft bleibt und die Vorstellung einer Unersättlichkeit der Gewalt, neben welcher der Nero als der erste Missionär des Christentums erscheint. Und doch blickt uns und bleckt uns ein Lulatsch an, der bei einem Hoch auf den obersten Kriegsherrn nicht bis drei zählen konnte und wenn ihm das Malheur geschah, daß das dritte Hoch auf der nächsten Seite des vorgelesenen Toastes stand, umblättern mußte, um es darzubringen. Wie sollte er bis zu jenen 11.400 Galgen zählen können, die in seinem Namen errichtet waren? Wie ein zum Greis gepäppelter Säugling, der zu Taten gekommen ist und weiß nicht wie, lächelt er und weiß nur von Milch, nicht von Blut. Wird die Stille seiner Mordzentrale von vollbusigen Skandalen unterbrochen, die einen in der Weltgeschichte einzigen Zusammenhang zwischen der pragmatischen Sanktion und den Pschüttkarikaturen offenbaren, so stutzt man, führt auch dies auf einen infantilen Gusto zurück und denkt, daß für diese Komplikation zwischen dem Sterben der Menschheit und dem öffentlichen Privatleben ihres Befehlshabers wieder nur eine Umgebung verantwortlich ist, die nicht rechtzeitig die Erinnerung verhinderte, wie viel Grazie die Guillotine beseitigt hat und daß einmal ein König war, der wegen einer Lola Montez unmöglich wurde. In unserer Monarchie war die Weltgeschichte nicht einmal ein Exekutionsgericht, denn ein solches hat sich an die von dicker Freundschaft behüteten, an der strafgesetzlichen Ehrfurcht beteiligten Monstren nicht gewagt, Statthaltereiräte unterhandelten über die Abfindungssummen und erwirkten nur durch den Hinweis auf Polizeischub eine Ermäßigung, und Revolution bedeutet hier, daß im Gerichtssaal unappetitliche Briefe erörtert werden können und deren beneidete Besitzerin das Wertobjekt in journalistischer Obhut gesichert weiß. Und im Hintergrund der Aktion diese kriegerische Erscheinung, vor deren Tatenruhm Napoleon als der erste Defaitist erscheint. Darin wahlverwandt und verbündet mit jenem Barbarenkaiser, dem wahren Imperator der geistigen Knödelzeit, der keine Quantität unberührt lassen konnte und dazu seinen eigenen Schenkel klatschend schlug und sein gröhlendes Wolfslachen ertönen ließ — so lachte der Fenriswolf, als die Welt in Flammen aufging. Zwischen assyrischen Backsteinen und Generalstabskarten, zwischen aller Halbwissenschaft, die das stundenlang stehende Gefolge peinigte, immer wieder mit obszönen Scherzen um Formen kreisend. Sich weidend an der Verlegenheit, wenn er, auf der Jagd oder beim offiziellsten Anlaß, durch einen Schlag auf den Rücken, durch einen Tritt ins Bein, durch eine Frage nach seinem Sexualgeschmack den Partner überrascht hatte. Mit Ferdinand von Bulgarien entzweit, dem es in die Nase gestiegen war, daß er ihn einst ganz wo andershin gekneipt hatte. Das waren die Blutgebieter. Der eine im Format dem öden Sinn dieses Weltmords gewachsen, verantwortlich für die Tat; der andere mit ahnungslosem Behagen in der Wanne eines Blutmeers plätschernd. So verschieden beide, dennoch Busenfreunde, sich begegnend in einer Kennerschaft, zum Austausch feinschmeckerischer Wahrnehmungen, wenn’s die Formen der Germania und der Austria betraf, in einem Seufzer über den Wandel der Zeiten. Wohl, nie dürfte man an dem lebendigen Leib, und wenn ihn ein Königskleid umschließt, Wünsche und Irrungen der Nerven darstellen. Sie sind Privatmenschlichkeit, solange das beteiligte Bewußtsein nicht erloschen ist, und gehören nur den Memoiren, um den Umfang der Persönlichkeit zu zeigen, wie Napoleons Zeitvertreib, der sie nicht entwertet und nicht die Zeit. Hier aber tritt es, wie es leibt und lebt, aus der Kriegsgarderobe gleich in die kulturhistorische Erscheinung, weist auf die Quantität der Zeit, in Freuden und Leiden; und hier war das Miterlebnis der selbstherrliche Mangel an Hemmung und Würde, der das Übel protokolliert, der das Bewußtsein, von solchem Minus regiert zu sein, zur stündlich empfundenen Qual macht und das Wissen um die niedrigste Lebensart, die an höchster Stelle sich auslebend der leidenden Menschheit spottet, zur Mitschuld. Maitressen und Hausmeisterinnen konnten sich über den intimsten Einfluß unterhalten, wenn die wehrlose Mannheit sich ans Ende aller Lebenslust zerren ließ, geweihte Bündnisse reiner Herzen blutig zerrissen wurden und Unschuldige in der letzten Stunde vor dem Galgen nach einem Gnadenblick bangten. Das alles haben wir gewußt. Es war anonym, der Täter unschuldig wie die Opfer. »Sehn S’«, sagt dieser Schlachtenlenker einmal, »jetzt is in Serbien gut gangen. Wissen S’, ich hab halt dem Kövesch g’sagt, Sie Kövesch, hab ich ihm g’sagt, des dürfen S’ net so machen wie der Potiorek. Schön langsam, schön langsam, nix überstürzen. Sehn S’, er hat meine Pläne befolgt — und nacher is’ gangen.« Einem ist ein Angehöriger im Feld gestorben; jener fletscht die Zähne und fragt: »Ihr Bruder is g’fallen?« »Jawohl, kaiserliche Hoheit.« »Das is a Pech.« Oh, er hat selbst einmal Soldaten fallen gesehn, einen nach dem andern, im Kino des Hauptquartiers, neben Ferdinand von Bulgarien. Kein Laut im Saal. Nur eine Stimme in der ersten Reihe, nach jedem der zwanzig Bilder, die Mörserwirkungen vorführen: »— Bumsti!« Gleich darauf erschienen Rektor, Dekan und Prodekan aus Wien und machten ihn zum Ehrendoktor der Philosophie. Bumsti! So animalisch empfindet sich der Krieg selten. »Sacrebleu!« aus dem Munde eines romanischen Strategen würde doch der Bravour des Apparats gelten. Menschenleiber fallen: Bumsti! Der da spürt das Ergebnis. So nehmen wir andern das kinodramatische Ende Österreichs entgegen. Bumsti! ... Sollte es nicht nach der Quantität dieser Kriegshandlung, im dimensionalen Geschmack ihres führenden Geistes, im Sinne dieser ganzen Gefühlsmechanik unseres Lebens und Sterbens, der Titel des großen tragischen Karnevals sein? Dieser schwarzen Messe, die ein gedunsenes Gespenst zelebriert hat? Bumsti! — das war der einzige Lebenslaut aus einem Munde, welchem Dokumente des Generalstabs den Wunsch zusprechen, daß bald auch das ganze Hinterland in Blut ersaufe. Man hatte ihm erzählt, daß die Tschechen Hochverräter seien, und nun schrieb eine fleischige Geisterhand an den Kaiser. Es floß Blut in Katarakten und es sollte noch mehr Blut fließen, weil diese Menschen gar nicht lebten. »Was sagen S’, Österreich is hin?« »Jawohl, kaiserliche Hoheit.« »Das is a Pech.« Dann zwinkert er freundlich durch den Zwicker und weiß nicht, wie ihm geschieht; erwartet ein Zwickerl, dort wo die Mördergrübchen sind. Zeig ihm die Uhr der Ewigkeit — es hilft nicht, er wird sie in den Mund nehmen. Schöne Gschichte diese Weltgeschichte. Zwischen einem Blutsäugling und einem Lemur bestand eine unterirdische Verbindung und anonym war alles. Es gelang nicht immer, denn es gibt Tage, wo auch die Lemuren a Ruah haben wollen, es war ja auch so sehr schön und hat uns sehr gefreut. Wo ohnedies kein Leben ist, da kann man halt nix machen. Es war doch alles unwirklich, Österreich das Weiland seiner kaiserlichen Hoheit.