Oktober 1916
Tagebuch1
Ein Kind sah in einer illustrierten Zeitung ein Bild, das hieß »Gebet während der Schlacht« und stellte dar, wie Soldaten mit traurigem Gesicht, den Blick zur Erde gesenkt, in Reih und Glied stehen. Das Kind, welches noch nicht lesen aber noch sehen konnte, fragte nicht, was das sei, sondern, weil es sah, daß es etwas Trauriges sei, begann es zu weinen und weinte und war gar nicht zu beruhigen. Man redete ihm zu, brav zu sein und nicht zu weinen. Doch es weinte und um den Grund befragt, gab es schluchzend die Antwort: »Wenn man — so etwas — schon tun muß, so soll — man es — doch nicht — auch noch — aufzeichnen —« ...
Es gab solche, die anderen die Gurgel durchbissen. Man nannte sie brav ...
Da lag einer, dem das Gehirn herausquoll. Er atmete noch und sein Kopf beugte sich zum Sterben. Es war ein Genrebild. Einer, der es sah, nahm schnell seinen Apparat und knipste. Jener aber schlug den letzten Blick auf ihn, und es war, als ob er für diesen Moment bewußt würde und nun aus der versinkenden Welt solche Zeugenschaft hinübernehmen sollte. Von dort aber nahm er die ewige Verdammnis und brannte sie in diesen Rest von Leben unter ihm, der vor ihm stand und ein Apparat war. Der Blick schien endlos in Verachtung. Der Apparat aber, als er es getan, ging seines Weges, und jene, welche die Genreszene gesehen hatten, stumm mit ihm, und es schauderte sie. Er trug das Andenken fort; sie aber sahen nur den Blick und tragen ihn fort ihr ganzes Leben lang.
Vgl.: Die Fackel, Nr. 462-471, XIX. Jahr
Wien, 9. Oktober 1917.
- Nach Konfiskation erschienen im Oktober 1917↩