November 1917
Franz Janowitz1
Ich könnte diese Vorlesung nicht abhalten und nicht beginnen, ohne eines jungen Freundes zu gedenken, der heute in diesem Saal zu sitzen so sehr gewünscht hat. Er ist daran verhindert worden. Denn er ist als eins der Millionen Opfer, aber als eines der teuersten, dieses feigen Meuchelmords, zu dem sich die Menschheit verurteilt hat, am 4. November seinen Wunden erlegen. Nach meinem edlen Franz Grüner, der, glücklicher, durch die Entscheidung einer Sekunde hingerafft wurde, hat nun auch dieses seltene Herz zu schlagen aufgehört und das schmale Feld meines menschlichen Umgangs, so furchtbar in das weite Feld der Unmenschlichkeit einbezogen, ist nun recht verödet, seit mir auch dieser Lichtpunkt erloschen ist. Versuchte ich die geistige Luftlinie zu ziehen zwischen den Bestrebungen jener Vampyre, die noch mehr Blut, heute noch, wollen, und dem allerstillsten, allerehrlichsten Leben dieses jungen Dichters, der, nicht zum Landsknecht geboren, durch vier durchgerackerte Jahre sein mildes Herz trug und in Schützengräben das Geheimnis der Jahreszeiten und die Unbegreiflichkeit dieser Menschenzeiten gefühlt hat — versuchte ich diesen Kontrast durchzudenken, ich würde, selbst ich, unter dem Unmaß der Empfindungen zusammenbrechen! Hätte die Staatsweisheit dieser Welt nur so viel Vorstellungsvermögen gehabt, zu erkennen, daß die Erhaltung des wertvollsten Menschengutes wichtiger sei als die Bereithaltung des Menschenmaterials, sie wäre andere Wege gewandelt. Da aber dieser wahrhaft Unschuldige ein reiner Dichter war, so war er zwar zum Landsknecht verurteilt — aber ein Literat zu werden, dazu hat ihn selbst ein Leben der Not und der Blick auf den Tod nicht vermocht! Je mehr solcher wenigen unbefleckbaren Seelen mir entrückt werden, die das Sterben im Krieg dem Schreiben für den Krieg vorgezogen haben, um so inbrünstiger wird meine Verachtung für jene, welche sich der Glorie verschrieben haben, um ihren Begleiterscheinungen zu entgehen; welche die ihnen vergönnte Selbstrettung durch die Propaganda für den Tod der Wertvollem erkaufen müssen: und keiner von ihnen möge auf den Frieden hoffen, weil ihm der vielleicht die Chance bringt, daß ich dann seinen Gruß auf der Straße erwidere. Nie wird für mich alles vorbei sein! Franz Janowitz war einer von den andern, deren Verbannung in das Grauen mir keinen Augenblick dieser bangen Zeit unvorstellbar gewesen ist; deren Wehrlosigkeit wie ein Gebot zur Rache vor meiner Seele stand und mich verpflichtet hat, unter dem Druck der herzlähmenden Kontraste eben noch nach dem Ausdruck für Schmerz und Schmach dieser Gegenwart zu ringen. Ich hasse diese, und ihn habe ich geliebt. Sein Andenken sei geheiligt! Es werde in einem Band Gedichte bewahrt, den der mühselige Rest seines jungen Lebens als Ruf der Sehnsucht hinterlassen hat. Ihn mit irgendwelchem Miß- und Neugetöne einer sogenannten jungen Generation konfrontieren zu wollen, wäre sündhaft. Wenn ein Mensch so echter Art auch sterben mußte, es genügt, daß er gelebt hat, um es mit einer ganzen Richtung von Betrügern und Naturverrätern aufzunehmen. Nach jener Zeit, da ich um mich noch Raum zur Förderung, zur Förderung des Verrats an mir hatte, trat er zu mir, und war mehr wert als alle. Ich wartete auf sein Buch und mußte mich mit der Feldpost begnügen. Aus einem bescheidenen Heftchen, das er im Jahre 1913 nur widerwillig einer fragwürdigen Anthologie einverleiben ließ, ertöne nun seine Stimme, so leise, so tief. Mögen jene unter meinen Hörern, die in der Sprache ein Menschenantlitz zu erkennen vermögen, den Verlust ermessen, den sie durch den Tod eines Unbekannten erlitten haben.
Es gäbe eine Sühne für alle Kriegsdichtung von vier Jahren. Wenn sie sich in ihr Nichts auflösen wollte angesichts dieses erhabenen Heldengedichts, das in Form einer Feldpostkarte an die Familie des Verstorbenen gelangt ist:
K.u.k. Feldspital 1301 am 6./11. 1917.
Hochgeehrter Herr!
Erlaube mir mit zitternder Hand mitzuteilen, daß mein Herr Leutnant Janowitz den 4. November seinen Wunden erlag.
Mir wurde trotz meines Bittens nicht erlaubt, mit seinen Sachen zu Euch zu kommen.
Hab wohl viel Thränen vergossen für den H. Ehre seinem Andenken. Mein innigstes Beileid. Gott hat es gewollt. Ich komm wieder zur Kompagnie.
Sein tr. Diener
Josef Greunz.
Und angesichts dieses Dokuments: Eine Karte, die ich dem Verwundeten geschrieben hatte — zur Beantwortung eines Telegramms brauchte das Feldspital sechs Wochen — und die nach seinem Tod einlangte, ist später mit dem folgenden Vermerk zurückgekommen:
Abgeschoben. Aufenthalt unbekannt.
»Wie sehr ich wieder Liebe zu der Klasse von Menschen gekriegt habe, die man die niedre nennt, die aber gewiß vor Gott die höchste ist! Da sind doch alle Tugenden beisammen, Beschränktheit, Genügsamkeit, gerader Sinn, Treue, Freude über das leidlichste Gute, Harmlosigkeit, Dulden — Dulden — Ausharren — —.«
Goethe an Frau v. Stein 1777.
Vgl.: Die Fackel, Nr. 474-483, XX. Jahr
Wien, 23. Mai 1918.
- Gesprochen am 18. November 1917.↩