Da kann es denn
Da kann es denn, wenn hunderttausend serbische Leichen am Kriegsbeginn von einem Walten österreichischer Degenerale und progressiver Eroberer zeugen, denen das Anführen der dritten reitenden Artilleriebrigade geringere Schwierigkeiten gemacht hat als das Aussprechen derselben und die nachgewiesenermaßen eine bloßfüßige Infanterie in den Tod gejagt haben — da kann es denn passieren, daß sich ein Jockeyklubpräsident findet, der das Andenken Österreichs gegen den gelinden Vorwurf »Austrian Brutalities« verteidigt. Ein aus jener Zeit jetzt in London produzierter Armeebefehl sei »höchst wahrscheinlich apokryph«, aber selbst, wenn er authentisch wäre, »ein unerläßliches Gebot einer rationellen Kriegführung«. Diese rationelle Kriegführung, deren strategisches Ziel jenes Geburtstagsgeschenk für Franz Josef war, dessen Freude kaum den Geburtstag überlebt hat, war unter anderm durch den Gebrauch ausgezeichnet, Greisen, die im Verdacht standen, ein Gefühl für ihre Nation zu haben, eine Todestagsfreude zu bereiten, indem man sie, nach deutschem Vorbild, einlud, ihr eigenes Grab zu schaufeln — also eben das zu tun, was damals Österreich getan hat, ohne leider mit sehenden Augen dazu verurteilt zu sein. Diese Sitte und die Einteilung, daß in den ungarischen Serbenlagern täglich etliche Hundert an Epidemien, Hunger und Nachhilfe durch Kolbenschläge starben — man kann sie aus der Gruft der Reichsratsprotokolle die rationelle Kriegführung der Honveds berufen hören —, läßt ein anderes Faktum geringfügig erscheinen, das jetzt eben in London beklagt wurde, einen gemütlichen Brauch, durch den die österreichische Autorität ihren Familiensinn bekundet hat, indem sie nämlich die Angehörigen der Verurteilten einlud, bei deren Hinrichtung anwesend zu sein. Der Jockeyklubpräsident — es ist jener Botschafter a.D. Heinrich Graf Lützow, dem die Verwechslung mit dem verstorbenen böhmischen Historiker gleichen Namens fast so unangenehm war wie diesem — nennt die Erwähnung jenes Brauchs eine »alte Legende«, von deren Unwahrheit er aus dem einfachen Grunde tief durchdrungen ist, weil sie »ungezählte Male von der kompetentesten Stelle dementiert« wurde. Was ganz richtig und ebenso bekannt ist wie die Dementia der kompetentesten Stelle. Zum Glück stellt sich dem Mann, der die Aufgabe übernommen hat, das letzte was uns geblieben ist, nämlich die Ehre des Generals Potiorek zu verteidigen, ein treffendes Zitat ein, durch das der Sachverhalt einfach klargestellt wird. Ausdrücklich sei also jene Legende dementiert worden, »aber der alte Spruch ist ewig wahr: Calumniare audacter, semper aliquid haeret!« Wie wahr der alte Spruch ist, zeigt sich überhaupt erst im Falle Österreichs: die Feinde haben es tapfer verleumdet, es ließ sich aber in seiner rationellen Kriegführung nicht stören und, siehe da, immer blieb etwas hängen. Ob aliquid oder aliquis, war ihm ganz wurst, da bekanntlich ein alter Spruch lautet: Caesar supra grammaticam. Noch ein anderes Zitat fällt dem Grafen Lützow zum Glück ein, nämlich: »Tout est perdu hors l’honneur«, was ich aber nicht etwa übersetzen würde: »Das einzige, was wir besitzen, ist die Ehre«, sondern schlicht: »Wir haben alles verloren«. Dagegen haben wir zweifellos die Eigenschaft der Gerechtigkeit uns erhalten können, denn der Graf Lützow stellt die Frage: »Können denn im heutigen England die eigenen und die fremden Handlungen niemals mit dem gleichen Maße gemessen werden?« Das ist aber gar keine Frage, sondern einfach eine Antwort, die unter der Aufschrift gedruckt werden müßte: »Ungerechtigkeit in England«, was noch heute so erfreulich wäre wie »Hungersnot in Frankreich«. Denn: »Wir« — der Graf Lützow setzt das Wort in Sperrdruck — »stehen auf dem Standpunkte, daß der wehrlose Feind aufhört ein Feind zu sein«. Wir ja, die andern natürlich nicht; noch heute stehn wir auf dem Standpunkt, wo wir keinen wehrlosen Feind mehr haben, wohl aber die Möglichkeit, von dem Millionengeschenk der italienischen Gefangenen an uns weiter kein Aufhebens zu machen. »Den Schimpf einer unmenschlichen Haltung während des Krieges weisen wir mit Verachtung zurück«, ruft Lützow und ahnt gar nicht, wie recht er hat, und um so mehr, als ja die Verprügelung italienischer Soldaten auf den Bahnhöfen von Wörgl und Linz erst nach Abschluß des Waffenstillstandes erfolgt ist.
Wir haben aber während des ganzen Krieges englische Trainer und Jockeys ungestört ihren Beruf ausüben lassen und last not least bei Stone & Blythe eingekauft. »Wo bleibt da die ›Austrian Brutality‹?« fragt der Graf Lützow, der nun einmal aus dem Weltteil zwischen Jockeyklub und Hotel Bristol nicht nur eine Weltanschauung, sondern auch die Vorstellung der Ereignisse schöpft, die sich in den umgebenden Partien Europas gleichzeitig abspielen mögen. Von der Hinrichtung Battistis scheint er zu wissen; nimmt aber allen Einwänden sogleich die Spitze: »Ob die Hinrichtung Battistis, der eidbrüchig unter den Reihen unserer Gegner kämpfte, eine staatskluge Handlung war, mag dahingestellt bleiben ..., aber schließlich erhielt er für die vollzogene Handlung die gleiche Strafe, die Sir Roger Casement für die bloße Absicht zuerkannt wurde. Können denn im heutigen England die eigenen und die fremden Handlungen niemals mit dem gleichen Maße gemessen werden?« Dann allerdings nicht, wenn die Handlungen verschieden sind. Denn abgesehen davon, daß Casement von einem Gerichtshof zum Tode verurteilt und hierauf erschossen worden ist, während mit Battisti der kürzere Prozeß gemacht wurde, indem man ihn gefangen und aufgehängt hat, nachdem man ihn allerdings noch zur Verschärfung der Todesstrafe gezwungen hatte, die österreichische Volkshymne stehend anzuhören, dürften bei der Hinrichtung Casements, die England wohl als eine furchtbare Kriegsnotwendigkeit betrachtet, aber nicht als Kirmes gefeiert hat, kaum amtliche Photographien hergestellt worden sein. Bilder, die nicht nur eine Galgenprozedur, sondern auch die bestialische Assistenz als Triumph verewigen, Bilder, die einen strahlenden Henker im Kreise animierter oder verklärt blickender Offiziere zeigen, dürften selbst in der Heimat der farbigen Engländer schwerlich aufgetrieben werden. Ich aber möchte einen Preis aussetzen auf die Agnoszierung des schäbigen Klotzes von einem k.u.k. Oberleutnant, der sich direkt vor den hängenden Leichnam gestellt und seine aussichtlose Visage dem Photographen dargeboten hat, und auch jener dreckigen Feschaks, die heiter wie an der Sirk-Ecke versammelt sind oder mit Kodaks herbeieilen, um nicht nur in betrachtender, nein in photographierender Stellung auf das Bild zu kommen, in dem der sogenannte Seelsorger in der Runde von hundert erwartungsvollen Teilnehmern nicht fehlen darf. Es wurde nicht nur gehängt, es wurde auch gestellt; es wurden nicht bloß die Hinrichtungen photographiert, sondern auch die Betrachter, ja sogar noch die Photographen. Und der besondere Effekt unserer Scheußlichkeit ist nun, daß jene feindliche Propaganda, die statt zu lügen einfach unsere Wahrheiten reproduziert hat, unsere Taten gar nicht erst photographieren mußte, weil sie zu ihrer Überraschung unsere eigenen Photographien von unseren Taten am Tatort vorgefunden hat und uns »als Ganze« all in unserer Ahnungslosigkeit, die nicht spürte, daß kein Verbrechen uns so vor der Umwelt entblößen könnte wie unser triumphierendes Geständnis, wie der Stolz des Verbrechers, der sich dabei noch aufnehmen läßt und ein freundliches Gesicht macht, weil er ja eine Mordsfreud hat, sich selbst auf frischer Tat erwischen zu können. Denn nicht daß er getötet, auch nicht daß er’s photographiert hat, sondern daß er sich mitphotographiert hat, ja daß er sich photographierend mitphotographiert hat — das macht seinen Typus zum unvergänglichen Lichtbild unserer Kultur. Wenn den Grafen Lützow die Zeit- und Landsgenossenschaft der Kujone, die den Hinrichtungen der Italiener Battisti und Filzi bis zum Schluß beigewohnt haben, sympathisch berührt und wenn er nicht im Gegenteil findet, daß diese für ein k.u.k. Kriegsarchiv gestellten Gruppen das Andenken Österreichs mit einem Schandfleck behaften, der in Äonen nicht untergehn wird, dann wiegt die Ehre, nicht Mitglied des Jockeyklubs zu sein, ein goldenes Vließ auf! Unsere Stellung vor dem Standgericht der Weltgeschichte macht ihm keine Skrupel.
Aber er hofft, daß die »Times« — er hat, wiewohl er ein Botschafter a.D. ist, »kein Mittel, um mit der Redaktion direkt zu korrespondieren« — seine Richtigstellung veröffentlichen werden, sobald sie davon Kenntnis erhalten. »Skeptiker«, setzt er hinzu, »werden über meine Naivetät lächeln.« Aber er kennt sein England und hat die Überzeugung, »daß die alte englische Tradition des Fair play auch jetzt nicht ausgestorben ist«. Ob er das als Jockeyklubpräsident oder nur als Diplomat hofft, läßt er unerwähnt. Ich nun bin so sehr Skeptiker, daß ich die Erwartung des Grafen Lützow nicht einmal für seine stärkste Naivetät halte. Der Gesinnung, die sich in dem vornehmen Bekenntnis des Chefs der englischen Militärmission in Wien ausgesprochen hat, »daß wir jetzt alle wünschen, die Greuel des Krieges zu vergessen und nicht an sie erinnert zu werden«, wäre auch zuzutrauen, daß sie dem humanen Zweck zuliebe noch die Wahrheit berichtigt. Und selbst dies ist wünschenswert, da der Menschheit augenblicklich nicht anders zu helfen ist als daß die Völker so schnell als möglich vergessen, was sie einander angetan haben. Aber sie würde den Fortschritt, den sie durch die Gnade erzielt, reichlich wettmachen, wenn sie es an Reue fehlen ließe, indem die Völker so schnell als möglich vergessen, was sie dem andern, und ganz besonders, was sie sich selbst angetan haben. Wehe uns, wenn wir Gnade üben wollten an uns selbst! Der Feind mag gegenüber einer Wiener Lügenzeitung, die ihm eine Anklage deutscher Grausamkeiten in den Mund gelegt hat, sich zum Wunsch bekennen, sie aus dem Gedächtnis zu tilgen. Aber wir dürfen es von ihm nicht verlangen, selbst wenn wir so naiv wären, sie zu bestreiten. Denn auf keiner Seite dürfte sich die Überschreitung der legitimen Ungebühr des Kriegslebens, die Verletzung völkerrechtlicher Normen, die selbst dem menschheitswidrigen Handel gesetzt sind, leichter nachweisen lassen, als auf der deutschen, weil hier ein ganzes Heer von journalistischen, literarischen und akademischen Tröpfen und Spitzbuben aufgeboten war, Söldner fremden Blutes, die mit derselben Feder, mit der sie den Vorwurf unmenschlicher Kriegführung auf die Feinde abzuwälzen hatten, ja auf demselben Papier, die Bombardierung von Krankenhäusern, Kirchen und Schulzimmern, die Torpedierung von Spitalschiffen, die Ehrung und Verklärung von Menschenjägern nicht nur beschrieben, sondern auch bejubelt haben. Die ständige Berufung auf das unschuldige Volk eines kriegsschuldigen Staates mag den Untertanen staatsmännischer Willkür, den Leibeigenen eines ruchlosen Generalstabs, ja selbst jenen helfen, die im Bann einer elenden Machtideologie Aufträge oder Fleißaufgaben des Mordes ausgeführt haben. Keineswegs hat die deutsche Intelligenz, welche wie die keines andern Landes, vom ersten Dichter bis zum letzten Reporter, vom ersten Völkerrechtsprofessor bis zum letzten Pastor, in der feldgrauen Materie gesiehlt, im fremden Bluterlebnis geschwelgt, ja vielfach von dieser Haltung ihre Existenz gefristet und durch den Claqueurdienst für Haudegen die eigene Unversehrtheit errungen hat, keineswegs hat die Barbarei der Bildung auch nur den geringsten Anspruch auf Mitleid, wenn sie die Strafe mitzuzahlen hat, und käme selbst ein Säkulum solchen Geisteslebens in wirtschaftliche Bedrängnis. Der Graf Lützow würde aber kein Glück haben, wenn er hier etwa die beiden Schultern voneinander trennen und die Anerkennung speziell unserer Menschlichkeit auf die Dokumente der österreichischen Kriegsbelletristik stützen wollte. Der Beweis würde auch da eher durch eine Verbrennung ganzer Zeitungsbibliotheken und Buchverlage zu erbringen sein. Der Schimpf, den seinesgleichen mit Verachtung zurückweist, ist nicht der unserer unmenschlichen Haltung während des Kriegs, sondern der des Vorwurfs, den man uns daraus macht. Wie sollten wir ihn verdient haben, da wir während des Kriegs doch eine Haltung angenommen haben, von der man die Gesetze der Menschlichkeit in künftigen Jahrhunderten erst ableiten wird. Daß wir dem Feind, der in unsere Gewalt geriet, in jeder nur möglichen Weise entgegengekommen sind, versteht sich schon aus dem Wesen des österreichischen Funktionärs. Wenn zum Beispiel die Okkupationsbehörde, in Betätigung ihres oft bewiesenen Familiensinnes, einmal in Montenegro Vater und Bruder eines obstinaten Menschen, der die Waffen nicht abliefern wollte und auf und davongegangen war, mit der Hinrichtung bedrohte, falls sich der Angehörige nicht binnen vierundzwanzig Stunden stelle, und den Bruder tatsächlich kaltgemacht hat, so ist dies durch eine rationelle Kriegführung, gegen deren Exekutoren der Geßler eben ein blutiger Dilettant war, hinreichend erklärt. Die Milde gegen den Vater ist ohnedies für eine Gemütsart, die mit sich reden läßt, bezeichnend. Die Rücksicht dem Feind gegenüber war aber auch immer gepaart mit einer Sorge für das Wohl und auch das Wehe der eigenen Mannschaft, die ja ein Ehrenkapitel im goldenen Buch unserer Kommanden bildet. Es ist außerordentlich lehrreich zu betrachten, wie nur in den äußersten Notfällen eine etwas strengere Tonart eingehalten wurde, wofür man gleich am Tag nach dem Auftreten des Grafen Lützow ein Beispiel erfahren hat. In Kragujevac — bekannt in der Weltgeschichte durch den Ruf »Krakujefaz eropaat!« — hatten 44 nach vierjähriger Kriegsgefangenschaft einrückend gemachte Heimkehrer am Abend ihrer Ankunft eine elende Menage — vermutlich aus der Küche des Leopold Salvator — vorgefunden und sich aus Wut darüber einen Rausch angetrunken, der sich zu einem wüsten Exzeß, ja sogar zu Beschimpfungen der Offiziere steigerte. Die Justifizierung beschreibt nun der folgende Bericht, der auf der Aussage des dazu kommandierten Arztes beruht: »... In zwei parallelen Reihen waren je 22 Gräber aufgeworfen, die Erschießung wurde in zwei Partien vorgenommen. Zur Durchführung dieser Exekution waren Bosniaken kommandiert, die auf zwei Schritt Entfernung zu schießen hatten. Den Bosniaken jedoch zitterten die Hände, als sie ihren Kameraden ins Gesicht schießen mußten, und sie schössen schlecht. Die erste Partie wälzte sich auf dem Boden, es war beinahe kein einziger tot. Da wurde der Befehl gegeben, den Opfern die Gewehrläufe an den Kopf zu setzen. Als alle Gehirne zu Brei zerschossen waren, kam die zweite Partie daran, und die gleiche Szene wiederholte sich noch einmal. Der Stellvertreter des Generalstabschefs, ein Oberstleutnant, der sich auch sonst damit brüstete, daß er vielen Serben die Lampe ausgelöscht habe, sagte nach der Hinrichtung beim Abendessen, als manche schüchterne Bedenken gegen den Prozeß geäußert wurden: er hätte auch 300, nicht nur 44 hinrichten lassen. Die Opfer waren beinahe alle Familienväter, und alle waren vielfach mit allen Graden von Tapferkeitsmedaillen ausgezeichnet. Sie sahen auch diesem letzten Tode ohne Scheu in die Augen, lautlos, ohne eine Miene zu verziehen, ohne eine Abwehrbewegung.« Selbst dem Armeeoberkommando, das bei Verfehlungen von Soldaten wohl Stockhiebe, aber nicht Verminderung des Menschenmaterials guthieß, soll dieses Beispiel einer Pflege innigeren Kontaktes mit der Mannschaft — zwei Schritte Distanz und noch weniger — zu stark vorgekommen sein und es soll sich zu der Auffassung entschlossen haben, daß jene Offiziere, die sich so weit einließen, offenbar zu den sogenannten Elementen gehörten, gegen die eine Untersuchung, wenngleich nicht abgeschlossen, so doch eingeleitet wurde. Allein den Schimpf einer unmenschlichen Haltung während des Kriegs weisen wir mit jener Verachtung zurück, die nicht den Mördern, sondern den Anklägern gebührt. Denn wir sind nun einmal die Sorte von Österreichertum, die, wenn im Hause des Gehenkten vom Strick geredet wird, jede andere Version als daß es ein Perlenkollier war, schon mit Rücksicht auf den guten Ton und auf die erwiesene Tatsache, daß sie keinem Huhn den Hals umdrehn könnten, in Abrede stellt. Wenn man uns sagt, daß wir uns wenigstens eine Zeitlang und nicht einmal aus Grausamkeit, sondern nur aus Feigheit, aus Phantasiearmut, aus Unverantwortlichkeit, aus der Abhängigkeit von Phrase und Mechanik, aus Reklamesucht und Wichtigmacherei, kurz aus allen möglichen Mittellagen des Charakters, nicht wie Menschen aufgeführt haben, so geben wir die Möglichkeit bloß »im Hinblick« auf den Umstand zu, daß wir ja eben die reinen Lamperln sind, oder mit dem resoluten Geständnis des Grafen Czernin: »Es hat sich gezeigt, daß vieles bei uns nicht so war, wie es hätte sein sollen«, womit er aber gewiß nicht auf unsere auswärtige Politik anspielen wollte. Und daß so etwas noch immer oder schon wieder laut werden kann, zeigt, wie unverbunden die neue Staatsform neben der alten Lebensform zu bestehen sich anschickt. Der Stolz auf das kurze Gedächtnis pflanzt sich gleichmütig vor der Vergangenheit auf, mit demselben Achselzucken, mit dem man den Krieg hindurch über die drohende Realität hinwegsah, geht man jetzt an der mahnenden Schuld vorbei, und ist die angenommene Unwissenheit ein guter Vorspann für ein leichtes Gewissen, so wird kein distinguierter Fremder mehr der Einladung »Fahr’ mr Euer Gnaden« widerstehn können, und es versteht sich ganz von selbst, daß wir keinen Richter nicht brauchen werden. Der Verständigungsfriede — alstern, san mr wieder gut — wird von der besiegten Frechheit, die ihn bis zum letzten Hauch von Mann und Roß verschmäht hatte, als ein Minimum dessen beansprucht, was ihrer Vorzugsstellung, nämlich ihrer Zuständigkeit nach dem ehemaligen Österreich gebührt. Bis zum letzten Augenblick hat sie sich an der größten Schlechtigkeit in der Liste dieser Kapitalverbrechen mitschuldig gemacht und parasitär mitschuldig gezeigt, indem sie noch gschwind ihre versenkte Tonne neben den vierzigtausend des großen Bruders unter dem Titel »Unsere und deutsche U-Booterfolge« ausschrie — vielleicht, wie es dem halbschlächtigen Sieger ziemte, zugleich auf den Anteil von Ruhm und auf die Geringfügigkeit der Untat verweisend. Kein Schuft, nur ein Schufterle, nehmt alles nur in allem. Frech bis zur Harmlosigkeit, immer wieder das andre Antlitz, eh sie geschehn, das andere nach der vollbrachten Tat, und beides zugleich — das war das österreichische.
Und das muß man ja sagen: wenn je in der Tragödie mißleiteter Völker ein weltgeschichtlicher Humor mitgespielt hat, so wurde er von dem Anblick dieses in die Kriegsmaschine geratenen Charakterbreis bestritten, der, angekettet an eine Kapazität der Dressur die fremde Tonlage durchhalten mußte, in seiner angebornen Stimmung zwischen »Wer’ mr scho machen« und »Kann man halt nix machen« an der Seite eines machenden und schaffenden Ungeheuers kläglich verzappelt ist und wirklich eher den feindlichen Angriffen in die Front als den fortwährenden Freundesstößen in die Weichteile gewachsen war. Shakespeares ungleiches Gespann eines Junker Tobias von Rülp und eines Junker Christoph von Bleichenwang ist wohl ein Sinnbild dieser Liaison von Adelsmächten, die zusammen diesen Trunkenheitsexzeß genannt Mitteleuropa ergaben. »O Junker, du hast ein Fläschchen Sekt nötig! Hab’ ich dich jemals schon so herunter gesehn?« »In eurem Leben nicht, Junker, glaub’ ich, außer wenn mich der Sekt heruntergebracht hat ... Aber ich bin ein großer Rindfleischesser, und ich glaube, das tut meinem Witz Schaden ... Ich bin ein Kerl von der wunderlichsten Gemütsart in der Welt; manchmal weiß ich mir gar keinen bessern Spaß als Maskeraden und Fastnachtspiele.« »Taugst du zu dergleichen Fratzen, Junker? ... Weswegen verbergen sich diese Künste? Weswegen hängt ein Vorhang vor diesen Gaben? Bist du bange, sie möchten staubig werden? Warum gehst du nicht in einer Gaillarde zur Kirche, und kommst in einer Courante nach Hause? ...« »... Wollen wir nicht ein Gelag anstellen?« »Was sollen wir sonst tun? Sind wir nicht unter dem Steinbock geboren?« »Unter dem Steinbock? Das bedeutet Stoßen und Schlagen.« »Nein, Freund, es bedeutet Springen und Tanzen. Laß mich deine Kapriolen sehn. Hopsa! Höher! Sa! Sa! — Prächtig!« — — »Besteht unser Leben nicht aus den vier Elementen?« »Ja wahrhaftig, so sagen sie; aber ich glaube eher, daß es aus Essen und Trinken besteht.« — — Tobias: »... ich will dir eine Ausforderung schreiben, oder ich will ihm deine Entrüstung mündlich kundtun.« ... Christoph: »O, wenn ich das wüßte, so wollte ich ihn hundemäßig prügeln.« Tobias: »... Deine wohlerwognen Gründe, Herzensjunker?« Christoph: »Wohl erwogen sind meine Gründe eben nicht, aber sie sind doch gut genug ... O, es wird prächtig sein!« Maria: »Ein königlicher Spaß, verlaßt euch drauf ...« — — Tobias: »O der Schuft!« Christoph: »Schießt ihn tot! Schießt ihn tot!« Tobias: »Still, still! ... Bis zu den Pforten der Hölle ...!« Christoph: »Ich bin auch dabei.« — — Fabio: »... Da hättet ihr euch herbeimachen sollen ... Dies wurde von eurer Seite erwartet und dies wurde vereitelt. Ihr habt die doppelte Vergoldung dieser Gelegenheit von der Zeit abwaschen lassen ...« Christoph: »Solls auf irgendeine Art sein, so muß es durch Tapferkeit geschehn; denn Politik hasse ich ...« Tobias: »Wohlan denn, baun wir dein Glück auf den Grund der Tapferkeit. Fordre mir den Burschen auf den Degen heraus; verwunde ihn an eilf Stellen ...« Fabio: »Es ist kein andres Mittel übrig, Junker Christoph.« Christoph: »Will einer von euch eine Ausforderung zu ihm tragen?« Tobias: »Geh, schreib mit einer martialischen Hand; sei verwegen und kurz ... und so viel Lügen als auf dem Papier Platz haben, schreib sie auf! Geh, mach dich dran! ...« Tobias über Christoph: »... Was den Junker betrifft, wenn der geöffnet würde, und ihr fändet so viel Blut in seiner Leber, als eine Mücke auf dem Schwänze davontragen kann, so wollt’ ich das übrige Gerippe aufzehren.« — — Fabio: »Hier ist wieder etwas für einen Fastnachtsabend.« Christoph: »Da habt ihr die Ausforderung; lest sie; ich steh’ dafür, es ist Salz und Pfeffer darin.« »Ist sie so verwegen?« »Ei ja doch! Ich stehe ihm dafür. Lest nur.« ... Tobias: »Geh, Junker, laure ihm an der Gartenpforte auf wie ein Häscher; sobald du ihn erblickst, zieh und fluche fürchterlich dabei: denn es geschieht oft, daß ein entsetzlicher Fluch, in einem rechten Bramarbaston herausgewettert, einen mehr in den Ruf der Tapferkeit setzt, als eine wirkliche Probe davon jemals getan hätte. Fort!« Christoph: »Nun, wenns Fluchen gilt, so laßt mich nur machen.« Tobias über Christoph: »... also wird dieser Brief wegen seiner außerordentlichen Abgeschmackheit ihm keinen Schrecken erregen; er wird merken, daß er von einem Pinsel herrührt ...« Derselbe: »... und sein Grimm in diesem Augenblick ist so unversöhnlich, daß er keine andre Genugtuung kennt als Todesangst und Begräbnis. Drauf und dran! ist sein Wort; mir nichts, dir nichts!« Der Feind: »... Ich bin kein Raufer. Ich habe wohl von einer Art Leute gehört, die mit Fleiß Händel mit andern anzetteln, um ihren Mut zu zeigen; vielleicht ist er einer von diesem Schlage.« »Nein, Herr; seine Entrüstung rührt von einer sehr wesentlichen Beleidigung her; also vorwärts, und tut ihm seinen Willen ...« »... Ich für mein Teil habe lieber mit dem Lehrstande als dem Wehrstande zu tun; ich frage nicht darnach, ob man mir viel Herz zutraut.« — — Christoph: »Hol’s der Kuckuck! Hätte ich gewußt, daß er herzhaft und ein so großer Fechter wäre, so hätte ihn der Teufel holen mögen, eh’ ich ihn herausgefordert hätte. Macht nur, daß er die Sache beruhn läßt, und ich will ihm meinen Hans, den Apfelschimmel, geben.« Tobias: »Ich will ihm den Vorschlag tun; bleibt hier stehn, und stellt euch nur herzhaft an ... er hat mir auf sein ritterliches Wort versprochen, er will euch kein Leid zufügen. Nun frisch daran!« Christoph: »Gott gebe, daß er sein Wort hält.« — — Tobias: »... und wegen seiner Feigheit, fragt nur den Fabio.« Fabio: »Eine Memme, eine fromme Memme, recht gewissenhaft in der Feigheit.« Christoph: »Wetter! Ich will ihm nach und ihn prügeln.« Tobias: »Tu’s, puff ihn tüchtig ...« — — (Junker Christoph kommt mit einem blutigen Kopfe.) »Um Gottes Barmherzigkeit willen, einen Feldscherer! Und schickt gleich einen zum Junker Tobias!« »Was gibts?« Christoph: »Er hat mir ein Loch in den Kopf geschlagen, und Junker Tobias hat auch eine blutige Krone weg. Um Gottes Barmherzigkeit willen, helft! Ich wollte hundert Taler drum geben, daß ich zuhause wäre ... Wir glaubten, er wäre ’ne Memme, aber er ist der eingefleischte Teufel selbst ... Ihr habt mir um nichts und wieder nichts ein Loch in den Kopf geschlagen, und was ich getan habe, dazu hat mich Junker Tobias angestiftet.« Der Feind: »Was wollt ihr von mir? Ich tat euch nichts zuleid. Ihr zogt ohn’ Ursach gegen mich den Degen. Ich gab euch gute Wort’ und tat euch nichts.« »Wenn eine blutige Krone was leides ist, so habt ihr mir was zu Leide getan. Ich denke, es kommt nichts einer blutigen Krone bei. Da kommt Junker Tobias angehinkt, ihr sollt noch mehr zu hören kriegen. Wenn er nicht was im Kopfe gehabt hätte, so sollte er euch wohl auf’ne andere Manier haben tanzen lassen.« »Nun, Junker, wie stehts mit euch?« Tobias: »Es ist all’ eins. Er hat mich verwundet und damit gut ...« .... »Fort mit ihm! Wer hat sie so übel zugerichtet?« Christoph: »Ich will euch helfen, Junker Tobias, wir wollen uns zusammen verbinden lassen.« Tobias: »Wollt ihr helfen? — Ein Eselskopf, ein Hasenfuß und ein Schuft! ein lederner Schuft! ein Pinsel!« »Bringt ihn zu Bett und sorgt für seine Wunde!« — Ist dieses nicht der Treubund vom Ultimatum bis zum Ultimo? Und je bleicher Christophs Wange ward, um so lauter rülpste Tobias und das Verhältnis ward ausgebaut und vertieft. Durch alle Trübsal unseres Daseins hopsen müssend, von dieser unerbittlichen Melodie der Treue gequält, spürten wir den Druck einer führenden Hand, die es allerdings, im Gegensatz zum Shakespeareschen Spaßmacher furchtbar ernst mit sich und uns meinte. Der verspätete Wadenbiß, als zwei auf der Erde lagen, war nur die natürliche Rettung aus einer falschen in eine schiefe Position.