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Was hatte sich ein Staat zugemutet

Was hatte sich ein Staat zugemutet, dessen Entschluß zum Krieg, von jenem russischen Außenminister eine Keckheit genannt, doch nur die Vermessenheit anschaulich machen konnte, die sein Dasein selbst bedeutet hatte! Man mag darüber verschiedener Meinung sein, ob das Vaterland und selbst eines, das nicht gerade den Kotter seiner Nationen vorstellt, der Güter höchstes ist; der Übel größtes aber ist die Schuld am Weltkrieg, nebst dem Plan, die Mehrzahl seiner Nationen durch Maschinengewehre für die ihnen verhaßteste Sache zu begeistern. Die Hölle ward hell von dem Genieblitz der Idee, für ein von der Welt angezweifeltes Staatswesen, für die durch Großmachtwahn, falsche Politik und unfähige Verwaltung verschütteten menschlichen und landschaftlichen Werte eines Landes durch einen Weltkrieg Propaganda zu machen. Anstatt daß die Leute, die hier den Ton der Kultur angaben, einmal aus der Erkenntnis, daß sie der Auswurf der Menschheit seien, den Mut zu einem Verzicht geschöpft hätten, entschlossen sie sich lieber, da es so nicht mehr weiterging, andere in den Krieg zu treiben, zu dem sie ja mit den Machtmitteln der Lüge hinlänglich gerüstet waren. Unter der Führung jener unfaßbarsten Machthaber, deren einen Herr Maximilian Harden, ehe er sich zu einer Gesinnung gegen den Krieg entschloß, den »Generalstabschef des Geistes« genannt hat, damals, als die Schlacht bei Lemberg im Hintergrund des fünfzigjährigen Jubiläums der Neuen Freien Presse gefeiert wurde. Was wir seit damals im Maultrommelfeuer von vier Jahren erleiden mußten, das und nur das sollte auf der Friedenskonferenz uns die Barmherzigkeit der Feinde gewinnen und was noch heißer ersehnt werden muß, die Unerbittlichkeit gegen eine Autokratie des Worts, die, solange sie lebt, uns nie des Verlustes der andern wert sein lassen wird. Sollten wirklich Königreiche zerstoben sein und über dem größten Umsatz des blutigen Schicksals, den je die Welt erlebt hat, ein Schlachtbankier unerschüttert in seiner erhabenen Niedertracht thronen, bleibendes Hindernis aller Erhöhung und Befreiung, wirkender Vorschub allem Faulen in Welt und Staat? Als der schmutzigste Triumph der Materie über den Geist: denn wahrlich, was sind die Vernichter sichtbaren Menschheitsgutes, deren Unumschränktheit doch an der vorhandenen Quantität sich ersättigen mußte, gegen eine Pest, die fortwirkt in die Generationen! Es wäre wenig an der Welt geändert, wenn die Dämonen geblieben und nur die Prokura gewechselt wäre; sie würden die Tyrannei der Formen, durch die unser Inhalt so ins Verderben kam und deren Zertrümmerung all unsern Kriegsgewinn bedeutet, immer aus sich selbst erzeugen, und die Kolumnen, die ein Benedikt aus der Erde stampft, sind irgendeinmal Formationen, um für die schwärzeste Hausmacht die Atempause der Welt zu kürzen. Man müßte an der Macht des Geistes verzweifeln, wenn er wohl stark genug war, die Materie der Waffe zu bezwingen, aber an der des schlechten Worts versagte und was er über das Blut vermocht hat, gegen die Druckerschwärze nicht behaupten könnte. Ach, wenn der Neuen Freien Presse und allem Gelichter unserer Nacht nichts anderes widerfährt, als daß es das Opfer des Putsches von Feuilletonisten wird, die selbst diesen Beruf verfehlt haben und auf dem Umweg über die Rote Garde in eine Redaktion kommen möchten; wenn Zeitungsleute die Märtyrer eines Vorstoßes werden, der weniger Überzeugungskraft hat als ein landläufiger Grubenhund; wenn es den Zerstörern aller Friedenswelten gelingt, sich in den Schutz der republikanischen Ordnung zu flüchten, anstatt daß es dem neuen Weltwillen gelänge, die Bestie mit einem Axthieb niederzustrecken — dann wäre mindestens der Beweis geliefert, daß er unserem Umschwung mißtraut, daß er uns nicht für reif hält, ohne Aufsicht unserer Vampyre fortzuleben. Es scheint ja alles dafür zu sprechen, daß wir dem Gesetz der Trägheit, dem einzigen, welches keine österreichische Regierung je gebrochen hat, noch über das Grab der Monarchie Treue bewahren und, weil es sehr schön war und uns sehr gefreut hat, den ganzen Geistesdreck und Gemütströdel ihres Hausrats übernehmen wollen. Es scheint, daß die Revolutionierung der Herzen, die hier allzukühn mit einer Entfernung der Hoflieferantenwappen eingesetzt hat, es bei dieser bewenden lassen will und daß wir dazu verdammt sind, das österreichische Antlitz, welches so lange das Gegenteil der Welt war, auch fernerhin und auf der sich selbst überlassenen Schulter zu tragen. Der Portier des Auswärtigen Amtes, heißt es bereits, sei mit der Republik nicht einverstanden, und das will, zumal wenn sich die der andern Staatsämter anschließen, mehr bedeuten als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Man kann das nicht genug überschätzen; die Welt hat Krieg führen müssen, weil sie unsere lokalen Verhältnisse zu wenig gekannt hat. Aber die Hausmeister allein könnten’s nicht richten, wenn sie nicht der Unterstützung der Parteien gewiß wären und wenn sich nicht diese ganze unausrottbare Art von Menschen, die einander alle hinter sich haben, schon verständigt und in einer passiven Resistenz, die viel mehr als alle Aktivität anderer Volkstemperamente Entwicklungen beeinflußt, sich zu Gruppenbildungen und Verkehrshindernissen gefunden hätte. Die falsche Besorgnis der einen, daß hier republikanische Zustände Platz greifen, und der andern, daß hier monarchistische Überraschungen eintreten könnten, beruht auf einer Überschätzung der Wiener Möglichkeiten, nein, es bleibt alles beim Neuen, nur daß ein konstanter Widerstand aus den Niederungen, in denen die Hof- und Personalnachrichten um ihr Dasein ringen, auf Schritt und Tritt die Anwendung neuer Normen verhindern wird. Gewiß, sie schreien nach Habsburg wie der Hirsch in der Jagdausstellung nach der Quelle, und sie würden das Wiederauftreten Karls so begeistert wie nur eines Marischka begrüßen, aber aus keinem andern Grund, als weil es ein Wiederauftreten ist. Nicht wer beim Bühnentürl herauskommt, sondern daß einer herauskommt, erzeugt die Wärme, und die Beliebtheit kommt hier ebenso von der Popularität wie die Armut von der Powerteh. Sie denken sich ja nichts dabei, höchstens daß nichts dabei ist und daß man dabei sein kann, was eben in der Republik, wo jeder dabei sein kann, viel schwieriger ist. Weil dieselben Leute, die eine Zeitlang »p.u.« waren, es nicht mehr erwarten können, wieder u.a. registriert zu werden und weil die Klio hier in der Kärntnerstraße spazierengeht, kann es passieren, daß zweitausend Republikaner in einem Konzertsaal einer Brettlsängerin zujauchzen, die durch die Erinnerung an den guaten alten Herrn in Schönbrunn, dessen Auge auf seinen Wiener Edelknaben wohlgefällig ruht, justament der Weltgeschichte beweisen wollte, daß mir mir san. Dabei übersehe man ja nicht die tiefe Unechtheit dieser Nostalgie, die, ohne Verbindung mit den Kulturreizen einer bessern Wiener Zeit, sich bloß von einem Farbendruck der Gemütlichkeit nicht trennen will. Es ist bei weitem nicht jene Nobelfäulnis, die bis um 1890 der lokalen Kultur einen gewissen Weltwert verliehen hat und deren letzte Spuren im blutigen Chaos genau so vertilgt wurden wie die norddeutsche Spezialität der Ordnung. Es ist vielmehr eine Geschmackigkeit, die durch die Barbarei des Kriegs nur gewonnen hat: das neuwienerisch-jüdische Element, ein eben angelangter und sofort rabiater Provinzcharakter, jenes fast naive Widerspiel von Scham und Schönheit, jene picksüße Lebensfrische, die nicht überwintern kann ohne die Aussicht auf ein fettes Ischl mit seiner vollkommenen Pervertierung der Kaiserpracht zu einer Orgie der unwahrscheinlichsten Mißformen, seiner phantastischen Nachbarschaft von Kabinettskanzlei und Theatercafé und den betäubenden Tonfällen einer Esplanade, die als ein sommerlicher Franz-Josefs-Kai die Huldigung komplett macht. Es ist jenes Österreich, das sich wirklich mit Recht nach sich zurücksehnt, weil es, wenngleich abgeschlossen von der Welt, nie mehr so unter sich sein wird. Es ist das Österreich der kaiserlichen Räte. Sie waren nur das Spalier, durch das am 18. August die Majestät fuhr; aber die Staatsweisheit kam ans Ziel, als hätte sie wirklich von all dem Rat mitgenommen. Dieser echt österreichische Einfall war vielleicht mit ein Grund allen Mißverständnisses über uns: daß die letzte Menschenkategorie anstatt eines gelben Flecks einen Titel bekam, welcher der schlecht informierten Umwelt nach der höchsten Würde klingen mußte, jenen maßlos erstaunten Europäern, die solche Exemplare von Conseiller imperial die Sauce mit dem Messer essen sahen und sich nun vom Niveau der niedriger gestellten Bevölkerung eine Vorstellung machten. Und wie soll die durch solche Vertreter der Monarchie verwirkte Achtung einer Republik zurückgewonnen werden, die sich durch die Pflicht politischer Toleranz von der tiefern Pflicht entbunden glaubt, den Parasiten der alten Macht den Übertritt zur neuen zu verwehren, und die es erträgt, daß dem Wechsel der Systeme das feierliche Sinnbild eines im gekauften Hofwagen sich dehnenden Eskompteimperators entsteht. Die Möglichkeit solch apokalyptischer Vision und die Sehnsucht derselben Grabenpassanten, die den Scheuel nicht mit Pflastersteinen erlegen, nach dem frühern Insassen der Equipage, sie gehören in ein und dasselbe Bild einer spezifischen Kultur, die auf dem Erdkreis ihresgleichen nicht hat. Denn ihre wesentliche Einheit ist der Schlamm, der die Verschiedenheit aller möglichen Empfindungswelten undeutlich macht und schon einen Tiefseeforscher braucht, um die Geheimnisse einer am Tag ihrer Gründung versunkenen Stadt zu offenbaren. Für einen Marsbewohner wäre es jedenfalls unfaßbar, daß hier eine Republik etabliert wurde und die ganze Mischung von Ghetto und Bierstüberl, nicht nur als Naturfarbe, nein auch als der unmittelbare politische Ausdruck unserer Neigungen uns erhalten blieb; daß jene undefinierbare Spezies, die sich »deutschnational« nennt und die wohl unter allen lebendigen Formen die rätselhafteste ist, nicht nur nicht am ersten Tag weggeblasen war, sondern obenauf ist, nachdem sie bis zum letzten Generalstabsbericht den ganzen Bieratem ihrer Leidenschaft an einen Siegfrieden gewendet hat. Jene Sorte, neben der das feindliche Ausland, wenn es sich noch einen Funken Gerechtigkeitsgefühl bewahrt hat, den Preußen als einen Kulturträger hinnehmen müßte und für die mir auf der Suche nach einem Personennamen in meinem tragischen Karneval der Zufall einer Lokalnotiz ein Zauberwort, das alles Wirrsal bändigt, in den Schoß geworfen hat: Kasmader! In welchem Namen könnte sich diese Partie von Deutschösterreich, und eigentlich das ganze, glücklicher darstellen? Man spürt sofort, daß alles Eau de Lubin, über das die Entente verfügt und das sie allein schon befähigt hat, dem alldeutschen Gedanken die Spitze zu bieten, nicht ausreichen würde, um Kasmader der Welt unbedenklich zu machen, und es wäre wahrlich nicht unbillig, wenn sie sich zur dauernden Einrichtung eines Konzentrationslagers entschließen wollte, worin das Wesen, von Nahrungssorgen natürlich befreit, seine Tage hinzubringen hätte, mit der Erlaubnis, über die Lage der Deutschen in Österreich weiterhin nachzudenken, auch seinen sonstigen Belangen hingegeben, aber des Anspruchs verlustig, die bare Unmöglichkeit, an die Welt Kultur abzugeben, und die Unfähigkeit, sie von ihr zu nehmen, in gefährlichen Experimenten auszuleben. Das Wunder der Befreiung von der alten Macht, dessen wir uns bei jedem neuen Erwachen versichern müssen, berührt um so wunderbarer, als uns ihre Stützen vollzählig erhalten geblieben sind, so daß wir eigentlich nur dem Divertissement von Verwandlungskünstlern beiwohnen, die uns noch dazu die Methode verraten, indem sie uns zuzwinkern, sie wären eigentlich die Alten. Die Komik der Shakespeareschen Gelegenheitskomödianten, die dem Herzog und seiner Familie eine »höchst klägliche Komödie« vorführen, ist erst in der Zumutung, sich die Herren Wolf, Hummer und Teufel als Republikaner vorzustellen, übertrieben. »Ist unsre ganze Kompagnie beisammen?»... »... Wenn ich’s mache, laßt die Zuhörer nach ihren Augen sehn! Ich will Sturm erregen, ich will einigermaßen lamentieren ... eigentlich habe ich doch das beste Genie zu einem Tyrannen; ich könnte einen Herakles kostbarlich spielen, oder eine Rolle, wo man alles kurz und klein schlagen muß.»... »Habt ihr des Löwen Rolle aufgeschrieben? Bitt’ euch, wenn ihr sie habt, so gebt sie mir; denn ich habe einen schwachen Kopf zum Lernen.« ... »Laßt mich den Löwen auch spielen! Ich will brüllen, daß es einem Menschen im Leibe wohl tun soll, mich zu hören. Ich will brüllen, daß der Herzog sagen soll: Noch ›mal brüllen! Noch ›mal brüllen!« »Wenn ihr es gar zu fürchterlich machtet, so würdet ihr die Herzogin und die Damen erschrecken, daß sie schrien, und das brächte euch alle an den Galgen.« »Ja, das brächte uns an den Galgen, wie wir da sind.« »Zugegeben, Freunde! wenn ihr die Damen erst so erschreckt, daß sie um ihre fünf Sinne kommen, so werden sie unvernünftig genug sein, uns aufzuhängen. Aber ich will meine Stimme forcieren, ich will euch so sanft brüllen wie ein saugendes Täubchen: — ich will euch brüllen, als wär’ es ’ne Nachtigall.« — — »Es kommen Dinge vor in dieser Komödie von Pyramus und Thisbe, die nimmermehr gefallen werden. Erstens: Pyramus muß ein Schwert ziehen, um sich selbst umzubringen, und das können die Damen nicht vertragen ...« »Ich denke, wir müssen das Totmachen auslassen, bis alles vorüber ist.« »Nicht ein Tüttelchen; ich habe einen Einfall, der alles gut macht. Schreibt mir einen Prolog, und laßt den Prolog verblümt zu verstehn geben, daß wir mit unsern Schwertern keinen Schaden tun wollen; und daß Pyramus nicht wirklich totgemacht wird; und zu mehr besserer Sicherheit sagt ihnen, daß ich Pyramus nicht Pyramus bin, sondern Zettel der Weber. Das wird ihnen schon die Furcht benehmen.»... »Werden die Damen nicht auch vor dem Löwen erschrecken?« »Ich furcht’ es, dafür steh’ ich euch.« »Meisters, ihr solltet dies bei euch selbst überlegen. Einen Löwen — Gott behüt’ uns! — unter Damen zu bringen, ist eine greuliche Geschichte; es gibt kein grausameres Wildpret als so ’n Löwe, wenn er lebendig ist; und wir sollten uns vorsehn.« »Deshalb muß ein anderer Prologus sagen, daß es kein Löwe ist.« »Ja, ihr müßt seinen Namen nennen, und sein Gesicht muß durch des Löwen Hals gesehen werden; und er selbst muß durchsprechen, und sich so, oder ungefähr so appliziern: Gnädige Frauen, oder schöne gnädige Frauen, ich wollte wünschen, oder ich wollte ersuchen, oder ich wollte gebeten haben, furchten Sie nichts, zittern Sie nicht so; mein Leben für das Ihrige! Wenn Sie dächten, ich käme hieher als Löwe, so dauerte mich nur meine Haut. Nein, ich bin nichts dergleichen; ich bin ein Mensch wie andre auch: — und dann laßt ihn nur seinen Namen nennen, und ihnen rund heraus sagen, daß er Schnock der Schreiner ist.« — — Der Hof: »Gut gebrüllt, Löwe!« — Doch hätte wohl keine Phantasie, die je dem Humor menschlicher Maskeraden nachging, an die Wirkung der Jammergestalten herangereicht, die die Rollen unserer Revolution verteilen und denen es zwar zeitgemäß erscheint, in die Verkleidung zu schliefen, aber auch ratsam, sie nicht ganz auszufüllen. Nur daß unser Galeriepublikum dickfelliger ist als selbst ein Löwe und die Produktion sich gefallen läßt, und wenn ihm rund heraus gesagt wird, daß es der Teufel ist, nicht im Gefühl der Beruhigung in helles Gelächter ausbricht.

Und wäre denn sonst auch das Wiederauftreten dieses Czernin auf einer Szene denkbar, wo sein erstes Engagement mit einem Theaterskandal geendet hatte, dem gewiß nur die Not an faulen Äpfeln den sichtbaren Ausdruck erspart hat? Eine politische Karriere jedoch, die sich nach Abschluß einer politischen Karriere geradezu auf die Erfahrung gründen will, daß in Wien alles möglich ist und nichts unmöglich macht, dürfte selbst in Wien eine Kuriosität sein und eben darum auf den Zuspruch des hiesigen Bürgertums rechnen können. Oder wie der gräßliche Vorbeter unserer Teufelsdienste es ausdrückt: »Wenn Graf Czernin das Wort ergreift, horcht die europäische Öffentlichkeit auf.« Die europäische Öffentlichkeit, das ist jene von Revolutionsstürmen unversehrte Gesellschaft, die im Saal des Gewerbevereins Platz hat, die irgendetwas »vertritt«, sei es die Industrie, die Politik oder die Wissenschaft, und deren Zwielicht auch ohne Übertretung der Beleuchtungsvorschriften das Bemerktwerden ermöglicht. Kurzum, »eine gleichsam politisch und geistig geschlossene Gesellschaft, ein Auditorium von besonnenen und ernsten Menschen, denen es ein Bedürfnis ist, mitten in der überreizten und überlauten Wirrnis dieser Tage, einen Rückblick über Vergangenes zu hören«. Redner befriedigt dieses Bedürfnis restlos, wobei sich »an markanten Stellen die Hand zur Faust ballt«, nämlich die Hand des Redners. »Aus dem herzlichen Beifall, der ihn begrüßt, sind die lebhaften Sympathien herauszuhören.« Die Sympathien schlechtweg, die Sympathien in ihrer Reinkultur, da sie aus solchen Herzen stammen. »Wann immer er das Wort ergreift und worüber immer er spricht« — ob über die Notwendigkeit eines Völkerbunds oder über die Unzerreißbarkeit der Nibelungentreue, über Abrüsten oder Durchhalten, über den ewigen Frieden auf dem Dach oder ein belgisches Pfand in der Faust des Redners, über die Getreideschätze in der Ukraine oder über den elenden, erbärmlichen Masaryk — »immer hat der Zuhörer das Gefühl: hier spricht eine starke Persönlichkeit«, eine, deren Engagement bei der Neuen Freien Presse nur eine Frage der großen Zeit ist und nach Aberkennung des innern Adels perfekt sein dürfte. Er spricht »in zwangloser Haltung, die eine Hand in der Hosentasche«, wo sich wahrscheinlich derzeit das Faustpfand befindet, alles blickt gespannt in die Richtung, »den vorgestreckten Köpfen, den aufhorchenden Mienen merkt man es an, daß alle begierig sind, einen Kronzeugen aus dem großen Prozeß des Weltkriegs zu hören«, der, wie das bei Monstreprozessen zu geschehen pflegt, sich plötzlich in einen Angeklagten verwandeln könnte. Man kann alle diese Vorgänge zum Glück genau sehen, wiewohl der Saal des Gewerbevereins »nur schwach beleuchtet ist«. Aber den Redner ficht das nicht an, er läßt auch »seine Gedanken klar und deutlich erkennen«, wozu ihm allerdings seine Sprache hilft, die er nämlich meisterhaft beherrscht und die ihm kein Mittel ist, jene zu verbergen. Was in meinen Augen ein Nachteil ist, den er vor den Diplomaten der alten Schule entschieden voraus hat. Aber was will man machen, der Kontakt ist sofort da, die Zuhörer sind im Banne, und »als Graf Czernin von dem Blutsbündnis mit Deutschland spricht, wird zum erstenmal laute beifällige Zustimmung vernehmlich«, wobei es unklar bleibt, ob zum Bündnis, das Blut gekostet hat, oder zum Lob eines solchen Bündnisses oder zum Bedauern über ein solches Bündnis. Immerhin, er hat heute »zum erstenmal als einfacher Privatmann, als Bürger des deutschösterreichischen Staates das Wort ergriffen« — die Zuständigkeit dürfte geklärt sein, da kein Hund in Böhmen vom Czernin einen Bissen aus der Ukraine nimmt — und die Zuhörer »verlassen den Saal mit einem starken Eindruck und mit dem Wunsche, den Grafen Czernin noch oft zu hören«. Gesagt, getan; schon reift der Wunsch zur Erfüllung, da der schlichte Republikaner von einer dankbaren Bevölkerung, der er den Brotfrieden gebracht hat, in die Nationalversammlung gewählt werden dürfte. Und was hat er ihr, was hatte er jenem Auditorium, das in der theaterlosen Zeit dem Gewerbevereinssaal zuströmte, zu sagen? Was könnte uns ein Mann zu sagen haben, der den Weltkrieg nicht begonnen, nein, verlängert hat? Was gibt ihm das Recht, die europäische Öffentlichkeit, die sich vor den Alibiträgern der Kriegsschuld die Ohren zuhält, aufhorchen zu machen, anstatt sich vor ihr in jenes Mauseloch zu verkriechen, das eine starke Persönlichkeit unstreitig noch besser zur Geltung bringen würde als ein nur schwach beleuchteter Saal? Tritt er uns als ein Reuiger an, der auf den mildernden Umstand rechnen könnte, daß er nicht gleich jenem Berchtold durch eine Flucht in die Schweiz, sondern an Ort und Stelle seine Schuld bekennt? Will er, indem er sich als ein Opfer der allgemeinen Dummheit vorstellt, die Schuld auf jene schieben, die ihn in solcher Zeit zum Staatsmann gemacht haben? Das könnte, wenn er zur Stelle wäre, jener Schwachkopf, der den Krieg eröffnet hat und der am Tag des Ultimatums mit leuchtenden Augen zu einem andern Würdenträger sagte: »Jetzt hat die Armee ihren Willen!« Das könnte der einfältige Berchtold; der vielfältige Czernin kann das nicht. Der kann anders. Wie kann er? Was kann er einer gleichsam geistig und politisch geschlossenen Gesellschaft, einem Auditorium von besonnenen und ernsten Menschen sagen, das diesen das Auftreten eines Mannes erträglich machte, der den Krieg verlängert hat? Er habe es getan, um gleichsam im Geiste Berchtolds der Armee ihren Willen zu lassen? Nein, im Gegenteil! Er hat den Krieg nur verlängert, weil das so sein mußte und weil er das eben gewußt hat. Aber es ist so originell, so verblüffend, so niederwerfend, daß man es nur durch das Medium des Leitartiklers auf sich wirken lassen kann, also durch eine Vermittlung, deren man sich sonst nicht ohne Abscheu bedient. Da gelingt es denn, über den Grafen Czernin, also über einen von den Staatsmännern, die in leitender Stellung »an den blutwarmen Ereignissen mitwirkten« — was schon eine kräftige Charakterisierung ist —, unter dem packenden Titel »Die Kämpfe des Grafen Czernin mit dem General Ludendorff über den Frieden« das Folgende zu erfahren: »Er hat gewußt, daß jeder Sieg eine Tragödie sei, weil er den Krieg verlängere, ohne das Ergebnis ändern zu können.« Er, nämlich der Sieg, nicht der Czernin hat den Krieg verlängert! Er, nämlich der Czernin, hat es gewußt! Er, nicht ich. Wenn ich nicht sicher wäre, daß diese Anerkennung an dieser Stelle nicht mir gelten kann, weil solche Umstürze im Kosmos eben undenkbar sind, ich hätte es einen Augenblick lang geglaubt. Daß es der Nachfolger Berchtolds sei, der solche Erkenntnis, der so wenig Neigung hatte, der Armee ihren Willen zu lassen, jener Mann, der’s doch so ausgiebig getan hat, der Graf Czernin, merkte ich, als ich mit wachsendem Staunen über die unbegrenzten Möglichkeiten der Natur weiterlas. Er war also kaum drei Monate im Amt, da erkannte er schon die Gefahren für die Mittelmächte, sah die schwere Niederlage voraus, die Erschütterung der Habsburger und der Hohenzollern, die Revolution, und alles, was er fürchtete, sei »buchstäblich eingetroffen«. Er hat gewußt, daß Österreich nach jeder Rettung durch den deutschen Generalstab »erst recht verloren sei«. »Graf Czernin hatte den Kummer«, den Frieden anzustreben und ihn nicht erreichen zu können, weil der Ludendorff ihn nicht wollte. Er hatte »die Fähigkeit, die Zeit, worin er lebt, zu erkennen«. Er warnte vor optimistischen Täuschungen; er »hörte ein dumpfes Grollen«, es rieselte im Gemäuer, aber nicht etwa in dem der Entente, sondern im unsrigen; die Siege des Feldherren waren »die Irrlichter des Ruhms, die in den Sumpf lockten«, also ganz nach jenem Beispiel, wo sie immer geschrien haben nach der amerikanischen Unterstützung, »nach diesem Irrlicht der Entente, dem sie nacheilt und das sie immer tiefer hineinfuhrt in den Sumpf, in Niederlage und Verderbnis«. Der Graf Czernin hat das alles, nämlich das andere, gewußt. Er war ein Talent. Wir haben gar nicht geahnt, was wir an ihm haben. Wir haben immer geglaubt, die Siege werden es machen. Wir haben immer den Versicherungen des Grafen Czernin geglaubt, und daß wir nur weiter siegen müssen, um zu siegen, und daß es jetzt durchzuhalten gelte. Wir sind dem Grafen Czernin, wie er sprach, hereingefallen, anstatt den Grafen Czernin, wie er war, zu erkennen. Mit einem Wort: »Wir sind Tür an Tür mit einem Manne gewesen, der in der Witterung eines Diplomaten gefühlt hat, daß der Krieg, wenn er immer wieder verlängert werden sollte, nach dem Hinterlande umschlagen und dort in Revolution sich entladen würde.« Und darum hat er ihn verlängert. Und das haben wir nicht gewußt; weder daß es so ist, noch daß es einen Mann gegeben hat, der es wußte. Denn wir haben immer nur auf die Erklärung des Grafen Czernin gehört, daß es nicht so sei, und auf die Anerkennung, die ihm die Neue Freie Presse dafür gespendet hat, und unser Vertrauen zu beiden ward in dem Maß ausgebaut und vertieft, als sie selbst es mit einem Blutsbündnis taten. Wenn sich jedoch noch nach tausend Jahren ein Bedarf herausstellen sollte, der heranwachsenden Jugend, wie es Personifikationen der unzertrennlichen Treue gibt (Österreich-Ungarn und Deutschland, Kastor und Pollux, Hindenburg und Ludendorff), auch ein Beispiel für unzertrennliche Falschheit darzubieten oder für einen Seelenbund der Unehrlichkeit, die so dumm ist, sich von der Verlogenheit entlarven zu lassen, und der Verlogenheit, die so frech ist, die Unehrlichkeit zu übertölpeln, so wird man die Namen Czernin und Benedikt, jenem zur verdienten Ehre, zusammenstellen. Und wenn es darüber hinaus noch nötig sein wird, das Vorbild einer Schafsgeduld zu finden, die sich solches Spiel der bis zur Ehrlichkeit verlogenen Gestalten gefallen ließ und noch immer nicht wußte, mit wem sie Tür an Tür war, sondern dem Paar noch Beifall spendete, und nicht mit nassen Zeitungsfetzen den witternden Diplomaten hinausjagte, sondern ihn kandidieren ließ und sich gegen den Heilsboten der Siegestragödien nicht in einer Revolution entlud, sondern im Abonnement — wenn’s dafür eines Vorbilds bedürfen sollte, so wird man unfehlbar auf das Wiener Auditorium von besonnenen und ernsten Menschen zurückgreifen, auf die gleichsam geistig und politisch geschlossene Gesellschaft der deutsch-österreichischen Republik. Die nicht nur einen Menschen täglich liest, der der deutschen Sprache, der Wahrheit, dem Takt, dem Gehör, dem Geschmack, dem Geruch, jedem Nerv, dem Magen, dem Sack und überhaupt allem was schutzbedürftig ist, Schmach und Gewalt antut, sondern die auch einen Menschen anhört, der ihr zum Beweise seiner Kriegsunschuld erzählt, er habe gewußt, daß der Krieg das infamste Verbrechen sei und der Sieg das größte Unglück, und welche mit keinem Zwischenruf die von jenem andern so geschätzte »Laienfrage« stellt, warum er denn nicht aus seinem Wissen die Konsequenz gezogen und nicht lieber den dunkelsten Abtritt dem Verbleiben im Licht der verantwortlichsten Stellung vorgezogen habe, warum er Wilson gemeint und Ludendorff getan, Kant gesagt und Krupp gemeint, den Weltfrieden gesagt und Brest-Litowsk getan, zum Zwiespalt von Wort und Tat sich auch des Widerspruchs zwischen Wort und Wort schuldig gemacht habe, nie aber der Verleugnung seiner Tat. Warum er, anders als Fiesko, nur malte, was andere taten, und anders als Czernin, nur meinte, was andere malten, und jene beschimpfte, diese konfiszieren ließ, so daß sein Mund jenen die Tat absprach und seine Hand diesen sein eigenes Wort aus dem Mund nahm; wenn er aber selbst nicht zu sprechen wagte, weil Ludendorff in der Nähe war, sich auf Hertling berief, der ihm »das Wort aus dem Munde nahm«. Aber dies hätte er seinerseits dem Frager besorgt; denn die ganze Haltung der schwankenden Gestalt, die sich uns wieder naht und zudrängt, nachdem sie sich einst dem trüben Blick gezeigt, erklärt er einfach damit, daß er nicht nur von der Katastrophe des Blutsbündnisses überzeugt war, sondern — und das »kann er ohne Überhebung sagen« — »dieses Bündnis verteidigt habe, wie sein eigenes Kind«. Bis zum letzten Blutstropfen, nämlich der seiner Tatkraft sowie Beredsamkeit anvertrauten Völker. Und das kann er wirklich ohne Überhebung sagen; aber daß er es auch ohne Reue sagen kann, ist erschreckend. Und warum tat er so? Warum hat er uns den Glauben an die deutschen Siege, den er als Irrwahn erkannt hatte, ausgebaut und vertieft und solches durch seinen Kumpan als das Leitmotiv einer unendlichen Melodie uns bis zur Verzweiflung eingeben lassen? Einfach aus dem zweifachen Grunde: weil »Deutschland, wenn wir austraten, den Krieg nicht weiterführen konnte« — scheinbar ein Ziel aufs innigste zu wünschen, zumal für einen Staatsmann, der den Frieden herbeiführen will; aber mit dem Wesen eines Blutsbündnisses offenbar nicht zu vereinen — und dann, weil »bei dieser Situation«, also wenn Deutschland keinen Krieg mehr führen konnte, »es gar kein Zweifel ist, daß die deutsche Heeresleitung einige Divisionen nach Böhmen und nach Tirol geworfen hätte, um uns dasselbe Schicksal zu bereiten, wie seinerzeit Rumänien«. Und keiner der besonnenen und ernsten, geistig und politisch doch geschlossenen Menschen, die in einem und demselben Satz Deutschlands Waffenstreckung und Deutschlands Offensive gegen Österreich verknüpft finden, fragt den Plauderer, ob er, wenn er vielleicht sagen wolle, daß das besiegte und darum unbeschäftigte Deutschland zu einer Unternehmung gegen Österreich fähig gewesen wäre, nicht auch der Meinung sei, daß die siegreiche und darum unbeschäftigte Entente noch fähiger gewesen wäre, Österreich vor dem provisorischen Schicksal zu behüten (ja es vielleicht gar abzuwenden), das ein siegreiches Deutschland Rumänien bereitet hat, nach dessen Eintritt in den Weltkrieg — nicht Austritt aus dem Weltkrieg — es ja nicht nur gegen Rumänien, sondern auch gegen die Entente gekämpft hat, während es jetzt »den Krieg nicht weiterführen könnte« und wenn doch gegen Österreich, so doch nicht gegen eines, dem die Entente zu Hilfe kommt. Und in der Hand des Mannes, dessen seichte Bravour nur eine gegen den Tonfall wehrlose Intelligenz von Wiener Zeitungslesern über den Mangel jeder sittlichen und geistigen Haltbarkeit, jeder Führung und Hemmung, jeder Stütze von Wahrhaftigkeit oder Logik betrügen kann, war das Schicksal dieser Millionen, das Schicksal der Menschheit verwahrt. Kein hohnvolles Echo wirft ihm den Appell an eine »bessere Welt« ins Gesicht zurück, die er aus dem Blutmeer aufsteigen sieht und deren Ankunft er um genau so viel Zeit verzögert hat als er Minister war. Kein Zornruf eines der zuhörenden Hinterbliebenen verschmäht die Kondolenz des Blutschuldners, daß »dann jene nicht umsonst gestorben sind, alle unsere Lieben, die da draußen liegen in der fremden kalten Erde«, jene, die sterben mußten, weil wir Tür an Tür mit einem Manne gewesen sind, der gewußt hat, daß jeder Sieg eine Tragödie sei, da er den Krieg verlängere, ohne das Ergebnis ändern zu können, und der nicht die Fähigkeit hatte, diese Erkenntnis in die Tat umzusetzen, aber auch nicht den Anstand, die Tür zu öffnen und die Stätte einer so aussichtslosen Untätigkeit zu verlassen. Der gewußt hat, daß der Sieg den Krieg verlängere, und der desgleichen tat! Wir aber, die vielleicht gewußt haben, was er wußte, aber nicht, daß er es wußte und seine und unsere Zeit mit schwermütigen Gedanken hinbrachte, hatten darum keinen Grund ihm jene Tür zu weisen, wohl aber heute Grund genug, die »männlich freimütigen und prophetischen Worte seiner Denkschrift an den Kaiser Karl« zu bewundern, die auf die politisch und geistig Geschlossenen einen nicht minder tiefen Eindruck machten wie das Wort vom Blutsbündnis. Und eine Erkenntnis, die die anständigen Menschen schon vor diesem elenden und erbärmlichen Czernin im Herzen getragen und nur mit scheuem Seitenblick nach irgendeinem seiner Spitzel einander zu versichern wagten; eine Erkenntnis, für die er hochgestellte und dabei reinliche Gegner seines Wirkens überwachen ließ, und vor der er den Kaiser absperrte, wenn die Gefahr bestand, daß sie zur Ehre eines Entschlusses reifen könnte; eine Erkenntnis, für die noch in der Aera Czernin der Generalstab manchen gehängt hat, ich aber, der sie hinausrief, unbehelligt blieb und erst als sie mir auch in einem anonymen Brief nachgerühmt wurde, der Kriegsminister die Staatspolizei zu mobilisieren suchte und ein Geheimakt entstand, worin ich, der nie eine Ehrenstellung angestrebt hat, zum »Haupt des Defaitismus in Österreich« ernannt wurde — eine solche Erkenntnis kann heute als der Beweis staatsmännischer Erleuchtung berufen werden und eines Staatsmannes, der von ihr nicht nur keinen Gebrauch gemacht, sondern die gegenteilige Überzeugung ausgebaut und vertieft hat. Gewiß, ich war ein Hochverräter; und konnte den Hochverrat, den ich dachte und lauter als andere, lauter als der Graf Czernin aussprach, leider nicht begehen. Aber welch ein Hochverräter war dieser Mann, der des Hochverrats fähig war, ihn nicht zu begehen! Wien, diese vollständige Schatzkammer aller menschlichen Fühllosigkeit und politischen Ehrlosigkeit, wird ihn dafür nicht zum Schandbürger ernennen, sondern in die Nationalversammlung berufen.