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Februar 1918

Der Weltspiegel

Der Kronprinz bei den Flammenwerfern der 5. Armee

Der Kronprinz bei den Flammenwerfern der 5. Armee.

Zur Begrüßung des Kronprinzen wird durch Flammen ein »W« gebildet.

Wie kam mir dies Gesicht? Stand dies Weh, triumphal zu Flammen aufgerichtet, Flammen, die hundert Söhne von hundert Müttern verzehren werden, vor meinem Aug, als ich in der Nacht der Menschheit träumen ging? Da ich einschlief, hatte ich den »Weltspiegel« in der Hand; der gab nur meinem Traum zurück, was aus ihm als Erdenfluch zum Himmel stieg: das Wort, das am Ende war, und dieses seine Initiale. Doch als ich erwachte, hatte ich den »Weltspiegel« zur Hand und von allen Seiten sah ich die Welt sich spiegeln und bedachte also ihren Sinn:

Die Technik hat nicht allein das für sich, daß sie die Menschheit in einen Dreckhaufen verwandelt hat, sondern daß man ihn auch a tempo in Wort und Bild vorgesetzt bekommen kann. In den Kinematographen gehe ich nun nicht, weil ich die Nachbarschaft von Schieberhuldinnen, die beim Anblick der Somme- Schlacht »Gott wie interessant!« sagen, nicht ohne Anwandlungen von Lust, nämlich zu einer im zivilen Leben strafbaren Handlung, ertragen könnte und weil ich ja doch nie das Glück haben würde, einen ehedem glorreichen Heerführer vor der gefilmten Prozedur hinfallender Menschenleiber zwanzigmal hintereinander »Bumsti!« sagen zu hören. Dagegen vergönne ich mir gelegentlich den Blick in eine der vielen illustrierten Zeitschriften, denen es die technische Entwicklung ermöglicht, eben jene Lebensstarre, an der sie einen so bedeutenden Anteil hat, in ihrer bunten Vielgestalt vorzuführen, und da finde ich denn, wie’s die Jahreszeit bietet, alles beisammen, was zwischen Drahtverhau und Schminkschatulle heutzutage alles da ist, indem es ja nicht so ist wie bei arme Leute. Wie praktisch zum Beispiel, gleich auf dem Titelblatt Kühlmann in der Uniform eines Ulanenoffiziers sehen zu können, wie er dem gleichfalls verkleideten, aber halb abgewendeten Czernin die treue Rechte reicht, während sein zugespitzter Mund auf die Formel »Keine Annexionen und keine Kontributionen« zu pfeifen scheint. Brest-Litowsk, mag es auch die andern menschlichen Berufe enttäuscht haben, dem Photographen bot es eine Fülle von Anregungen. Aus dieser Dunkelkammer des Friedens sind immerhin »Bilder vom russisch-deutschen Waffenstillstand« hervorgegangen, die die beiden Parteien in freundnachbarlichem Warenverkehr zeigen und auf den preußischen Gesichtern ein unverkennbares Behagen, sich mal zu den »Panjebrüdern« herabzulassen. Unschwer gelingt es mir, den Besitzer von Schneid und Monokel da im Vordergrund als jenen Leutnant zu agnoszieren, der einst einem verbündeten General die Worte zugerufen hat: »Na, sagen Se mal Exzellenz, könnt Ihr denn nich von alleene mit dem ollen Uschook fertich werden?« Der olle Uschook ist ein zu Beginn der Weltgeschichte vielgenannter Paß, durch dessen Behauptung es gelungen ist, Mitteleuropa vor dem Ansturm der Barbaren zu behüten. Sollte es aber doch nicht der hier abgebildete Leutnant gewesen sein, so war es ein anderer, der genau so aussieht. Während die Verhandlungen in Brest-Litowsk ihren Fortgang nehmen, werden sie von einem Eheidyll unterbrochen, indem ein junges, aber hohes Paar auf einem Gang durch die Straßen Berlins begriffen ist, sie ein Guckindiewelt, er ernst aber zuversichtlich, gleichwohl ein wenig nachdenklich über die Frage, nicht wo, sondern ob man heute zu mittag speisen werde, da man doch von einem Gang durch die Straßen Berlins Appetit bekommen hat. Wie anders der hohe, aber alte Herr, der soeben den Festgottesdienst in Brest-Litowsk verläßt, mein erster Griechisch-Professor in Uniform, er ist vergnügt, sein Gang etwas schwankend, er hebt die Hand, senkt den Kopf, als sagte er gerade: »Tja der Trotzky, der Trotzky macht die ganze Klasse rebellisch.« Ein Vorzugsschüler, der Czernin, steht in Uniform Habtacht vor diesem Monolog und freut sich. Während sich das begibt, bricht eine Tochter des Exkönigs von Griechenland, die mit Mutter und Schwestern Schulter an Schulter beim Eislauf am Dolder in Zürich aufgestellt ist, in ein schallendes Gelächter aus. Die andern folgen ihrem Beispiel. Ihr Lachen steckt an, schon lacht die ganze Reihe. So aus vollem Halse habe ich noch nie lachen gesehen. Warum lacht sie? Weil am Piaveufer in aller Eile hergestellte provisorische Schützengräben zu sehen sind? Oder weil Marguerite Vivian Vurton Thomason, eine amerikanische Schönheit, sich kürzlich zum dritten Male vermählt hat, diesmal mit dem jungen Grafen Christian Günther von Bernstorff? Oder weil Rinder als Zugtiere in Berlin verwendet werden? Weil in einem Pariser Militärspital einem Schwerverwundeten Blut aus einem anderen Körper eingelassen wird? Weil der Sanitäter Willy Haehnel bereits 400 Konzerte, u.a. auch solche des Blüthner-Orchesters an der Front und Etappe geleitet hat? Weil man Badewasser durch ultraviolette Strahlen entkeimen kann? Die Töchter des Königs von Griechenland stehen da, wie sich ehedem die feschen Nachtigallen von Wien oder Berlin stellten vor uns hin. Es klingt wie: »Fesch, schick, wirklich indresant, können Sie uns vor sich sehn, wir sind, das weiß ein jeder, anerkannt als Eulen von Athen. Tschau!« Übrigens, das photographische Treiben der Familie, an allen belebten Punkten der Schweiz und zumal in St. Moritz, ist wirklich sehenswert, es zeigt die abgelegte Königswürde in allen Situationen, die natürlich kein Wiener, Berliner oder Pester Jud, dessen Adelsbrief die Kurliste ist, ungenützt vorübergehen läßt. Er stellt sach dazu; wird auch öfter vorgestellt. Der König hat das gern; er hält das, was ihm in Lugano passiert ist, für standesunwürdiger als den Umgang mit dem über die Grenze arrivierten Auswurf der Zentralstaaten. Er denkt: warum nicht, man ist im Leben nur einmal ein Märtyrer. Alles, was unter der Engadiner Sonne schiebt und rodelt, um den Krieg nicht in einem Erdloch zu verbringen, oder was sich kurzerhand an Bern »attachieren« ließ, um sich nicht erst in Wien entheben lassen zu müssen, wimmelt um die Majestät. Es sind Menschen und ich hatte sie mit Originalaufnahmen verwechselt. Aber was macht denn die Gräfin Julius Andrassy im Spital in Budapest? Sie läßt sich photographieren, während sie verklärten Blickes einem anscheinend den besseren Ständen angehörenden Helden einen Löffel Medizin verabreicht, den er mit zager Hand und im Vollgefühl der Situation gerührt entgegennimmt? Warum tut sie das, die Samariterin? Warum hat sie dem Photographen nicht gesagt, er möge warten, bis der Patient die Medizin genommen habe? Im Hintergrund hängt jene ominöse Balkankarte, bei deren Studium ein Conrad v. Hötzendorf überrascht wurde. Ob wohl solche Genrebilder in und vor dem Weltkrieg auch auf dem Balkan entstanden sind? Krankenpflegerin ist ein schöner Beruf, fürwahr, aber gleich darunter sind englische Frauen als Bahnarbeiter und das »Todesbataillon« der Petersburgerinnen zu sehen und auch diese Berufe stehen da, als ob sie wüßten, daß sie in die illustrierten Zeitschriften kommen werden. Wie anders die holde deutsche Maid dort, die sich lächelnd an einer Vorrichtung zu schaffen macht, die ein Brunnen sein dürfte. Sie windet wohl Wäsche, singt sich eins und so. Nicht doch. Die Gebrauchsanweisung steht darunter: »Die breiartige Pulvermasse wird durch eine Rohranlage mittels Druckes in die Zentrifugen geschwemmt und durch Schleudern vom Wasser befreit.« Das Ganze ist eine Abendstimmung und heißt: Aus einer deutschen Pulverfabrik. Die Sache will’s und freudig schafft die Maid. Ob auch sie weiß, daß sie, eine unter Millionen deutscher Frauen, ihre Züge im »Weltspiegel« schauen werde? Aber nicht immer ist es dem Photographen gewährt, das volle Menschenleben dort, wo es interessant ist, anzupacken oder die Zeit am sausenden Webstuhl zu erwischen. Während es zum Beispiel ohneweiters gelingt, den Justizsoldaten dabei zu ertappen, wie er Dokumente aus dem Caillaux-Prozeß zur Verwahrung in den Gerichtspalast bringt, eine Situation, die zwar äußerlich nichts Auffälliges hat und mit einem tausendmal geübten Verfahren eine Ähnlichkeit aufweisen dürfte, aber doch durch den Inhalt der Dokumente sehenswert ist — bedarf es der Intervention des Malers, um sich vorzustellen, wie Joseph Caillaux, der frühere französische Premierminister, in seinem Arbeitszimmer bei Anhörung seines Verhaftungsbefehles dasitzt, der ihm durch den Pariser Festungskommissär Priollet vorgelesen wird. Ein Photograph hatte nicht Zutritt, da es sich ja um keine so allgemein zugängliche Gelegenheit gehandelt hat, wie wenn ein Generalstabschef die Balkankarte studiert. Um so reichlicher ist die Ausbeute, die er auf der Straße vornehmen kann, unter den vielen offiziellen Persönlichkeiten, die eine Sitzung, und wäre es selbst die geheimste, verlassen oder sich in ein öffentliches Gebäude begeben. Die Quadrille dieser Schrittmacher, die gerade zum Veitstanz ausholen, der Fallsucht erliegen, von der Beriberi- Krankheit heimgesucht werden oder auch nur turnen wollen, tiefe Kniebeuge machen und dergleichen Allotria treiben, stellt sich bei jeder nur möglichen Gelegenheit zusammen. Darin sind sie alle, diese Persönlichkeiten, die der Photograph auf der Straße getroffen hat, einander gleich. Sie nehmen’s nicht ernst, sie sind zu allerlei Unfug aufgelegt. Wie besonnen dagegen die Haltung jener Auserwählten, die ihn ruhig in ihrem Heim erwarten können. Solche Aufnahmen, zumeist dem Reich der Kunst angehörender Individualitäten, dienen dann nicht nur einem längst gefühlten Bedürfnis, sondern bieten auch durch ihren idyllischen Charakter eine erfreuliche Abwechslung zwischen den Familienbildern der Munitionserzeugung. Da heißt es plötzlich: »Ein interessantes Paar«, aber nicht Hindenburg und Ludendorff sind es, sondern der bekannte Maler Eugen Spiro und seine Gattin Elisabeth Saenger-Sethe, die Tochter der ausgezeichneten Geigerin Irma Saenger-Sethe und des hervorragenden Publizisten Prof. Dr. S. Saenger, woraus vor allem die Erkenntnis hervorgeht, daß sie Spiro-Saenger-Sethe heißt. Gleich daneben scheint der Titel »Polnische Wirtschaft« auf arge Übelstände hinzuweisen, aber wir bekommen im Gegenteil das erfreuliche Bild zu sehen: Eine Kuh als Adoptivmutter verwaister Ferkel, und finden, daß dies im Grunde menschlicheren Charakter hat, als alles, was ringsherum an Szenen aus dem deutschen Kriegs- und Familienleben gezeigt wird. Diese Kuh scheint mir auch insofern Beachtung zu verdienen, als sie sich unbeobachtet fühlt und weit und breit das einzige Gottesgeschöpf ist, das ohne jede Pose seine Pflicht erfüllt und, nicht ahnend, daß sie’s für die »Woche« tue, vom Photographen dabei betreten wurde. Von der Bestimmung der Genreszene, die uns die gefeierte deutsche kgl. Hofschauspielerin Tilla Durieux mit ihren Lieblingstieren vorführt, dürfte wenigstens sie informiert gewesen sein. Während nämlich Margaret Wilson, die Tochter des amerikanischen Präsidenten, als eifrige Anhängerin des Schneeschuhlaufens in einer Stimmung ist, als ob sie heut der Welt eine Haxen ausreißen wollte, wirft die Durieux, deren Kleid, Tischdecke, Sophakissen und Papagei das gleiche kunstgewerbliche Muster aufweisen, diesem, dem Papagei, einen strengen Blick zu. Es scheint sich da um eine mindestens so ernste Angelegenheit zu handeln wie dort beim Abfeuern eines deutschen Fliegerabwehrgeschützes; daß es, wenn einmal festgehackt, nach oben und unten schießen kann, ist selbstverständlich. Aber nicht alle Berliner können jetzt ihres behaglichen Heimes froh werden. Da laut einer Verordnung des Berliner Stadtmagistrates die Hausbewohner den Schnee vor ihren Häusern kehren müssen, was manch einen Berliner schon zur schlagfertigen Anwendung des Sprichwortes, daß jeder vor seiner Tür zu kehren habe, veranlaßt hat, so begeben sich heute alle Stände ohne Unterschied des Standes an die Schneeschippearbeit. Voran zwei schicke Jöhren, die sonst lieber in die Reinhardtschule gehen; dann ein älterer Schieber im Pelz; in einiger Entfernung, die Schaufel auf die leichte Achsel nehmend, ein resignierter junger Mann, sein Liedchen trällernd, ehedem mag das Trottoir der Friedrichstraße seine Domäne gewesen sein, nun muß man’s hinnehmen; zum Schluß der Reihe der Rechtsanwalt Krotoschiner II. Was ist das aber gegen das Straßenbild, das Bern bietet, wenn der Neujahrsempfang der bei der Schweiz beglaubigten fremden Diplomaten im Bundeshause stattfindet? Sie gehen alle dahin, die Männer, deren Beruf der überlebende Teil der Menschheit eine pietätvolle Erinnerung bewahrt. Ja, das sind sie alle, die ihr Möglichstes getan haben, die für ihr Vaterland repräsentieren, spionieren, koitieren, Bridge spielen und die, was immer man gegen sie einwenden möge, alles in allem ihre verfluchte Pflicht und Schuftigkeit tun. Ja, so sind sie, die Herren vom diplomatischen Corps de ballett, so sehen sie aus, so gehen sie, jeder Staat auf seine Art, zu Neujahr ins Bundeshaus. Die Engländer schicken sich an, die Belgier zögern, die Italiener schreiten, die Serben springen, die Amerikaner gehen, die Franzosen spazieren, die Deutschen marschieren, na und die Österreicher? Die stehen da und lassen sich photographieren. Der Unterschied ist exemplarisch: wie die Bundesbrüder es ernst nehmen, eine förmliche Offensive gegen das Bundeshaus durchführen und egal druff losgehen zum Neujahrsempfang, während die Unsern es so aufzufassen scheinen, daß sie nunmehr das ganze glückliche neue Jahr hindurch damit beschäftigt sein werden, auf die Gratulation zum nächsten zu warten. Wir sind die einzige Vertretung eines europäischen Staates, die dem Leser eines illustrierten Blattes direkt vis-à-vis steht. Alle machen ein freundliches Gesicht und der uniformierte Feschak in der Mitte freut sich sichtlich, daß er hier sein kann und nicht dort sein muß, wo der Neujahrsempfang von Handgranaten bereitet wird. Sehn’s so heiter ist das Leben bei uns in Bern ... Aber was ist das! Fasching in Flandern? Maskenscherze unweit hinter der Front? Vor einem Hexenkessel sitzt etwas Undefinierbares und hält etwas Undefinierbares auf dem Schoß. Walpurgisnacht. Deutsche Kavallerie reitet über den Blocksberg. Und da müssen denn Mutter und Kind in ihrer ausgeräumten Hütte sitzen und: »tragen beständig Gasmasken«. Das Kind wird vor dem Wolf in Großmutters Bett nicht mehr erschrecken. Aber es lernt das Gruseln wieder, wenn man ihm dereinst erzählt, daß dies und das und noch etwas und überhaupt alles für den Weltspiegel geschah.

Rotkäpchen

Vgl.: Die Fackel, Nr. 474-483, XX. Jahr
Wien, 23. Mai 1918.