Oktober 1918
Das verjüngte Österreich
Das Wunder dieser Stunden vor dem Kehraus ist die scheinbare Unveränderlichkeit einer Lebensform, die sich auf dauernden Bestand eingerichtet hat und vorbei an der nur in Druckerschwärze erlebten Kriegshölle, vorbei an Lues und Läusen aus einer Friedenswelt in eine Friedenswelt herüberzuleben hofft. Wäre, wenn’s mit rechten Dingen zuginge, die seit jeher fühlbare Erscheinung, daß nur Schwachköpfe und Windbeutel das öffentliche Interesse okkupieren, in solcher Verdickung derzeit möglich? Wäre es denkbar, daß hinter der Realität von Tanks, Flammenwerfern, Minen und Grünkreuzgranaten solch ein Gekröse im Nebel der Redensarten fortwuchern könnte und die Frechheit hätte, von »geistigen Waffen« zu reden? Daß die zweibeinigen Phrasen es wagen würden, unsern tausendmal erlebten Überdruß so schamlos zu ignorieren und als Entschädigung für allen tragischen Verlust dieser Zeiten, für den organisierten Raub an Gut und Blut, für den gottlosen Eingriff in Glück und Leben und alle Schicksals- und Schöpferrechte sich selbst uns anzubieten, ihr Nichts, ihr Minus, das, an unser Dasein angehängt, es bankerott macht? Die Qual der Sicherheit, im täglichen Zeitungsblatt die Anwesenheit dieser Konkursmasse festzustellen, den täglich überbotenen Exaltationen dieser von Fibelromantik geblähten Saldokontowelt, diesem Gefühlsbarock einer ausgearteten Mechanik beizuwohnen, ist wahrlich ein grausameres Verhängnis als alle Schmach, die die infamste aller Zeiten den Körpern angetan hat. Hunger ist nichts neben dem Erdulden der Vorstellung, daß gleichzeitig an Tafeln so etwas von so etwas gesprochen wurde und daß es Ohren gibt, die es gehört haben. Kam es aus Mündern? Sind diese Menschen wie wir geschaffen? Den Magen haben sie, wo wir das Herz haben. Kein Zwerchfell scheidet ihr Oben und Unten, darum erschüttert sie kein Gelächter über sich selbst. Wer aber, der lachen könnte, wo ein Treubund zum Vorwand für Nachtmähler dient, vermöchte das Erlebnis dieser reichsdeutschen Kollegenwoche, diese Orgie einer Verlogenheit, die die Welt noch immer für ein mit Butzenscheiben verziertes Warenhaus ansieht, nachzuschildern? Die grauenvolle Zuversicht einer Taubheit, die keine Stummheit ist, und einer Blindheit, die den Aschermittwoch des tragischen Karnevals nicht herankommen sieht, das Lallen eines Optimismus, der die Menschheit ringsherum für so verblödet hält wie ihre Wortführer, das unbewegte Anbieten desselben falschen Papiers, das Ehre, Vorsicht und der Ekel an solchen Versuchen hundertmal abgelehnt haben, diese unerschrockene Belästigung einer Menschenwürde, die sich mit den Händen nur die Ohren zuhält, weil sie noch nicht die Kurage hat loszuhaun — wer, der Nerven hatte, es zu überstehn, hätte die Kraft es abzubilden? Nein, es ist das Wunder dieser Stunden, daß die Larven und Lemuren, daß die längst Toten, denen wir den Untergang verdanken, ihm mit zuversichtlichen Mienen assistieren können, ja daß sie, von keiner Hohnfalte des Schicksals oder der Satire in ihr Nichts gescheucht, uns eine verschönte Welt, eine erhebende Zeit, ja ein »verjüngtes Österreich« vorzuspiegeln wagen. Und für den unwahrscheinlichen Fall, daß die Zukunft dieser Welt und dieses Staates noch einige Aufnahmsfähigkeit für die Möglichkeiten der Gegenwart übrig haben wird, sei ihr der Trinkspruch, den der Führer des geistigen Wien, ein ehemaliger Börsenjournalist, vor den Vertretern des geistigen Berlin gehalten hat, aufbewahrt:
Betrachte ich die Versammlung, so entrollt sich mir ein erhebendes Bild. Vor meinem geistigen Auge schweben die Genien der Freundschaft und der Treue. Der Bund, der vor mehr als 40 Jahren geschlossen wurde zur Abwehr habgieriger Feinde und zur Verteidigung unseres Seins, der Bund, um den der fürchterliche Weltbrand wütet, hat die Feuerprobe bestanden. Das Herzblut des Volkes hat den Bund besiegelt. Treue und Freundschaft den Bürgen und Zahlern. Rückhaltlos haben die beiden erlauchten Herrscher, die jetzt mit Krone und Zepter beliehen sind, den Bund als heiliges Erbe übernommen, in Treue gehütet und mit dem Volk in Waffen unerschüttert aufrechterhalten. Den beiden Fürsten, die den Willen und die Stärke des Volkes, dessen volles Empfinden und friedfertiges Sehnen verkörpern, den Trägern der staatlichen Machtfülle, bringen die Männer, die den Pulsschlag der öffentlichen Meinung hören, bringen alle, die hier im Saale vereinigt sind, in geziemender Ehrerbietung ihre Huldigung dar.
Um dem Ausdruck zu geben, gestatten Sie, daß ich Sie einlade, ein dreifaches Hoch auf Se. Majestät Kaiser Wilhelm II. und Se. Majestät Kaiser Karl I. auszubringen. Hoch! Hoch! Hoch!
Freundschaft und Treue, wiederhole ich, geben der heutigen Festversammlung das Gepräge. Sendboten unserer treuesten Freunde sitzen an der heutigen Tafel. Ich grüße die Herolde, die mit der geistigen Waffe für den Treubund kämpften, ich grüße die Abgesandten, ich kann sagen, die außerordentlichen Gesandten der reichsdeutschen Presse, wenn Sie wollen, des deutschen Volkes.
Aus der mächtig und prächtig aufgestiegenen Metropole und aus anderen uns trauten, blühenden Städten des deutschen Reiches, aus München, Frankfurt, Hamburg und Königsberg sind Sie nach Wien, in die altehrwürdige Stadt an der Donau, gekommen. »Deutsch ist der Strom, er brauste schon im Lied der Nibelungen«, so rief Anastasius Grün den Nord- und Süddeutschen zu, die im Jahre 1868 zum Schützenfeste sich in Wien eingefunden hatten. Auf deutschem Boden, wo das deutsche Lied aus dem deutschen Herzen klingt, heiße ich Sie, meine lieben Kameraden, von ganzem Herzen willkommen ... Es ist ein bis in die ältesten Zeiten reichender schöner Brauch, daß Gesandte mit allem erdenklichen Prunk und Glanz empfangen werden. Diesen Prunk und Glanz bieten uns die hohen Staatswürdenträger und die vielen anderen illustren Persönlichkeiten, die unserer Einladung Folge zu leisten die Güte hatten.
Aus Freundschaft und Treue quellen Anerkennung und Dankbarkeit. Wenn die mordenden und sengenden Eindringlinge vertrieben sind und wenn kaum ein Stückchen unseres heimatlichen Bodens von Feinden besetzt ist, wenn wir bei aller Entbehrung und Entsagung, die ja auch unsere Widersacher bedrängen, in hoffnungsvoller Stimmung am häuslichen Herd sitzen dürfen, so danken wir dies den tapferen Soldaten, die mit ihren Leibern einen unüberwindlichen Wall um uns bilden, und den ruhmreichen Feldherren, die an der Spitze unserer Armeen stehen ...
... Das Bleibende »in der Erscheinungen Flucht« ist die Presse. Ich sage nicht »der ruhende Pol«, denn die Presse ist ruhelos, in fortwährender Bewegung, sie ist das Perpetuum mobile. ..
Wir, meine lieben Kameraden aus dem Deutschen Reiche, sind zu jeder Stunde für den Treubund eingestanden, alle, ohne Unterschied der Parteien ...
Lassen Sie mich mit einigen Versen aus dem Bundesliede schließen, das Ernst Moritz Arndt vor mehr als hundert Jahren ertönen ließ:
Es lebe alte deutsche Treue,
Es lebe deutscher Glaube hoch!
Mit diesen wollen wir bestehen,
Sie sind des Bundes Schild und Hort.
Fürwahr, es muß die Welt vergehen,
Vergeht das feste Männerwort ...
Ich erhebe mein Glas auf die unerschütterliche, unverbrüchliche Einigkeit der bundestreuen Presse im Deutschen Reiche und in Österreich-Ungarn. Hoch! hoch! hoch!
Vgl.: Die Fackel, Nr. 484-498, XX. Jahr
Wien, 15. Oktober 1918.