Oktober 1916
Der soziale Standpunkt vor Tieren
Die sozialdemokratische Presse findet ihr tragisches Durchkommen zwischen jener größeren Organisation, die das Menschentum tief unterhalb allen freiheitlichen Bestandes, also aller politischen Daseinsberechtigung verschüttet hat, und jenem allein bewahrten Rest von Menschlichkeit, der sie auf die Pflicht der Zeugenschaft nicht verzichten lassen will. Diesem Widerspruch, zu bestehen, wo sie nicht mehr bestehen kann, wird sie durch ein Nebeneinander von Strategie und Dokumentensammlung gerecht, so daß vorn entweder die Zufriedenheit der Kölnischen Zeitung oder gar, wenn’s die Leistungen eines Unterseebootes gilt, die Einbildungskraft der Neuen Freien Presse erreicht wird, und gleich daneben Tatsachen hinausgestellt werden, deren himmelschreiender Inhalt von jener Sphäre bezogen ist, deren Ereignisse eben noch aus einer denkbar unrevolutionären, sachlich beruhigten oder weltzufriedenen Gemütslage gewürdigt wurden. Ob nicht ein besserer Ausgleich zwischen dem Zustand der Welt und dem durch ihn erledigten Standpunkt der Entschluß gewesen wäre, sich auf eine Sammlung von Tatsachen zu beschränken und auf jede Meinung zu verzichten, die vorweg im Verdacht ist, eine erlaubte Meinung, eine mit dem größten Exzeß der Gesellschaftsordnung zufriedene zu sein, bleibe unerörtert. Jedenfalls ist die gewissenhafte Aufreihung jener Fakten, die der Menschheit den Krieg als ein abschreckendes Beispiel vorführen sollen, der einzige Fall von publizistischer Sauberkeit, den die schmutzigste Epoche aufzuweisen hat, anerkannt auch von deren einsichtigeren Akteuren als ein Beweis, daß die weltflüchtige Menschenwürde sich immerhin in zwei bis drei Wiener Zeitungsspalten niederlassen darf; als eine Ausnahme von jener furchtbaren Regel, nach der diese schwer verwundete Menschheit sich noch eine Blutvergiftung durch Druckerschwärze zuziehen mußte. Und auch diesem Unglück sucht die heilsame Arbeit der sozialdemokratischen Chronik nach Kräften entgegenzuwirken, aus der ehrlichen Erkenntnis, daß die bürgerliche Journalistik die niedrigste Gattung unter jenen Lebewesen vorstellt, die der Krieg übrig gelassen hat. Um so betrüblicher erscheint die daneben beobachtete Neigung, den eigentlichen Tieren gegenüber auf einem vorrevolutionären Standpunkt zu beharren, ihnen nicht nur die von Schopenhauer zuerkannten Rechte, sondern sogar das Erbarmen zu versagen, das der Gerechte aufzubringen hat — ja geradezu dort, wo der Sammler von Menschengreueln auf werktätige Sympathie für Tiere stößt, solche Regungen als Kontraste zum Welttreiben höhnisch abzutun. Er hat nicht genug ironische Punkte und Gedankenstriche, einen englischen Aufruf »zugunsten ... unserer stummen Freunde«, nämlich der Pferde, zu verspotten, der ihm um so lächerlicher erscheint, als der Schutz auf die Pferde aller kriegführenden Länder ausgedehnt werden soll. Aber ganz abgesehen davon, daß dieser internationale Standpunkt eine Kostbarkeit in einer Zeit ist, in der von den drei großen Internationalen nur die journalistische sich ausleben konnte, und daß solcher Gedanke sittlich hoch über der Kriegslyrik eines Richard Dehmel steht, der den deutschen Pferden eine besondere Offensivkraft zugetraut hat — ist es ein Denkfehler, hier bitter zu werden und einen frivolen Gegensatz zu den in den Krieg oder in die Munitionsfabrik gestellten Menschen zu behaupten. Der Unterschied ist ein ganz anderer, nämlich der, daß die Menschen, so unschuldig jeder einzelne von ihnen an seinem Schicksal sein mag, alle zusammen es verschuldet haben, indem sie den Willen hatten, die Maschine zu erfinden, die ihnen den Willen nahm, während doch den Pferden an einer technischen Entwicklung, die ihre Sklaverei verschärft hat, keinerlei Anteil nachzuweisen wäre. Den Pferden ist nicht der Hunger versagt, wohl aber eine Organisation, durch die sie es ihren Vorgesetzten wenigstens kundmachen könnten, daß auch sie im Krieg mehr hungern als im Frieden. So ganz verschlossen sollte sich das Sozialgewissen nicht vor dem Umstand zeigen, daß in dieser Welt, die sich zu helfen weiß, ein Surrogat für Futter auch mehr Peitschenhiebe sein können. Man muß schon die Scheuklappen des Pferdes haben, um nicht täglich auf der Wiener Straße zu sehen, wie sich die Bestialität am Tier für die schlechten Zeiten schadlos hält. Es ist ferner auch vollkommen blicklos, sich über eine deutsche Gräfin, die ihrem magenkranken Hund Suppe gegeben hat und wegen Verfütterung von Brotgetreide gerichtlich verurteilt wurde, über die Krankheit des Hundes also und über dessen Pflege in Sperrdruck lustig zu machen. Wenn wir uns selbst die Verfütterung von Getreide für einen bestimmten Hund als eine Grausamkeit gegen einen unbestimmten Menschen konsequent zu Ende denken könnten, so müßten wir uns doch wieder fragen, ob nicht die Gesamtheit der unschuldigen Menschen, die durch solches Verhalten zu Schaden kommt, mehr Schuld hat an der Misere als die Gesamtheit der unschuldigen Tiere. Zwischen dem mir bekannten Menschen und dem mir bekannten Hund kann ich, wenn’s sein muß, entscheiden, welches von beiden Individuen mir »näher steht« — zwischen den beiden Gattungen bleibt mir im Anblick des Benehmens der einen gar nicht die Wahl. Und wie erst, wenn ich zwischen dem mir befreundeten Hund und der menschlichen Gesamtheit zu wählen habe? Dies eine Tier, nicht jener Mensch, dem ich die Nahrung verkürze, steht vor meinen Augen, leidet, und ich mache gar kein Hehl aus dem Zynismus, mit dem ich, jeder sozialpolitischen Phantasie ermangelnd, das Bequemere tue und meine Nächstenliebe dem bedürftigen Nächsten zuwende. Eine weit bessere Phantasie belehrt uns, daß die Menschlichkeit, die dem kranken Hund hilft — und wäre es nur der eigene Hund —, mehr einer Menschheit hilft als alle Organisation der Nächstenliebe, die doch zu schwach war, jene des Nächstenhasses zu verhindern. Solange die Charitas, die eine Pflegerin am Tier betätigt, nicht nachweislich dem Zweck unterstellt ist, es wieder kriegstauglich zu machen, ist gegen ihre Sittlichkeit nichts einzuwenden, und die deutsche Aristokratin, von der die Gerichtssaalrubrik erzählt, hebt sich recht vorteilhaft von jenen Standesgenossinnen ab, die in der Theaterrubrik erwähnt werden, weil sie an einer Vorstellung des »Hias« mitgewirkt haben. Wenn die deutsche Gräfin, die in der Zeit der Not ihre Hunde nährt, verhöhnt wird, so müßte die deutsche Artistin, die sich in der Zeit der Not von ihren Hunden nährt, Anerkennung finden. Solche Konsequenz würde aber allzu grausam dem Bestreben der Arbeiter-Zeitung, Spuren von Menschenwürde im Schutt der großen Zeit zu entdecken und zu erhalten, widersprechen. Wenn ich Notizen sehe, die den Titel führen »Pferde und Menschen« oder »Die magenleidenden Hunde der Gräfin«, so fände ich es schön, wenn darin beklagt würde, daß die Pferde jetzt durch die Menschen ins Unglück gekommen sind und daß magenleidende Hunde jetzt nichts zu essen haben. Denn durch die Hilfe, die sie den Tieren entzieht, wird sich die Menschheit nicht auf ihre Beine helfen und nicht von ihren Prothesen.
Vgl.: Die Fackel, Nr. 437-442, XVIII. Jahr
Wien, 31. Oktober 1916.