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Mai 1918

Der begabte Czernin

Dieser Aufsatz, in der Schweiz entstanden, ist, da er in der Fackel erscheint, von der Zeit überholt. Älteren Aufsätzen der Fackel haftet dieser Fehler nicht mehr in demselben Maße an, und je weiter sie zurückliegen, um so weniger. So besteht denn die Hoffnung, daß auch er die Zeit überholen wird. Bis dahin sollten ihm die Leser erspart bleiben, deren Aufmerksamkeit vom Zeitpunkt abgelenkt ist. Sie mögen sich mit der Versicherung begnügen, daß der um die Aktualität unbesorgte Verfasser einen vom Krieg handelnden Aufsatz lieber nach dem Friedensschluß als vorher erscheinen lassen wollte.

Immerhin ist es schon ein Fortschritt, daß ein von einem Minister handelnder Aufsatz nach dessen Demission erscheint, wenngleich auch nach der Verleihung des Ehrenbürgerrechtes von Wien, dessen die dankbare Gemeinde einen Mann für würdig erachtet, dem sie das Wort vom Brotfrieden und das Versprechen von Getreide aus der Ukraine, also unter allen Umständen die Befriedigung unserer Nahrungsphantasie verdankt. Wer für den übrigen Reichtum an Ehren, der sich dem Grafen Czernin jetzt darbietet, um eine Erklärung verlegen ist, sollte nicht übersehen, daß dieses Land auch unbegrenzte Möglichkeiten hat, geniale Staatsmänner hervorzubringen. Es bedarf zu einem solchen bloß der Erkenntnis, daß die hier zusammenwohnenden Nationen, vor allem Tschechen und Deutsche einander mit grimmigerem Hasse verfolgen, als jede der Gruppen jeden der Feinde, und des Mutes, von der amtlichen Norm, die ein verbindliches Lächeln zwischen den Gegensätzen vorschreibt, einmal abzuweichen. Hat sich ein österreichischer Staatsmann zu dem Entschluß durchgerungen, die eine der beiden Parteien des Hochverrats zu beschuldigen, so kann er sicher sein, solange er sichs nicht überlegt, von der andern mit Kundgebungen gefeiert zu werden, vor denen die Popularität des entlassenen Bismarck sich ins Kleingedruckte der Weltgeschichte zurückzieht, wiewohl doch weder die Gedanken noch die Erinnerungen des Grafen Czernin darnach angetan sind, die Klio zu einer Umgruppierung zu veranlassen. In Wahrheit hat die Gewöhnung an die Erlebnisse der Quantität seit dem Jahre 1914 uns vergessen lassen, daß vordem schon der zehnte Teil einer heutigen Weltblamage ausgereicht hätte, um einen Minister des Äußern zu Falle zu bringen. Die meisten Betrachter sehen an dem Grafen Czernin nur den Vorzug, sich zu seinem Nachteil von den Standes- und Amtsgenossen durch den Mangel an Formen zu unterscheiden, und da in dieser beispiellosen Zeit die schillernde Mittelmäßigkeit für Persönlichkeit gehalten wird, so glaubt man allgemein, es sei schon das höchste Glück der Erdenkinder, kein Burian zu sein. Man vergißt, daß das zwar viel, aber bei weitem noch nicht alles ist. Immerhin wäre doch auch ein Maßstab denkbar, nach dem der Graf Czernin in der Weltgeschichte etwa als der Mann fortleben würde, der dem Präsidenten Wilson die Antwort schuldig geblieben ist und der sich später nur sehr unzulänglich damit entschuldigt hat, daß sie ihm der deutsche Reichskanzler aus dem Munde genommen habe. Ob ihn freilich sein Schweigen mehr als sein Reden dem Dank der Nachlebenden empfehlen möchte, müßte dahingestellt bleiben; denn als der Mann der zweiteiligen Rede, der Kant und Krupp zur Einheit verbunden hat, wird der Graf Czernin so bald nicht aus dem Gedächtnis verschwinden. Nach diesem Höhepunkt mußte es rapid abwärts gehen. Später, als er vor erstaunten Gemeinderäten den Grundstein zum Wiener Ehrenbürgerrecht legte, hat er nur die Konsequenz aus seiner Budapester Haltung gezogen. Nichts blieb ihm übrig, als den Konflikt zwischen den zwei Seelen in seiner Brust auszutragen und die Bekenner des ersten Teils seiner Rede als Defaitisten, die Anhänger des zweiten Teils als Annexionisten zu tadeln. Freilich, die schöne Angelegenheit Clemenceau, in der die ehrliche Verlogenheit unserer Presse es Schritt für Schritt ermöglicht hat, die Wahrheit zu erkennen, die auszusprechen der Wahrhaftigkeit noch lange nicht möglich sein wird, wäre uns und der Welt erspart geblieben, wenn statt eines Genies ein Fadian regiert hätte. Die Frage, ob der Graf Armand sich dem Grafen Revertera verwandter gefühlt hat, als der Graf Revertera dem Grafen Armand, ist nicht zu erörtern und auch sonst hat sich viel zugetragen, woran nicht zu drehn noch zu deuteln ist. Immerhin kann man sagen und von Glück sagen, daß die Persönlichkeit des Grafen Czernin dessen Amtsführung überlebt hat, da doch leicht der umgekehrte Fall hätte eintreten können. Er hat von sich selbst erklärt, er gehöre dorthin, wo die Frieden geschlossen werden. Wünschen wir ihm und uns, daß die Frieden, die er geschlossen hat — inklusive den Brotfrieden — sein Gewissen dereinst nicht schwerer belasten mögen, als der Krieg das Gewissen jener, die ihn beschlossen haben, und daß der Anlaß zu der hier veröffentlichten Betrachtung, so überholt er im Augenblick ist, nicht dereinst wieder aktuell werde.

Während unser Seidler mitten im Weltkrieg als Dramatiker durchgefallen ist und dadurch vor weitern Allotria bewahrt bleibt, hat unser Czernin sich leider als vorzüglicher Feuilletonist bewährt, und so peinlich es ist, einen Ministerpräsidenten zu haben, der im Deutschen Volkstheater gespielt wurde, so ist es doch noch viel betrüblicher, daß ein Minister des Äußern den Zeitpunkt der europäischen Heilsbotschaft mit einer Gewandtheit verspielt, die ihn in der Art, vor dem jüngsten Gericht die scherzhafte Zeugenmiene aufzusetzen, Talenten wie Hirschfeld überlegen erscheinen läßt und an sonnigem Naturburschentum Hans Müllern an die Seite rückt. Schon der echt feuilletonistische Einfall, die Renaissance der christlichen Idee an eine Frist zu binden, nach deren Ablauf die weltzerstörenden Gewalten sich nicht mehr gebunden erachten, hat ja Chefredakteuren die Bewunderung des geschickten »Handgriffs« abgerungen. Nach dem Canossagang zum Antichrist und nachdem die Preßkanaille aller offiziösen Schattierungen auf Wilsons Vorschlag losgelassen wurde, folgte die zweite evangelische Causerie, die diesmal schon in der gleichzeitigen Hertlingschen Absage befristet war, so daß sich — man sollte keine der beiden Reden aus dem Zusammenhang beider reißen — das Ganze als eine in der diplomatischen Belletristik neue und reizvolle Etüde, so zwischen Janus und doppelter Buchhaltung, herausstellte. Während im allgemein menschlichen Teil Hertling, Biograph des heiligen Augustinus, mehr Gewicht auf die bekannte Frage, wer angefangen hat, legte, war Czernin durchaus zum Aufhören bereit und dem ausgesprochenen Verzicht auf den Verzichtfrieden, der jenem gelang, entsprach dieser durch einen deutlich unausgesprochenen Nichtverzicht auf Annexionen. Im neutralen Ausland, übermittelt durch das Wiener Korrespondenzbüro, las man’s so:

... der Minister nahm keinen Anstand zu erklären, daß er in den letzten Vorschlägen Wilsons eine bedeutende Annäherung an den österreichisch-deutschen Standpunkt finde, und daß darunter sich einzelne befinden, denen wir sogar mit großer Freude zustimmen können. Der Minister müsse aber vorausschicken: 1. daß er, soweit diese Vorschläge sich auf unsere Verbündeten beziehen, bezüglich des deutschen Besitzes von Belgien und bezüglich der Türkei, getreu den übernommenen Bundespflichten, für die Verteidigung der Bundesgenossen bis zum Äußersten zu gehen fest entschlossen sei. Den vorkriegerischen Bestand unserer Bundesgenossen werden wir verteidigen wie den eigenen.

Das war nun freilich noch deutlicher als man es erwartet hätte, und nur wer wie ich weiß, daß ein fehlendes Komma den Sinn der Schöpfung umdrehen kann, erkannte zur Not, daß hier so etwas passiert sein müsse. In einem auch sonst durch die Geschicklichkeit unseres Korrespondenzbüros verstümmelten Satz mußte an der entscheidenden Stelle die Trennung, die das Schwert der Interpunktion zwischen dem deutschen Besitz und Belgien immerhin bewirken möchte, aufgehoben sein. Aber wer denn außer mir wäre Pedant genug, derlei für wesentlich zu halten? Worte entscheiden zwar jetzt über die Eventualität, ob hunderttausend Menschen auf einen Gashieb umkommen sollen, und ob noch etliche Millionen sterben müssen, ehe das entscheidende Wort gesprochen wird — aber auf einen Beistrich wird’s doch nicht ankommen? Als ich’s in der Neuen Zürcher Zeitung las, dachte ich an die Aufgabe, die sich hier dem Übersetzer bot, der’s soeben der französischen Presse telegraphierte. Wie das wirkte, war am übernächsten Tage zu lesen:

Paris — — — Bedenklich sei, daß Graf Czernin sich hinsichtlich Belgiens so undeutlich äußere.

Nun, der Schreibfehler war nur Trabant und Helfer der Undeutlichkeit und da schließlich selbst das Wiener Korrespondenzbüro einsieht, daß, wenn auf ein richtig geschriebenes Wort ein Regiment Toter komme, ein falsch geschriebenes eine Division kosten kann — nach diesem Kriege wird auch die übrig gebliebene Menschheit mit mir die Gefahren des Drucks überschätzen —, so erschien in der Neuen Zürcher Zeitung die folgende von mir annähernd antizipierte

BERICHTIGUNG ZUR REDE DES GRAFEN CZERNIN.

Das Wiener Korr.-Bureau ersucht uns, in der Rede Czernins bei der Erwähnung der Wilsonschen Vorschläge folgendes richtigzustellen: Der Minister müsse aber vorausschicken 1. soweit sich die Vorschläge auf unsere Verbündeten beziehen — es ist von dem deutschen Besitz, von Belgien und vom türkischen Reich darin die Rede —, erkläre ich, daß ich getreu den übernommenen Bundespflichten ...

Ich glaube nicht, daß viele Leser die winzig gedruckte Notiz bemerkt, auch nur wenige die Rede nachgelesen haben und daß der Fall einem unserer für Bridgespielen bezahlten Berner Diplomaten Kopfzerbrechen verursacht hat. Nur der Prinz Alexander zu Hohenlohe — einer jener spärlichen Deutschen, die durch menschenmögliches Denken um eine Berichtigung der internationalen Ansichten über Deutschland bemüht sind — stellte in eben jener Zeitung fest:

In der ersten Übermittlung seiner Worte war durch Weglassung eines Kommas der Satz arg entstellt worden, und es war von einem »deutschen Besitz von Belgien« die Rede, was zu den verschiedensten Auslegungen Anlaß geben konnte.

Nun kann man nicht oft genug sagen, daß nicht nur der Stil, sondern auch der Druckfehler der Mensch ist und daß dergleichen nebst den »verschiedensten Auslegungen«, die die Folge sind, den Staatsmännern der Zentralmächte keineswegs passieren könnte, wenn sie sich hinsichtlich Belgiens einmal deutlich äußern wollten. Der Graf Czernin sagt in dem, was er sagen wollte, auch nicht gerade etwas, was nicht zu den verschiedensten Auslegungen Anlaß geben könnte. Er koordiniert den deutschen Besitz und Belgien, indem er sie als Inhalt der Wilson’schen Vorschläge zitiert, und gibt, indem er hinterdrein von der Verteidigung des »vorkriegerischen Bestandes« spricht, zu verstehen, daß Österreich für die deutschen Ansprüche auf Belgien, das ja selbst nach Ansicht des Wolffbüros nicht zum vorkriegerischen Bestand des Bundesgenossen gehört, eigentlich, nun ja, allerdings, vermutlich nicht eintreten werde. Es ist für den delphischen Charakter dieser Auffassung bezeichnend, daß selbst die Berichtigung nicht nur als solche wertlos, sondern geradezu eine Handhabe für weitere Auslegungen war; denn bei Weglassung des Schlusses vom vorkriegerischen Bestand — und welcher Leser nimmt sich wie gesagt die Mühe, auf den berichtigten Druck zurückzugreifen —, wird trotz dem eingesetzten Komma noch viel weniger als in der fehlerhaften Fassung gesagt, was Österreich von Belgien eigentlich halte; im Gegenteil erweckt nun der pathetische Ausklang in die übernommenen Bundespflichten erst recht den Eindruck, daß eben diese sich auf Belgien beziehen sollen, welches ganz so wie der deutsche Besitz und wie das türkische Reich verteidigt werden sollen, und daß die Berichtigung eben den Zweck habe, gegen alle Mißdeutungen der Bündnistreue jene Absicht zu unterstreichen, gegen allen Glauben an unsere Besinnungsfähigkeit, der nach der ersten Fassung immerhin noch Platz greifen konnte — denn damals konnte ein aufmerksamer Leser vielleicht doch auf den Sinn kommen, nämlich den unseres Wunsches, nur den vorkriegerischen Besitzstand zu verteidigen, und schließlich merken, daß hier ein Druck- oder Schreibfehler passiert war. Die kluge Berichtigung unseres Korrespondenzbüros, die erst der Prinz Hohenlohe erläutert hat, mußte wie eine Korrektur der richtigen und nicht der falschen Auffassung wirken, wie eine feierliche Betonung der Absicht, die übernommenen Bundespflichten getreu auch auf Belgien zu erstrecken. Und wenn der Graf Czernin selbst das Glück hat, in England eine Presse zu finden, die sich bemüht, seine Gedanken über Belgien zu erraten, wer schützt ihn und seine Völker gegen eine mißdeutende feindliche Regierung, der die Preßagenturen einen Text zutragen, welcher das vom Wiener Korrespondenzbüro gelieferte Monstrum in getreuer Übersetzung wiedergibt — und darum für gefälscht gilt? Daß von der kleinlichen Korrektur, wie sie mir beliebt, bis zur blutigen Lesart von Versailles ein Schritt sein kann, dürfte die folgende Meldung mit erschreckender Deutlichkeit dartun:

Amsterdam, 11. Februar. Die »Daily News« bezeichnen die amtliche Erklärung über die Ergebnisse der Versailler Konferenz ... als beunruhigend, insbesondere die bemerkenswerte Entscheidung, daß die Rede des Grafen Czernin keiner Erwiderung wert sei. Ein wichtiger Teil dieser Rede sei von den Preßagenturen ganz anders wiedergegeben worden, als er in dem von den deutschen Blättern mitgeteilten Original lautet. Die, wie die »Daily News« andeuten, vielleicht nicht bloß versehentlich unterlaufene Entstellung eines wichtigen Teiles der Rede des Grafen Czernin bei der Übermittlung an die englische Presse wird von dem Blatte durch Gegenüberstellung der vom Reuterschen Büro verbreiteten Fassung und der Übersetzung des Originaltextes dargetan. Das Blatt wolle es unerörtert lassen, wen die Verantwortung für die Entstellung bei der Wiedergabe der Rede des Grafen Czernin treffe; es halte es aber für außerordentlich wichtig, festzustellen, ob der Versailler Konferenz bei der fraglichen Entscheidung die falsche Fassung der Rede des Grafen Czernin vorgelegen war oder aber der amtliche Text, der in Verbindung mit der warmen Zustimmung zu der Botschaft des Präsidenten Wilson an den Kongreß ein sehr bezeichnendes Abgehen von einer Eroberungspolitik erkennen lasse. Wir vermögen, schließt das Blatt, die in Versailles eingenommene Haltung mit dem amtlichen Text der Rede des Grafen Czernin nicht zu vereinen. Das Parlament muß daher auf einer Aufklärung bestehen ...

Auch der »Manchester Guardian« widmet dieser Angelegenheit einen Leitartikel, in dem er sagt: Der Unterschied ist sehr bedeutend, und es ist nicht leicht verständlich, wie die telegraphische Fassung so schlimm mißraten konnte. Da die Richtigkeit der Meldungen von förmlichen Erklärungen der feindlichen Staaten von der größten Bedeutung ist, so ersuchen wir die Behörden, Ermittlungen darüber anzustellen, wie die Irrtümer in diesem Falle entstanden sind.

Das wäre nicht schwer zu ermitteln. Die Lügen des Auslands sind oft unsere Wahrheiten und zur eigenen Lücke bedarfs nicht der feindlichen Tücke. Wenn die diplomatische Sprache die ihr gewachsene Reportage findet, so darf man sich über Schwerhörigkeit in weit entfernten Gegenden nicht wundern, sondern muß eben in Geduld zuwarten, bis die Technik, die das Hindernis der Entfernung bei Gasangriffen aus dem Wege geräumt hat, auch für die ungestörte Gedankenübertragung Vorsorge trifft. Wir haben es erlebt, daß ein nicht unwichtiger Funkspruch der russischen Regierung, jener Aufruf »An alle!«, der den Waffenstillstand angeboten hat, vom Grafen Czernin zwar allen, aber nicht in allen Teilen übermittelt werden konnte. Der Unvollkommenheit der Technik oder dem störenden Eingriff der revolutionären Natur wurde es zugeschrieben, daß er »verstümmelt« eingelangt war, bis zur Ehre jener Gewalten festgestellt und vom Minister ehrlich, aber nicht ohne Selbstbehauptung zugegeben wurde, daß die Verstümmlung erst nach dem Eintreffen durch eine andere Gewalt erfolgt war, die lediglich in dem Bestreben gehandelt hat, wieder eine andere Gewalt, nämlich die russische Revolution, in Österreich nicht aufkommen zu lassen. Wenn solche Dinge passieren können, ist Vorsicht bei Übermittlung von Depeschen, deren Inhalt eine nicht minder wichtige, wenn auch keineswegs revolutionäre Regierungserklärung bildet, gewiß empfehlenswert. Wäre es den Feinden sonst zu verübeln, wenn sie das Datum einer Verstümmlung auch hier zurückverlegen wollten? Wird ihnen zum Beispiel eine Replik des Grafen Czernin gegen Trotzky in der folgenden Fassung, die das Züricher Blatt vom Wiener Korrespondenzbüro bezieht, dargeboten:

In Erwiderung hierauf führte der Minister des Äußern, Graf Czernin, aus, es sei notwendig, darauf hinzuweisen, daß die Delegationen der verhandelnden Mächte nicht hieher gekommen seien, um einen geistigen Ringkampf auszuführen, oder um zu versuchen, ob und inwieweit es möglich sei, zu einer Verständigung zu gelangen

— ist es dann ein Wunder, wenn der böse Wille die Version verbreitet, die Zentralmächte machten aus ihren Annexionswünschen schon gar kein Hehl mehr, denn sie hätten in Brest-Litowsk selbst zugegeben, daß sie gar nicht den Wunsch haben, zu einer Verständigung zu gelangen! Zwischen einem »oder« und einem »sondern« kann eine Welt von Feindschaft liegen, die berichtigend aus den Angeln zu heben, sich das Korrespondenzbüro diesmal nicht mehr die Mühe nimmt.1 Wozu denn auch? Ist denn nicht selbst das österreichische Strafgesetz fehlbar? Wurde nicht nach dem § 490 jahrelang falsch judiziert, weil sich dort »hinreichende Gründe ergeben«, statt »ergaben«, während zum Glück die in dem gleichen Strafgesetzbuch geahndeten »Vergehen gegen die Postanstalten« unbestraft blieben, weil man denn doch eingesehen haben mag, daß sie nicht so bedenklich verlaufen wie die Vergehen gegen die »Pestanstalten«. Das Wiener Korrespondenzbüro aber berichtigt wohl jene Fehler nicht gern, die im Ausland zu seiner Verwechslung mit dem Wolffbüro beitragen können.

Es läßt sich, annexionistischer als die deutsche Presse verlangt, von dieser in einem andern Fall die Berichtigung besorgen. Für Zürich enthielt der offizielle Wiener Bericht die Stelle:

»Deutschland und Österreich-Ungarn haben nicht die Absicht, sich jetzt diese besetzten Gebiete (Kurland, Litauen und Polen) einzuverleiben.«

Das Züricher Blatt stellt fest, daß »dieser Text nie berichtigt wurde«, und teilt mit, daß deutsche Blätter nachträglich auf die Variante aufmerksam machen, die sie selbst veröffentlicht haben:

»Deutschland und Österreich-Ungarn haben nicht die Absicht, sich die jetzt von ihnen besetzten Gebiete einzuverleiben.«

»Ist dem so, wie man bis auf weiteres annehmen darf«, meinte das Züricher Blatt (nämlich, daß die deutsche Fassung die richtige ist, nämlich, daß Deutschland und Österreich nicht diese Absicht haben), »so entfallen natürlich auch alle Folgerungen, die aus dem Wortlaut des Wiener Berichtes in der ›Neuen Zürcher Zeitung‹ gezogen wurden.« Die der feindlichen Presse freilich haben sich inzwischen festgesetzt.

Der Graf Czernin aber, der als begabter Feuilletonist doch Wert darauf legen müßte, daß ihm seine Pointen nicht verdorben werden, und der darum das Korrespondenzbüro an Haupt und Gliedern reformieren sollte, begnügt sich damit, vor Delegierten seine stilistische Begabung gegen den Vorwurf der Unklarheit zu verteidigen, die doch gerade ihr Wesen und ihren aparten Reiz ausmacht. Er weiß wohl selbst nicht, daß sein Talent, nicht nur mißverstanden, sondern auch entstellt zu werden, die Kriegsliteratur um eines ihrer spannendsten Kapitel bereichert hat. Aber gewiß wird man auch einmal sagen können, daß ein gut Teil der großen Zeit uns durch seine witzigen Auseinandersetzungen mit jenen vertrieben wurde, die von ihm sachliche Aufklärung verlangt hatten.

... Dann hat mir der Herr Abgeordnete Dr. Ellenbogen wieder eine meiner Illusionen genommen. Ich hatte immer geglaubt, daß ich die deutsche Sprache ziemlich beherrsche. Der Herr Delegierte aber hat mir vorgeworfen, daß ich wieder unklar und verworren spreche.

Im Gegensatze zum Grafen Czernin beherrsche ich, wie ich wiederholt eingestanden habe, die deutsche Sprache ganz und gar nicht, sondern lasse mich von ihr und weit lieber als vom Grafen Czernin beherrschen, dem es ja auch viel besser gelingt, die Sprache zu beherrschen als jene, die sie sprechen. Trotzdem oder vielleicht eben deshalb weiß ich, daß gerade jene vom Grafen Czernin gemeinte Fähigkeit, die Sprache zu annektieren, die Möglichkeit nicht ausschließt, sich unklar und verworren in wichtigen Dingen, zum Beispiel über Annexionsabsichten auszudrücken, ja daß sie sie nicht nur nicht ausschließt, sondern manchmal sogar einschließt, so daß diese Möglichkeit geradezu zur Fähigkeit wird. Darum hat auch der Delegierte sehr richtig dem Grafen Czernin zugerufen:

Gestern haben Sie gezeigt, daß Sie die deutsche Sprache wirklich meisterhaft beherrschen!

Der Graf Czernin jedoch faßte diese Bekräftigung nicht nur als Kompliment, sondern auch als Revokation auf, als einen Versuch des Delegierten, seine Äußerung abzuleugnen, und fuhr entschieden deprezierend fort:

Ich bitte, im Zusammenhang mit meiner gestrigen Rede wurde unter Hinweis auf die Stelle über Italien, Rumänien und Serbien meine Redeweise unklar genannt, in der »Arbeiter-Zeitung« steht dasselbe. Ich gehe auf das Thema nicht weiter ein, wer mich verstehen wollte, konnte mich verstehen ...

Der Graf Czernin, der eine witzige Ader hat, versteht dennoch den Witz nicht, der ihm ernstlich die Unklarheit in gewissen Europa betreffenden Angelegenheiten als Sprachbeherrschung auslegt. Ihm ist im Gegensatz zu vielen andern Redensarten die oft zitierte Erkenntnis nicht geläufig, daß sich der Meister des Stils in dem, was er weise verschweigt, zeige. Er versteht nicht, daß die, die »ihn verstehen wollen«, zwar seine Unklarheit verstehen, auch deren Absicht verstehen, aber keinesfalls deren Grund. Er versteht aber auch nicht, daß es viel mehr auf jene ankommt, die ihn nicht verstehen wollen, nämlich auf die Feinde, die zwar gleichfalls seine Unklarheit verstehen, aber die er einmal zwingen müßte, seine Klarheit zu verstehen, wozu allerdings nicht Sprachkunst, sondern nur Staatskunst notwendig wäre. Kann denn der Graf Czernin, selbst wenn man ihm im Gegensatz zu seinem Sprachkritiker zubilligen wollte, daß er sich in der »Stelle über Italien, Rumänien und Serbien« einer klaren Redeweise beflissen habe, kann er im Ernst behaupten, daß sein Wort über Belgien, das selbst die Aufklärung des Korrespondenzbüros nicht klarer machen konnte, die Ansprüche erfüllt hat, die die fremdsprachigen Völker an einen deutschen Redner heutzutage nun einmal stellen? Wird er gegenüber der französischen Presse sich mit Recht beklagen können, daß sie ihm seine Illusion, ein deutscher Sprachbeherrscher zu sein, genommen habe? Er würde unrecht tun, die Deutlichkeit, die sie in diesem Punkte vermißt, für einen literarischen und nicht für einen politischen Vorzug zu halten, auf dessen Zuerkennung aus künstlerischem Ehrgeiz zu bestehen und zu glauben, der ganze Jammer, in dem die Welt lebt, sei der, daß die Feinde den Grafen Czernin für einen unzulänglichen Stilisten halten. Sie tun aber das Gegenteil, sie halten ihn für einen Meister des Stils, für einen Sprachbeherrscher, ja für einen Sprachimperialisten, und sehnen sich mit den Freunden danach, daß er einmal, einmal nur, im allerschlechtesten Deutsch ein klares und deutliches Wort spreche, und zwar so klar, daß es sogar die deutschen Bundesgenossen verstehen. Tief gekränkt und wie jenem Abgeordneten gegenüber auf dem irrigen Standpunkt, daß Deutlichkeit und Sprachkunst identisch seien und weil er ein Sprachkünstler ist, er deshalb auch deutlich gesprochen haben müsse, läßt er durch sein »Fremdenblatt« dem Versailler Kriegsrat versichern, er habe »in deutlichster und klarster Weise« einen Frieden ohne Annexionen proklamiert, und die Retourkutsche auffahren, die Feinde hätten wohlweislich vermieden, »mit deutlichen Worten das Ziel zu bezeichnen«, das sie durch Fortsetzung des Krieges erreichen wollen, vielmehr »ihrer Gewohnheit gemäß ihre Bestrebungen in einer Hülle allgemeiner Phrasen gehalten«. Der Graf Czernin weiß aber natürlich nicht, daß er hier nichts anderes zurückgegeben hat als das Kompliment, daß auch die feindlichen Staatsmänner ihre Sprache beherrschen. Vielleicht ist der Unterschied der zwischen der Tüchtigkeit, das, was man nicht sagen will, wirksam auszusprechen, und der Gewandtheit, das, was man sagen soll, weise zu verschweigen. Die Entscheidung, auf welcher Seite die virtuosere Fähigkeit geglänzt hat, interessiert indes die wartenden Völker nicht so sehr wie die Frage, wie lange sie — ob für Leitartikel oder Feuilleton — dem Talent, durch Worte Taten zu prolongieren, Opfer bringen sollen. Was immer die andern für große Leitartikler sein mögen, wir haben mit uns selbst zu schaffen, und der Graf Czernin tut unrecht, die Dinge, auf die es für Leben und Sterben ankommt, gleich mir, einem politisch uninteressierten Wortfetischisten, auf das Sprachgebiet hinüberzuspielen. Kurzum, wäre er kein Sprachbeherrscher, so würde er sich klar aussprechen und die Zentralmächte hätten zwar um einen Feuilletonisten weniger, aber um einen Staatsmann mehr, was um so notwendiger wäre, als sonst keiner da ist. Das ist ja eben der Fehler, daß in diesen Reichen, in denen nicht zuletzt auch die Sprache nach Selbstbestimmung ringt, diese just in dem Augenblick so absolut beherrscht wird, wo es sich um die Freiheit ihrer Sprecher handelt, und daß unser diplomatisches Vorgehen nur dort »eine deutliche Sprache spricht«, wo es sie vermissen läßt.

Wenn ich aber bezüglich der Überschätzung der Sprache den Grafen Czernin mit mir verglichen habe, so möchte ich ihn bezüglich deren Gebrauchs, der ja immer eine Folge der Beherrschung ist, lieber mit jenen vergleichen, denen ich ihn schon durch die Bezeichnung »Feuilletonist« an die Seite stellen wollte. Was ist er denn anderes, wenn er die russische Revolution für den »einzigen Exportartikel« erklärt, der von dort zu beziehen sei und den er ablehne? Es ist ein Aperçu, das von der falschen Voraussetzung lebt, daß bei uns die russische Revolution ausbrechen könnte, die sich ja allerdings nicht exportieren läßt; die witzige Ausflucht einer Politik, die von der Vernachlässigung der Frage lebt, ob solch ein »Artikel« — es ist von dem Verhältnis einer Regierung und nicht einer Handelskammer zum Problem der Freiheit die Rede — nicht am Ende im Lande selbst erzeugt werden könnte. Die Fähigkeit, mit einer leicht faßlichen Anwendung aus einer trivialen Sphäre um die schwierigsten Dinge herumzukommen, verläßt den Grafen Czernin keinen Augenblick. Da er seine Antwort an die Delegierten mit der zierlichen Bemerkung einleitet, er möchte »nur aus dem großen Bukett von Anregungen und Angriffen einige Blumen herausnehmen und sich an denselben erfreuen«, so beweist er, ehe es ihm mißlingt dieses Bukett zu zerpflücken, daß er immerhin die Fähigkeit besitzt, eine Schmucknotiz mit falschen Bildern zu besetzen. Auch die Versicherung, daß die Rede des Generals Hoffmann »einen Sturm im Glase Wasser entfesselt« habe, läßt ihn nach dieser Richtung orientiert erscheinen. Echt feuilletonistisch, eine Pointe, wie geschaffen die Heiterkeit der Delegierten in ernster Zeit zu wecken, ist auch der Einfall, mit dem der Graf Czernin die Zumutung, daß zwischen ihm und Trotzky eine Ähnlichkeit bestehe, abweist. Ein Minister hatte es zur Beruhigung der Opposition behauptet und ein tschechischer Abgeordneter den Volkskommissär gegen den Vergleich in Schutz genommen. Beides reizt die Schlagfertigkeit des Grafen Czernin wie folgt:

... Ich gestehe jedoch, daß es auch nicht meine Ambition ist, dem Herrn Trotzky zu gleichen, und in einem Punkt besteht zwischen mir und Herrn Trotzky jedenfalls ein Unterschied: Wir sind beide — und das ist ein merkwürdiges Zusammentreffen — in unsere respektiven Heimaten gefahren, um das Vertrauensvotum der respektiven verfassungsmäßigen Korporationen zu erlangen; Herrn Trotzky ist das mißlungen und er hat als Antwort Maschinengewehre auffahren lassen und die Konstituante auseinandergetrieben. Wenn Sie mir dasselbe machen, lasse ich keine Matrosen kommen, sondern demissioniere. (Heiterkeit.) Was freiheitlicher und demokratischer ist, überlasse ich Ihrer Beurteilung. (Lebhafter Beifall.)

Der Graf Czernin scherzt und es ist die Eigentümlichkeit der Feuilletonisten, lachend die Unwahrheit zu sagen und mit einer scheinbaren Schlüssigkeit Trümpfe auszuspielen. Nur schade, daß in einer ganzen Delegation sich kein einziger Witzkopf findet, der keinen Spaß versteht und den Causeur auf den größeren Unterschied zwischen ihm und Trotzky aufmerksam macht: daß dieser in seiner respektiven Heimat ein System repräsentiert, das sich eben, wie es die Gewalt und selbst die Gewalt der Freiheit immer zu tun pflegt, mit Gewalt erhalten will, während der Graf Czernin nur das zufällige Organ eines andern Systems vorstellt, welches nach dem konstitutionellen Opfer eines jeweiligen Angestellten in seiner wesentlichen Macht erhalten bliebe, aber den Widerstand, der sich gegen diese selbst erhöbe, sehr wohl mit den Mitteln der russischen Demokratie aus dem Weg zu räumen wüßte. Der Graf Czernin und auch der Herr von Bilinski, der sich mit ihm in den königlich polnischen Spaß teilte, hätten unschwer darauf aufmerksam gemacht werden können, daß zwischen der bedrohten Revolution, die Trotzky heißt, und dem Minister einer keineswegs bedrohten Monarchie allerdings ein Unterschied besteht — was aber nur eine nüchterne Feststellung gewesen wäre, mit der in einer heiteren Debatte über den Weltkrieg kein Staat zu machen ist und nicht einmal der des Herrn von Bilinski. Die brillante Laune des Grafen Czernin jedoch, die die Anfechtungen der Logik so wenig wie die des Geschmacks fürchtet, findet ihren glücklichsten Ausdruck in der Verteidigung des Generals Hoffmann:

Als ich in Brest von der Aufregung gehört habe, die diese Rede hervorgerufen hat, habe ich darüber, aufrichtig gesagt, herzlich gelacht. Dort hat sich kein Mensch darüber aufgeregt. Auch nicht Herr Trotzky, der gestern von Dr. Ellenbogen mit Nachsicht der Taxe in den Adelstand erhoben worden ist (Heiterkeit). Also Herr von Trotzky hat dem General geantwortet, wenn er ihm sage, daß Rußland von den Deutschen besetzt sei, so gebe er ihm darauf die Antwort, daß der Kaukasus und die Türkei von Russen besetzt seien, das eine sei das andere wert. An dieser Rede, man mag sie mehr oder weniger schön finden, sterben wird niemand daran, weder Herr Trotzky noch General Hoffmann, noch der Friede ... Ich glaube, das Wiener Parlament bietet ein Beispiel, daß kräftige Worte möglich sind, ohne daß man daran stirbt, denn wenn man daran sterben würde, dann gäbe es schon viele Leichen im Parlament. (Heiterkeit.)

Die berühmte Erkenntnis vom Wesen der Staatskunst wird sich künftig als ein vermehrtes Staunen äußern: mit wie wenig Weisheit die Völker regiert werden, aber mit wie viel Mangel an Würde. Die Schalheit des Motivs »mit Nachsicht der Taxe« und der Wendung »Also Herr von Trotzky« könnte schon einen, dem diese Jammerzeit einen Funken Hoffnung übrig gelassen hätte, lebensüberdrüssig machen. Der unleugbar adelige Czernin reproduziert einen Scherz, den nicht nur jeder Wiener Kaffeehausbesucher seit der Türkenbelagerung, sondern vor dem frozzelnden Minister der gefrozzelte Delegierte selbst gemacht hat, dieser aber mit einer berechtigten Wendung gegen das Korrespondenzbüro, dem wie so manches andere die Nobilitierung des Herrn Trotzky geglückt war. Es wäre wahrlich besser, wenn die Standesgenossen des Grafen Czernin vermeiden wollten, sich von Familien, die nicht durchs eigene Blut, sondern durch das der andern emporgekommen sind und im Krieg zufällig nicht getötet oder wenigstens eingesperrt, sondern geadelt wurden, zum Essen einladen zu lassen, als daß sie von der überwältigenden Komik jener Antithese zehren. Viel weniger lustig ist jedenfalls die zwischen der Munterkeit des Grafen Czernin, der »herzlich gelacht« hat, und der Erbitterung jener vielen, denen die Reiterattacke auf den Verhandlungstisch von Brest-Litowsk nicht eben als das Resultat erschien, auf das sie gewartet hatten. Wäre selbst der Vergleich einer Parlamentssitzung mit einer Friedenskonferenz, also die Gleichstellung von berufsmäßig zankenden Parteivertretern, zwischen denen nicht das Wort, sondern die Abstimmung entscheidet, mit Staatsvertretern, die zum Frieden zusammenkommen, nicht so durchbohrend scharfsinnig, man müßte doch über die Feinfühligkeit staunen, die die aus der landesüblichen Gemütsschlamperei bezogene Redensart »sterben wird niemand dran« unermüdlich abwandelt und nicht einmal dessen inne wird, daß dieses zur mundfaulen Phrase erstarrte Achselzucken hier ausnahmsweise wirklich in einer Sphäre betätigt wird, in der man an Worten stirbt. Als ob es das größte Unglück wäre, daß die, die sie sprechen oder unmittelbar hören, daran sterben könnten! Die schöne Vorstellung, daß es »dann schon viele Leichen im Parlament gäbe«, die doch nur witzige Schlagkraft hätte, wenn die Prämisse (daß man an einem kräftigen Wort stirbt) vom Redner nicht konstruiert, sondern nur beantwortet wäre — nicht einmal diese anschauliche Konsequenz bringt ihn zu der Besinnung, daß es die vielen Leichen auf anderen Plätzen derzeit schon gibt, und zu dem Gedanken, daß zu deren Vermehrung der Ton auf einer Friedenskonferenz sehr wohl beitragen könnte. Denn wenngleich der Zusatz, daß auch der Friede nicht daran sterben werde, den Redner scheinbar einer ernsteren Möglichkeit bewußt zeigt, so ist doch eben in dieser Personifikation des sterbenden oder nicht sterbenden Friedens, die salopp wie ein wurstiges »Malheur!« oder »Tun S’Ihnen nix an« angereiht wird, das Bewußtsein, daß der Inhalt des Krieges das reale Sterben ist, völlig ausgeschaltet. Die Gedankenlosigkeit eines, der über die Materie zu bestimmen hat, sollte wahrlich nicht so weit gehen wie die aller fühllosen Zeugen, die von ihr die Worte beziehen, ohne sich an sie erinnert zu fühlen, und ein Staatsmann, der im Weltkrieg das Wort »sterben« bildlich oder in einem andern Zusammenhang als dem mit der großen Realität aussprechen wollte, dürfte höchstens bekennen, daß ihm das Wort auf der Zunge sterbe.

Was aber soll man zu einem Staatsmann und Aristokraten sagen, dem die Materie des Welttods so wenig gegenwärtig ist, daß ihm ein Spaßettl vom Sterben über die Lippe kommt, und den der Zeitpunkt weder davon abhält, es zu wiederholen, noch solcher Eifer zum Bewußtsein des Zeitpunkts bringt; der völlig beziehungslos Redensarten wählt, die eine empfindende Hörerschaft in traurige Erinnerung und eine taktvolle in Verlegenheit für den unbefangenen Sprecher versetzen müssen. Und was soll man zu einer Delegation sagen, deren Gemütsverfassung das Protokoll an dieser Stelle mit der kürzesten Charakteristik »(Heiterkeit)« gerecht wird? Das ist die Auslese jener Menschheit, der der Fortschritt so sehr alle Phantasie ausgehungert hat, daß ihr heute der Vorstellungsersatz von ein paar schmierigen Phrasen das geistige Durchhalten durch die größte Quantität an Erlebnissen ermöglicht. Das rechnet mit Offensiven ohne Gesicht und Gehör für die Ungezählten, die daran blind und taub werden, und würde staunen, daß hinter der Generalstabsmeldung »Nichts Neues« immerhin die Begebenheit von ein paar Lungenschüssen sich abgespielt hat. Und sie ahnen weder, daß die Bedingungen des Ereignisses auch die ihrer Unbewegtheit sind, noch daß sich der Schall an ihrer Atonie steigert. Oder wie Büchner sagt: »Sie hören nicht, daß jedes dieser Worte das Röcheln eines Opfers ist. Geht einmal euern Phrasen nach, bis zu dem Punkte, wo sie verkörpert werden. Blickt um euch, das alles habt ihr gesprochen, es ist eine mimische Übersetzung eurer Worte ... Man arbeitet heutzutag alles in Menschenfleisch. Das ist der Fluch unserer Zeit.«

Ein wahrer Staatsmann aber wäre nicht der, der den Handel abschließt, sondern der die Geister zur Besinnung dieses Handels bringt, zum Entsetzen vor sich selbst, und niemals dürfte er, anstatt sie aus dieser Niederung heraufzuführen, mit ihnen bei der Spaßigkeit, die es dort gibt und die die Armut der Vorstellung entschädigt, einverständlich verweilen. Indes, der Graf Czernin gilt nicht nur jenen Zufriedenen, deren politischer Humor sich mit der Scherzfrage: »Was ist das Gegenteil von Apponyi? A Pferd!« abfindet, nicht nur jenen Relativisten, die die staatsmännischen Fähigkeiten nach dem geringen Maß dessen, was man von einem Mitglied des Jockeyklubs verlangen kann, abschätzen, für einen großen Staatsmann, ja Bürgen eines neuen Zeitalters, und dies, wiewohl man schnell genug erkannt haben müßte, daß ein Minister der menschheitlichen Ideen, die er äußert, nur dann würdig ist und durch sie, die ja die Ideen anderer sind, wächst, wenn er sie zur Tat werden läßt. Obzwar nun der Graf Czernin die Frist, die er an ihre Erfüllung geknüpft hat, verstreichen ließ, wird er von den einen, und weil er es tat, von den andern hoch eingeschätzt, und von den dritten just wegen der Gabe, zwei Ideale gleichzeitig nicht zu enttäuschen, zwischen Humanität und Schwertbereitschaft geistig durchzuhalten und trotz einem Studium bei Lammasch und Förster nach Tische, da man’s anders las, zwischen Hindenburg und Ludendorff sitzen zu bleiben und sich gleich dem Kollegen Paul Goldmann ins Ohr flüstern zu lassen, daß Macht vor jenes Recht geht, welches eben noch vor die Macht gegangen war. Nehmt alles nur in allem, der Graf Czernin erscheint allen zusammen als eine Erfüllung des Wiener Friseurgesprächs, im Verlauf dessen unterm Einseifen die Worte hervorgesprudelt werden: »Einen Bismarck braucheten mr halt!«, und nicht etwa bloß darum, weil Tun wie Reden an die Gewohnheiten des Metiers erinnert. Nein, die frappante Ähnlichkeit, größer als die mit Trotzky, hält alle in Banden. Der Bismarck, den mr halt braucheten, ist niemand anderer als der Graf Czernin. Ein Vergleich mit der Emser Depesche ist an dieser Realisierung eines alten Lieblingswunsches der Wiener Friseure und der über den Löffel Barbierten keineswegs schuld, da ja die letzten halbwegs zweckdienlichen deutsch-französischen oder deutsch-russischen Analoga, die berühmten »Bomben auf Nürnberg« oder die Extraausgabe des ›Lokalanzeigers‹ nicht in Österreich hergestellt wurden und der verstümmelt eingelangte Funkspruch der Petersburger Regierung weniger einen diplomatischen als einen literarischen Treffer bedeutet. Was bewirkt also, daß man in der Identität dieses Perückenbismarck kein Haar findet? Ganz gewiß die gleiche Mischung von Talent und Genie. Nur werden selbst die größten Czernin-Verehrer nicht übersehen können, daß die Verteilung der beiden Qualitäten bei beiden Persönlichkeiten eine verschiedene ist. Denn während Bismarck als Mensch ein Genie war und als Staatsdiener, wie es ja auch nicht anders sein kann, nur ein Talent — Politiker, Bankdirektoren, Bauhandwerker sind auf der höchsten Stufe ihrer Vollkommenheit Talente —, gilt für Czernin die Umkehrung. Der allgemeinen Vermutung, daß er ein Genie von einem Staatsmann ist, gesellt sich meine Überzeugung von seinen allgemeinen Talenten. Bismarck wie Czernin haben außerhalb der Verpflichtung ihres Berufs Worte geprägt, die Flügel bekommen haben, und der Unterschied dürfte, den Kraftmaßen von künstlerischer Schöpfung und gefälliger Unterhaltung entsprechend, in aviatischer Hinsicht etwa der zwischen der Naturgewalt des Adlerfluges sein und der Tüchtigkeit, die einen Motordefekt erleidet. Doch muß man es wohl für ausgeschlossen halten, daß Bismarck, wenn er es je für nötig erachtet hätte, sich undeutlich auszudrücken, dies unter Hinweis auf seine Sprachkünstlerschaft, die ein höheres Lebensgut als alle Staatspraktiken deckte, abgeleugnet hätte. Daß seine dialektische Leidenschaft nie mit der Czerninschen Methode, »aus dem großen Bukett von Anregungen und Angriffen einige Blumen herauszunehmen«, ausgekommen wäre, daran kann auch nicht der geringste Zweifel bestehen und der Schlager, daß an kräftigen Worten bei einer Friedensverhandlung nicht einmal die Menschheit, geschweige denn die anwesenden Unterhändler sterben, weil es sonst schon viele Leichen im Parlament gäbe, wäre ihm bei der größten Selbstüberwindung nicht eingefallen. Wie er mit annexionsgierigen Generalen fertig wurde und um wie viel mächtiger sein Wort war als die Faust, die auf den Verhandlungstisch zu schlagen eben dadurch verhindert war, ist geschichtsbekannt. Was er getan hat, war nicht immer für die Menschheit nützlich, aber was er gesprochen hat, nie das Stichwort der schlimmeren Tat. Seine Sprache, nicht Dienerin seiner Pläne, war die Selbstherrscherin seiner Gedanken, seine Aussprüche, Frucht und nicht Schale, Geschöpfe und nicht Redensarten, wachsen durch die Zeit, und sein Wort von den Leuten, die ihren Beruf verfehlt haben, das ursprünglich auf die Journalisten gemünzt war, läßt sich noch heute auf die Vertreter eines anderen Berufes anwenden, die nicht Journalisten geworden sind.

Vgl.: Die Fackel, Nr. 474-483, XX. Jahr
Wien, 23. Mai 1918.


  1. Der Verlauf der Begebenheiten hat gezeigt, daß das »oder« richtig war. Sie waren tatsächlich nicht nach Brest-Litowsk gekommen, um zu versuchen, ob und inwieweit es möglich sei, zu einer Verständigung zu gelangen.