September 1918
Auf hoher See
»Wie wir uns der Welle entgegenstemmen müssen«
rief einst der Kapitän Seidler, als er auf hoher See um die Rettung eines Budgetprovisoriums rang
»welche, aus dem Nordosten heranrollend, schon den Boden unserer wirtschaftlichen Kultur bedroht, können wir uns anderseits nicht dem Gedanken verschließen —«
Da ich das Gefühl hatte, daß es schon kein Gedanke sein werde, verschloß ich mich der weiteren Lektüre und dachte darüber nach, wie es denn komme, daß so viele tüchtige Männer unseres öffentlichen Lebens zwar Karriere gemacht, aber den Beruf verfehlt haben. Während unser Czernin heute sicher den Brotfrieden darum gäbe, wenn er, anstatt ihn zu schließen, berufen gewesen wäre, ihn in einer Sonntagsplauderei zu besprechen, trauert unser Seidler einer versunkenen Hoffnung seiner Jugendtage nach, die ihm ein noch weiteres Gebiet eröffnet hätte, nämlich nicht die Freie Presse, sondern das freie Meer. Im Ernst, Seidler, der von außen als eine der drolligsten Gestalten der Weltgeschichte erscheint und im tiefsten Grunde seines Seelenlebens eine tragische Figur ist, muß in seiner Kindheit von dem stürmischen Wunsche durchwogt gewesen sein, Matrose zu werden. Man kann es unschwer daraus schließen, daß ihm von allen Phrasengebieten keines so zugänglich ist wie jenes, auf dem die Vergleiche aus dem Marineleben wachsen. Wenn er nur den Mund aufmacht, so kann man, topp, darauf wetten, daß der in das schwankende Staatsleben verschlagene Seemann zum Vorschein kommen wird. Eine alte Teerjacke, dieser Seidler, hei! Weiß Gott, keine Landratte! In dem Moment, als er ins Kabinett eintrat, wußte er auch schon, daß es eine Kajüte sei. Da er aber nun einmal ans Ruder gelangt war, ging er sofort auf Deck, rief alle Mann an Bord und nun galt es, das Staatsschiff mit fester Hand, eh schon wissen. Im Parlament freilich hatte er nicht so sehr das Gefühl, das Staatsschiff in den sicheren Hafen gebracht zu haben, sondern dünkte ihm vielmehr, daß die Regierungsbank eine Sandbank sei, auf der er aufgefahren war und nun festsaß. Dieses Festsitzen war ihm aber eine solche Passion, daß er geradezu der Meinung war, den Passagieren (sprich: Passascheren) sei es um nichts anderes zu tun und wenn sie sich trotzdem beklagten und ihrerseits der Meinung waren, das Ziel der Fahrt sei denn doch ein anderes und der dauernde Ruhestand wäre eigentlich nicht auf der Sandbank, sondern wo anders zu suchen, damit nämlich nicht die ganze Schiffahrt zu dauerndem Ruhestand verurteilt sei, so war er um eine Antwort nicht verlegen, in der nebst der alten seemännischen Tüchtigkeit auch die Kenntnis der neueren Methoden der maritimen Kriegführung bemerkbar wurde:
... Geben Sie mir freies Meer, dann werden Sie leicht erkennen, daß ich zu fahren vermag; aber es ist das Schicksal dieser Regierung, daß sie in den Sturm, unter Klippen politischer Natur, ja geradezu zwischen Minenfelder geworfen worden ist ...
So daß also die Sandbank noch die einzige Rettung für Mann und Maus wäre. In Wahrheit jedoch kann der Kapitän noch von Glück sagen, daß auch die Minenfelder gleich den Klippen, von denen es ja ausdrücklich zugegeben ist, politischer Natur sind, nicht so sehr ein Erlebnis als ein Ornament. Man stelle sich, wenns anders wäre, den Herrn Seidler vor. Natürlich würde ich, wenn ich auf der kommenden Friedenskonferenz mein Selbstbestimmungsrecht durchsetzen könnte, mich nicht von einem Herrn regieren lassen, der, ganz abgesehen davon, daß er zwischen den diesbezüglichen Minenfeldern gefährliche Theaterstücke schreibt und sie nicht verbietet, sondern aufführen läßt, eine Redensart in einem Moment gebraucht, in welchem ihr blutiger Inhalt so vielfach lebendig wurde. Denn gewiß würden die, denen es geschah, nie auch nur annähernd so pathetisch davon zu sprechen wagen wie so ein nach allen Windrichtungen verbindlicher Bureaukapitän, der von sich behauptet, er hätte »trotzdem den Kurs eingehalten«. Man müßte den Weltkrieg wirklich von vorn anfangen, wenn man ihn überstanden haben sollte, ohne wenigstens von einem geistigen Typus befreit zu sein, der sich nur durch den Rettungsgürtel der schäbigsten Schablone über Wasser halten kann. Es hat mir nie eingehen wollen, daß so etwas eine »Regierung« sein könne und daß einer in der Lage sein soll, mir das Maß von Freiheit und anderen Lebensmitteln zu bestimmen, mit dem ich keine zwei Worte zu sprechen imstande wäre. Man kann es einem intelligenten Abgeordneten schon nachfühlen, daß es ihn eine ziemliche Überwindung kosten muß, vor einer solchen Autorität erst umständlich zu begründen, warum man ihr das Vertrauen verweigere. Als Seidler wieder einmal um die Rettung des Budgetprovisoriums rang, spürte er den Hohn nicht, mit dem ein Sozialdemokrat zur hohen Sandbank hinaufrief:
Wenn die Regierung das Staatsschiff vor den Klippen retten will, muß sie es hinausführen auf die hohe See großer sozialer und politischer Reformen.
Seidler schwamm in Seligkeit, weil ihm die Sphäre, in der er sich heimisch fühlt, selbst von der Opposition zuerkannt war. Ich lasse mich aber hängen — und wär’s vom König oder vom Peutlschmid —, wenn er nicht damals, als er die Deputation der deutschen Mannen vor den Thron führte und dabei stand, als der Herr Ornik aus Pettau die Worte ausrief:
Majestät! Wir bitten inständigst, durch den Steuermann des Staates auch ohne Parlament die Staatsnotwendigkeiten zu prüfen —
— wenn er nicht damals Autorfreuden erlebt hat. Ich habe Wilhelm Engelhardts Dichtung »Durch Feuer und Eisen« nicht gelesen, aber ich möchte wetten, daß das Pathos ihrer kriegstüchtigen Sprache von Seeluft geschwellt ist. Wie aber, frage ich, kommt ein solcher Genius dazu, die erste Rangsklasse im Staat innezuhaben? Muß ich mich schon von einem Volkstheaterautor regieren lassen, dann lieber gleich vom Hermann Bahr! Der schwätzt doch was vom neuen Österreich und der Lebensabend vergeht uns wie geschmiert. Aber so ein Musterknabe, der im Matrosenanzug Karriere gemacht hat und sich im Kabinett wie in der Kajüte und in dieser wie in der Kinderstube bewegt, ist nicht mein Fall. Ich weiß es positiv: Als man ihn einst fragte: Ernstl, was willst du werden?, rief er: Tapitän! Als es dann Ernst wurde und man ihn fragte: Was bist du?, rief er: Tapitän!! Und als es noch ernster wurde und man ihn fragte: Was willst du bleiben?, rief er: Tapitän!!! Des freuten sich die Ratten, ehe sie das sinkende Schiff verließen.
Postscriptum. Es ist ein eigenes Verhängnis, daß die Feuilletonisten unseres Chaos und die Admirale unseres Festlands die Feder schon hingelegt haben, beziehungsweise nicht mehr am Ruder sind, wenn meine Würdigung vor den Leser kommt, so daß es den Anschein hat, sie wäre schon als Nachruf geschrieben. Das ist aber nur insoferne richtig, als alles was ich schreibe, irgendwie zum Nachruf taugt. Seidler — ein Hintze, der seinen Beruf verfehlt hat und, wenn’s noch eine Gerechtigkeit gibt, einmal das Marinekommando erhalten wird, das jener abgelegt hat — Seidler beteuerte noch, daß er »den deutschen Kurs einhalten« wolle, und schon glaubte man, Unterseeboote wären ihm zu Hilfe gekommen, oder die Direktion habe die Preisgabe des Schiffes beschlossen, um das kostbare Leben des Kapitäns zu retten. Da kam es im letzten Augenblick doch anders. Ein westlicher Wind brachte die Entschließung. Die ganze Fahrt mit ihren ernsthaften Gefahren war ein Gspaß gewesen, eine Amerikareise des Männergesangvereins. Da aber eben Amerika es war, das uns wegen der seinerzeitigen Landung des Männergesangvereins den Krieg erklärt hat, so wurden wir doch stutzig und entschlossen uns, lieber Mann und Maus zu retten und den Kapitän, der sich ans Ruder klammerte, über Bord zu werfen, auf die Gefahr hin, daß die Haifische seekrank werden und den Delphinen das Singen vergeht.
Vgl.: Die Fackel, Nr. 484-498, XX. Jahr
Wien, 15. Oktober 1918.