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September 1917

Schonet die Kinder!

Schonet die Kinder!

ist auf allen Schweizer Straßen zu lesen. Hingegen lauten die Titel der deutschen Aufsätze, die in der Kaiser Karls-Realschule, Wien III — zur Wahl — aufgegeben werden, wie folgt:

V. b Klasse

Eine Ferienwanderung
oder
Kriegsmittel neuester Zeit.

VI. a Klasse

Warum ist Lessings »Minna von Barnhelm« ein echt deutsches Lustspiel?
oder
Durchhalten!

Gedanken nach der achten Isonzoschlacht
oder
Herbstwanderung.

Inwiefern vermag das Klima die geistige Entwicklung der Menschheit zu beeinflussen?
oder
Unser Kampf gegen Rumänien.

Die Hauptgestalten in Goethes Egmont
oder
Der verschärfte U-Bootkrieg.

Schicksal des Menschen, wie gleichst du dem Wind! (Goethe)
oder
Wir und die Türken — einst und jetzt.

Meine Gedanken vor Radetzkys Standbild
oder
Seine Handelsflotten streckt der Brite gierig wie Polypenarme aus und das Reich der freien Amphitrite will er schließen, wie sein eignes Haus. (Schiller)

VI. b Klasse

Welcher von unseren Feinden scheint mir der hassenswerteste?

Dementsprechend verzeichnet der Jahresbericht:

An die Schülerbibliothek wurden 2 Exemplare Schalek, »Tirol in Waffen« geschenkt von Gräfin Bienerth-Schmerling, 1 Exemplar von der Verfasserin an die Lehrerbibliothek.

Ich bin noch heute nicht imstande, eine Ferienwanderung oder eine Herbstwanderung zu beschreiben, tröste mich mit dem Bewußtsein, daß Goethe selbst nicht in der Lage gewesen wäre, aus seinem Zitat »Schicksal des Menschen, wie gleichst du dem Wind« einen Aufsatz zu machen und wüßte auf die Frage, inwiefern das Klima die geistige Entwicklung der Menschheit zu beeinflussen vermag, höchstens die Antwort zu geben, daß es ein miserables Klima sein muß, wenn es die Menschheit auf die Idee gebracht hat, sich gegenseitig abzuschlachten, um mehr zu essen, und die Überlebenden, sich gegenseitig auszurauben, um zu verhungern, den Staat aber, statt der Wucherer die Bewucherten aufzuhängen. Speziell aber könnte ich nur darauf hinweisen, daß unser spezielles Klima ein speziell elendiges ist, wenn die geistige Entwicklung nicht nur nach dem kriegerischen Zustand, sondern speziell nach dem hirnverbrannten, hirnverbrennenden System der deutschen Schulaufsätze beurteilt werden soll, das sich, wie ich aus diesen Beispielen ersehe, in dreißig Jahren um kein Jota geändert hat. Höchstens um die besondere Stupidität, zu der die größte aller Zeiten auch die Pädagogik zwingt. Es gibt also Alternativen, und das Kind wird, je nachdem es mehr pazifistisch oder mehr annexionistisch veranlagt ist, zwischen einer Ferienwanderung und den Kriegsmitteln der neuesten Zeit zu wählen haben. Warum Lessings Minna von Barnhelm ein echt deutsches Lustspiel ist, eine Frage, die wie ein Alp seit Kindheitsträumen auf mir lastet, und von der ich das unbestimmte Gefühl habe, daß sie bis heute nicht endgültig beantwortet ist, weder von dummen Jungen noch von älteren Literarhistorikern — ich würde sie rabiat von mir stoßen und mich für »Durchhalten!« entscheiden, wiewohl Durchfallen nach wie vor die größere Sorge eines Knabenherzens bilden dürfte. Säße ich in der VI. a, ich wählte ohneweiters statt der Herbstwanderung, zu deren Beschreibung schon ein ganzer Dichter gehört, die »Gedanken nach der achten Isonzoschlacht« und wäre vor allen Kameraden mit dem Aufsatz fertig, indem ich, diese Gedanken zusammenfassend, einfach unter den Titel schriebe: »Genug!« Bei »Unser Kampf gegen Rumänien«, auf den ich mich, aus dem Klima fliehend, mit Feuereifer würfe, machte ich mir die Sache auch nicht schwer. Ich zöge mich mit der Wendung »Fragen Sie die Schalek!« aus der Affäre. Wenn ich nun die Wahl zwischen Egmont und dem verschärften U-Boot- Krieg habe, so versichere ich — ganz unter uns und wenn es das selige Kriegsüberwachungsamt nicht erfährt —, daß mir Egmont lieber ist und daß ich glaube, wir Deutsche möchten schließlich doch der Welt mit dem Egmont noch mehr imponieren als mit dem verschärften U-Boot-Krieg. Aber das ist schließlich Ansichtssache, man kann eine heroische Angelegenheit trotz ihrem tragischen Charakter kaum mit einem Drama vergleichen und gewiß ist mir — wieder ganz unter uns — der U-Boot-Krieg lieber als Hans Müllers »Könige«, die vielleicht nicht dem Uhland, aber ganz sicher mir gestohlen werden können. Vor die Wahl gestellt, das Schicksal des Menschen wie gleichst du dem Wind, zu betrachten und uns und die Türken einst und jetzt: da wählte ich beides, denn mir schiene, als ob mir just aus der Verknüpfung ein artiges Stück von einem Aufsatz gelingen sollte. Was die nächste Alternative betrifft, so würde ich die Verarbeitung des Schiller-Zitats über die Beziehungen des Briten zu Amphitriten ablehnen mit der Begründung, daß es, so aus dem Zusammenhang des Gedichtes gerissen, das Schiller dem Völkermord seines beginnenden Jahrhunderts gewidmet hat, mehr ein Wolff-Zitat sei, und würde dem Deutschprofessor beweisen, daß ich außer dem brauchbaren Mittelstück auch die Anfangsstrophen des Gedichtes kenne:

Edler Freund! Wo öffnet sich dem Frieden,
Wo der Freiheit sich ein Zufluchtsort?
Das Jahrhundert ist im Sturm geschieden,
Und das neue öffnet sich mit Mord.

Und das Band der Länder ist gehoben,
Und die alten Formen stürzen ein;
Nicht das Weltmeer hemmt des Krieges Toben,
Nicht der Nilgott und der alte Rhein.

und auch noch die Schlußstrophen:

Ach, umsonst auf allen Länderkarten
Spähst du nach dem seligen Gebiet,
Wo der Freiheit ewig grüner Garten,
Wo der Menschheit schöne Jugend blüht.

Endlos liegt die Welt vor deinen Blicken,
Und die Schiffahrt selbst ermißt sie kaum;
Doch auf ihrem unermessnen Rücken
Ist für zehen Glückliche nicht Raum.

In des Herzens heilig stille Räume
Mußt du fliehen aus des Lebens Drang!
Freiheit ist nur in dem Reich der Träume,
Und das Schöne blüht nur im Gesang.

Ich würde den Lehrer bitten, uns lieber dieses Thema aufzugeben, als durch den Mißbrauch einer Schillerschen Strophe uns Kindern eine Betrachtung aufzunötigen, über der ehrlicherweise der bekannte Aufsatztitel »Gott strafe England« zu stehen hätte. Ich würde aber auch das Thema »Meine Gedanken vor Radetzkys Standbild« nicht verschmähen, denn ich habe vor Radetzkys Standbild meine eigenen Gedanken, zum Beispiel gleich den, daß dort Eisig Rubel und andere Alt-Österreicher öfter vorbeigegangen sind, als für die Reputation Radetzkys unbedingt notwendig war, wiewohl bekanntlich einer ihrer Verteidiger, jener echten Vaterlandsverteidiger, in diesem Punkte anderer Ansicht ist, indem er für Eisig Rubel den Freispruch und für Dr. Josef Kranz ein Denkmal beantragt hat, das aber eben infolge Besetzung des Platzes durch Radetzky nicht zur Ausführung gelangen konnte. Wenn mir der Deutschprofessor auf diese Behandlung des Themas nicht »vorzüglich« gibt, freut mich der ganze Krieg nicht mehr. Dann bliebe nur noch ein Thema, das zwar der VI. b-Klasse vorbehalten ist, das ich aber als Fleißaufgabe übernehme: »Welcher von unseren Feinden scheint mir der hassenswerteste?« Ich wüßte mir auf die einfachste Art zu helfen, indem ich einfach von Lissauer abschriebe, der ganz sicher Bescheid weiß und den Aufsatz vermutlich fertig hat. Würde ich mündlich befragt, so könnte ich mich der vielen Einsager gar nicht erwehren, ich höre Strobl, neben dem ich leider sitzen muß und der von Patriotismus schwitzt, mir zuflüstern: »Der Treubrüchige am Po!« Der Kernstock, ein Vorzugsschüler, ruft: »Die Welschlandfrüchtchen!«, rings um mich zischt es: »Die Katzelmacher!« und nur eine Stimme — es ist die der Schalek, die man in die Knabenklasse zugelassen hat — ruft beherzt: »Ob ich weiß! Der Fackelkraus!« Dann aber zeigt sie auf, denn sie möchte hinausgehn, wo der einfache Mann an der Front ist, der namenlos ist, um ihm beim Nahkampf nah zu sein. Ich bin eingeschlafen, träume, daß ich nicht mehr in der Schule sitze, sondern wieder in einer Kinderstube, wo Weltkrieg gespielt wird und die Beteiligten dem Tod die Zunge herausstrecken. Ich will die Kinderrettungsgesellschaft verständigen, die anerkannt hat, daß sie mir für wiederholte Zuwendungen vom Erträgnis meiner Leseabende verpflichtet ist. Sie soll die Kinder vor Bomben und Schulaufsätzen behüten. Und wie da plötzlich eine Kanone als Schulglocke läutet und ich erwache, springe ich den Deutschprofessor an, will mit ihm eine Sprache sprechen, die er nicht versteht, nämlich Deutsch und frage ihn, ob er im Geschäft unentbehrlich sei oder ob er Lust habe, die Minen, die er in Kinderherzen legt, durch ein Erlebnis zu verantworten, die Frage, die er an die Wehrlosesten stellt, welcher von den Feinden der hassenswerteste sei, persönlich im Schützengraben zu entscheiden, und in dem Augenblick, wo zu seinem Ohr das Geräusch von einer Sappe heraufdringt!

Vgl.: Die Fackel, Nr. 462-471, XIX. Jahr
Wien, 9. Oktober 1917.