Nihilist, Nihilismus
Nihilist wurde durch Turgenjews Roman „Väter und Söhne“ (1861) zur schlagenden Bezeichnung eines radikalen russischen Sozialisten, der die absolute Zertrümmerung alles Bestehenden, vor allem der gesellschaftlichen und staatlichen Grundlagen anstrebt. Scherr, Die Nihilisten (1885) schreibt S. 67 über dieses Anklagewerk: „Da hatte der berühmte Novellist den Begriff des Nihilismus, d. he Idee und Doktrin der allgemeinen und unbedingten Verneinung, entwickelt und den Typus eines Nihilisten (Bazarow) zuerst hingestellt. Seitdem waren dann die Bezeichnungen Nihilismus und Nihilisten dem europäischen Sprachschatz einverleibt worden.“ Zugleich zitiert er aus der 1869 zu Mitau erschienenen deutschen Ausgabe S. 38: „Ein Nihilist ist ein Mensch, der sich vor keiner Autorität beugt, der ohne Prüfung kein Prinzip annimmt und wenn es noch so sehr in Ansehen steht.“ Wenn Scherr außerdem darauf hinweist, dass der Typus des Nihilisten früher dagewesen sei als der Name, so darf man hinzufügen, dass auch der Ausdruck selbst schon längst vorhanden war, allerdings nicht in dieser Beschränkung auf die spezifisch russischen Umstürzler.
Vielmehr war Nihilismus zuerst ein wohl von F. H. Jacobi gebildeter philosophischer Kunstausdruck. Vgl. Büchmann S. 396, wo auch an einigen Belegen gezeigt wird, wie der theoretische Begriff allmählich praktische Bedeutung gewinnt. Ich füge nur berichtigend noch zwei Stellen aus Görres hinzu, welcher 5, 44 (1822) über die unbedeutende Camarilla schreibt: „So schwanken diese Nihilisten ewig in all ihrem Tun und Treiben und tragen dieselbe nebulierende Unbestimmtheit in alle Verhältnisse, in die sie sich mischen dürfen", und ebenso 5, 47: „Möchte noch immerhin eine solche einzelne Regierung, die in der Angst vor der Zeit sich nicht zu lassen weiß, unter den Bettlermantel jener Nihilisten sich verkriechen.“
Vgl. auch Auerbach 20, 189 (1846): „Ein moderner Nihilismus versucht es bereits vielfach, die atheistische Verzweiflung im Volke auszubreiten.“ Trotzdem dann auch Gutzkow im Jahre 1850 ausdrücklich des „politischen Nihilismus“ gedenkt, scheint es mit Wundt, Völkerpsychologie 1. Bd. 2. Teil, 2. Aufl. S. 579 wahrscheinlicher, „dass bei der Feststellung der späteren Bedeutung eine Erinnerung an die frühere überhaupt nicht vorhanden war, sondern jedesmal eine Neubildung aus dem nämlichen Wort nihil vorliegt.“
Spätere Belege für die moderne politische Färbung des Ausdrucks haben Sanders, Fremdw. 2, 107, ferner die Grenzb. 1879, 3. Quartal, S. 538 und Scherr in seinem oben genannten Buch, wo S. 112 ff. auch die russischen Nihilistinnen charakterisiert werden.