Das Militär als Erzieher?
Der Krieg hat Pazifisten gemacht; mich hat er in meinen pazifistischen Anschauungen, mit denen ich meine Soldatenzeit antrat, bestärkt und mich in die Lage versetzt, die bereits im Jahre 1913 geäußerten Thesen nunmehr durch die Erfahrung bestätigt zu sehen. – Das System der deutschen Militärerziehung stammt aus dem achtzehnten Jahrhundert und war damals unethisch, aber sicherlich praktisch. Es ist heute überholt und kann sich weder vor dem Philosophen noch vor dem Volksbildner sehen lassen.
Die vielgerühmte Auslöschung der Individualität, die sich beim deutschen Untergebenen mit dem Eintritt in den Heeresapparat vollzog, stellt, vom ethischen Standpunkt aus betrachtet, das Niedrigste dar, das denkbar ist. Die vollkommene Unfähigkeit der militärischen Pädagogen, mit den Persönlichkeiten, die sie in die Hand bekamen, etwas anzufangen, brachte notwendig eine Schule hervor, die die Schüler erst einmal zu vollkommenen Nullen umformte, um dann die leeren Blätter neu zu beschreiben. Diese Versündigung am Menschen wurde nicht ungestraft betrieben, denn die mit der Plempe verjagte Natur kam eilends zurück, und so entstanden die schlimmsten Differenzen in der Seele des einzelnen. Das System fingierte eben immer noch die Existenz von Berufssoldaten: von den ›langen Kerls‹ konnte man die völlige Hingabe an ihren bezahlten Lebensberuf erwarten – was den Uhrmacher Schulz veranlassen sollte, seine gesamten Zivilanschauungen an den Nagel zu hängen, bleibt ein unerfindliches Geheimnis derer, die zeit ihres Lebens nicht aus der Kaserne herausgerochen haben. Das System basiert zugleich auf der ungeheuerlichsten Menschenverachtung, die die Welt gesehen hat. Auch das ist zum guten Teil historisch zu erklären. Der alte preußische Landadel hatte seine Souveränität Stück für Stück an den König von Preußen abgegeben und wurde von diesem dafür durch eine gehobene Stellung im staatlichen Gemeinschaftswesen entschädigt. Dazu gehörte die Reservierung der Offiziersstellen, und wenn man die damals starke Kluft zwischen dem Adel und den hergelaufenen und gepreßten Kerls berücksichtigt, so kann man verstehen, dass von einem gesellschaftlichen Verkehr zwischen Offizier und Mann nicht die Rede sein konnte, ja mehr, dass die Dienstjahre dem Offizier die Überzeugung einflößen mußten, von Natur aus seine Untergebenen in allen Stücken zu übertreffen.
Dieses durch und durch unethische System hatte den Vorteil der Bequemlichkeit. Der Offizier hatte es, besonders nach Einführung der Wehrpflicht, weniger und weniger nötig, seine Stellung etwa dauernd mit jener Quantität Energie zu behaupten, die ihn die Erlangung gekostet hatte: saß er erst einmal im Sattel, dann genügte es, wenn er recht und schlecht seinen Dienst machte, sich den Anschauungen seiner Kaste nicht widersetzte und keine silbernen Löffel stahl. Dagegen hatte er es nicht nötig, Tag für Tag durch ausgezeichnete Leistungen und angespannteste männliche Superiorität seinen Untergebenen zu beweisen, dass er der Vorgesetzte war. Sie konnten ihm nicht jeden Tag weglaufen wie eine Horde Landsknechte, über die die weichende Autorität eines nachlassenden Führers nicht mehr Herr wird. Sie waren Untergebene und damit fertig. Sie waren es ein für allemal und hatten auch niemals die Aussicht, emporzurücken.
Dieses unsittliche und bequeme System mochte bis zum Maschinenzeitalter ausgereicht haben. Es hat heute in der Welt ausgespielt und kann aus den besten und anständigsten Motiven heraus geliebt und verehrt werden: sein Niedergang ist besiegelt. Denn die Art des Militärs, Menschen zu erziehen, ist, wie sich im Kriege allenthalben gezeigt hat, unpraktisch. Wenn die deutsche Mannschaft für einen Offizier ›durchs Feuer ging‹, so geschah das nicht seiner Achselstücke wegen, sondern seiner Persönlichkeit wegen. Gerade ein solcher hatte also seine Führerpersönlichkeit Tag für Tag zu prästieren – das System der durch Zuchthausandrohung erzwungenen Unterordnung nutzte ihm keinen Pfifferling. Jeder Führer im Felde hat gewußt, dass Gehorchen und Gehorchen zweierlei war und dass man einer Truppe sofort anmerkte, wer sie führte: einer, dem sie gehorchen wollte oder einer, dem sie gehorchen mußte.
In den meisten Fällen mußte sie nur. Die schlimmen Fehler, die von keinem einsichtigen Militär mehr geleugnet werden: die unverhältnismäßig gute Lebensführung des Offizierkorps, seine übergroße Bevorzugung in Bezahlung und Equipierung, der schlimme Unteroffiziersgeist alter Gamaschenknöpfe, die es um so schlimmer mit der Mannschaft trieben, weil sie aus ihr hervorgegangen waren und diesen Ursprung mit aller Macht vergessen machen wollten – – alle diese Fehler wirkten auf die Psyche des Soldaten ein. Und es gibt keine ernsthafte kriegspsychologische Schrift, die diesem traurigen Kapitel nicht einige ernste Seiten widmete. (Everth, Göhre, Hefele, Wegeleben, Dreiling.)
Man wende nicht ein, dass die schlechten Erfahrungen, die besonders der gebildete Soldat im Felde mit seinen verbildeten Vorgesetzten zu machen hatte, eben nur ›Auswüchse‹ betroffen hätten. Es mag auch an dieser Stelle wiederholt werden, dass es sich nicht um jene Ausnahmen handelt, die bei vierzehn Millionen Menschen selbstverständlich vorkommen, sondern um die Regel. Um die schlechte niedrige Regel.
Ich habe den ›Grenzboten‹ zu danken, dass sie es mir ermöglichen, vor einem Publikum zu sprechen, das mich sonst entweder gar nicht oder nur in Auszügen, mit Beschimpfungen verziert, zu lesen bekommt. (Wie es ja denn ein alter Erbfehler der Deutschen ist, sich kastenmäßig so abzuschließen, dass der eine vom andern ja nichts erfährt.) – Wenn ich das völlig haltlose System der preußischen Militärerziehung negativ werte, so weiß ich sehr wohl, dass es eine große Reihe anständig denkender Männer gegeben hat, die als Offiziere ihre Pflicht erfüllt haben und einfach nicht verstehen konnten, woher diese unterirdische Wut der Mannschaften herrührte. Wer sein ganzes Leben hindurch nicht aus der Sphäre, die ihn hervorgebracht hat, herausgekommen ist, der kann sich nur schwer denken, dass alle die Grundvoraussetzungen, über die er gar nicht mehr diskutiert und die ihm selbstverständlich vorkommen, bei anderen Menschen andere sind und dass alles auf diesem Planeten sehr relativ ist. Wenn es eine Erkenntnis gibt, die alle urteilsfähigen Volkskreise nach diesem Kriege durchdrungen hat, so ist es eben die: So erzieht man keine Menschen. Es ist weder schwer noch fruchtbringend, mit dem ›Menschenmaterial‹ (in diesem widerwärtigen Wort liegt bereits eine ganze Welt) so umzugehen, als ob es Briketts wären. So erzieht man vielleicht Heloten oder stummgefügige Ordonnanzen oder eine bequeme Dienerkaste – aber niemals freie deutsche Männer. Die Behauptung gewisser Kreise, man könne doch einen General nicht wie einen Muschkoten behandeln, findet ihre Erledigung in dem Satz, dass man aber sehr wohl beide wie Menschen anfassen kann – also den einen nicht wie ein Stück Holz und den andern nicht wie einen Gott.
Das mir zur Verfügung stehende Material über die Folgen dieser Mißwirtschaft ist ebenso erschütternd wie schwerwiegend, und ich glaube nicht, dass sich eine solche lange Reihe von Kultursymptomen mit Spektakel und Beleidigungsprozessen aus der Welt schaffen lassen. Dazu ist die Sache zu ernst.
Und man möge endlich auch dem Pazifisten den guten Glauben und den guten Willen zubilligen und nicht immer so tun, als ob geborene Zivilisten ein persönliches Interesse an der Herunterwirtschaftung des Militärs haben. Ein persönliches gar nicht. Ein kulturelles an seiner Abschaffung sehr wohl. Ob das objektiv richtig ist oder nicht, mögen Berufenere beurteilen. Uns aber erlaube man als Sinnspruch der Militärpädagogik jenes Wort eines Stabsarztes Dr. Luffa vom Feldlazarett 164 aufzuzeichnen: »Erst kommen die Offiziere, dann die Pferde, dann die Latrinen und zuletzt die Mannschaften.«
Wir können das nicht vergessen.
Ignaz Wrobel
Die Grenzboten, 05.04.1922, Nr. 12, S. 81.