Wo sind sie –?
Was an wirklichen Führerqualitäten im deutschen Volke steckt, hat man während des Krieges in brenzlichen Situationen dann gesehen, wenn der abgestempelte Achselstückträger Fehlanzeige gemeldet hatte und die Leute – besonders auf kleinen Kommandos – auf sich angewiesen waren. Die alles niedertrampelnde Militärpädagogik hatte immerhin doch noch einige richtige Kerls übriggelassen, die nicht wegen ihrer, sondern trotz ihrer wirkliche Männer geblieben waren. Um diese scharte sich, wenns drauf ankam, die Gruppe der Kameraden, die ja, wie jede Gesamtheit, ein sehr feines Gefühl für psychische Stärke hatten.
In den Revolutionstagen, in jener kurzen Zeit, wo das alte Preußen den Atem anhielt und sich nicht aus den Löchern hervortraute, in die es sich verkrochen hatte – da zeigten sich hier und dort überraschende Erscheinungen, die plötzlich ohne Vorkenntnisse, ohne Erfahrung und ohne Ausbildung alle Grade des preußischen Tschins überhüpft hatten und kraftvoll und spielend zugleich das in sechs Stunden erledigten, was ein königlich preußischer Oberregierungsrat in einer Woche lahm zu verkorksen pflegte. Mir sind viele solche Beispiele bekannt geworden, wo einfache Leute in ihrer Eigenschaft als Vorsitzende des Soldatenrates, als »Kommandanten«, als Leiter und Führer jedes Grades eine Geschicklichkeit, eine Menschenkenntnis, eine Umsicht und eine Energie entwickelten, die bewiesen, dass man diese Dinge nicht nur lernen, sondern auch besitzen kann. Zugegeben, dass viele, einmal zur Macht gelangt, nur die Untugenden ihrer verhaßten Vorgesetzten übernahmen und mit Geschäftsordnungsdebatten, preußischen Schikanen und jenem dämlichen Dünkel pensionsberechtigter Spießer all das weiter trieben, was sie von jenen zu erleiden gehabt hatten. Aber eine Reihe von Männern war doch ersten Ranges und wußte Menschen zu führen, zu lenken, anzufeuern und zu bremsen.
Wo sind sie – ?
Wo sind alle diese, die durch ihre Existenz der brillentragenden Juristenclique einen Schreck ins Gebein jagten, weil die durch bunte Bierbänder geeinte Beamten-Genossenschaft mit beeidetem Hintern deutlich fühlte, wie hier Leute ans Ruder zu kommen drohten, die gar keine Paragraphenkenntnis, aber sehr viel gesunden Menschenverstand besaßen. (Man braucht nur zu beobachten, wie findig und vernünftig irgendein gewandter Chauffeur eine Sache anfaßt, und wie stumpfsinnig, verlogen und verdreht dasselbe von einem verbrauchten Schreiber der Verwaltung exekutiert wird.)
Wo sind sie –? Der erste Schreck ist gewichen. Und die Schlangenklugheit der preußischen Beamtenschicht hat über den gesunden Impetus der neuen Männer, die von unten kamen, gesiegt. Blutauffrischung? Aber man hat die Unbequemen längst abgeschoben, durch Beförderungen auf rein repräsentative Posten unschädlich gemacht, eingesperrt, verleumdet, ermordet … Wo sind sie? Da, wo sie waren … Unten.
Die von der Revolutionswelle nach oben gespülten Korkmännerchen hatten nicht einmal die Tüchtigkeit, sich gute Gehilfen auszusuchen, wohl aber die Dummheit, sich von den Männern mit den guten Manieren, den Paragraphenbrocken, der Aktienroutine imponieren zu lassen. Wolfgang Heine war gar nicht mehr zu sehen, so hatten sie ihn eingewickelt; Noske war böswillig, und nur Braun verstand es, sich überzeugungstreue Männer zur Arbeit heranzuziehen. Gegen einen sozialistischen Schulrat in Berlin liefen sie alle Sturm, weil ihm irgendwelche Papiere fehlten, die eine Prüfung mit durchschwitztem Frack anzeigten – aber dass dreißig Jahre lang ein Commis Kaiser gewesen, und dass die Vorbildung der meisten Minister von der Bureaugewandtheit ihrer Geheimen Expedierenden Sekretäre übertroffen wird, stört eine Nation nicht, die allemal den Grad über das Herz, die Formelexamina über die innere Beziehung setzt, und die, wo es sich um den Kopf handelt, ingrimmig auf die Hämorrhoiden starrt.
Und so erzieht sie Männer. Und wundert sich, dass keine da sind, wenn das Schiff in Not ist. Und jagt die paar, die aus der Mannschaftskombüse gelaufen kommen, wieder weg, weil ihnen die goldenen Streifen auf dem Ärmel fehlen, und will lieber unter einem planmäßig angestellten Staatssekretär der Gehaltsklasse XI zugrunde gehen als leben bleiben unter vernünftigen Männern, die gesund und volkstümlich denken.
Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 27.04.1922, Nr. 17, S. 430.