Gib ihm Saures – er kann sich nicht wehren!
Eines Morgens wachten die münchner Bürger auf und entdeckten zu ihrem Erstaunen, dass sie in einer Räterepublik waren. Und doch noch dazu in einer, gegründet von ›Schlawinern‹, von landfremden Elementes (wie heute jeder Bauer jeden Mann nennt, der da geboren ist, wohin er nicht mehr spucken kann) – da saßen sie hinter ihren Maßkrügen und staunten in die Welt. Es war eine bittere Zeit. Wenn man die Leute heute fragt, was sie eigentlich damals auszustehen gehabt hatten, dann sagen sie alle dasselbe: nämlich im Grunde gar nichts. Die Münchner Räterepublik hat im ganzen vierzehn Menschen das Leben gekostet – es waren das jene zehn Geiseln im Luitpoldgymnasium (ein Mord, für den es mancherlei Erklärungen, aber keine Entschuldigung gibt) –, dazu kommen, wenn man sehr gewissenhaft rechnet, noch vier Menschenleben, die auf das gleiche Konto zu setzen sind. Soweit diese Revolutionäre,
Als man die münchner Spießer von außen her befreit hatte, zogen die ›siegreichen‹ Truppen in die bayerische Residenz ein – und zur gleichen Zeit büßten einhundertvierundachtzig Menschen der Gegenseite ihr Leben auf die mannigfaltigste Weise ein: durch ein willkürlich gehandhabtes Standrecht, durch viehische Ermordungen (Landauer wurde von den Uniformierten erschlagen, wie man keinen Hund erschlägt; die Leiche wurde gefleddert) – Rache! Rache!
Die Hauptrache genoß man kalt. Die ›Schlawiner‹ wurden vor Volksgerichte gestellt, es waren Ausnahmegerichte – und die Räteregierung Münchens büßte ihr Verbrechen mit 519 Jahren 9 Monaten Freiheitsstrafen; ein Todesurteil wurde gefällt (Leviné); drei Führer wurden von den Soldaten ermordet. (Die Anhänger der Kapp-Regierung befinden sich sämtlich in Freiheit.)
Eine Reihe Kommunisten wurden zu langen Festungsstrafen verurteilt – darunter Toller, Mühsam und viele andere. Das Reichsstrafgesetzbuch bestimmt in seinem § 17:
»Die Strafe der Festungshaft besteht in Freiheitsentziehung mit Beaufsichtigung der Beschäftigung und Lebensweise der Gefangenen; sie wird in Festungen oder in anderen dazu bestimmten Räumen vollzogen.«
Aus dieser Formulierung geht klar hervor, dass es sich um eine leichte Haftstrafe handelt; ein Arbeitszwang ist zum Beispiel ausgeschlossen, und man denke nur an die Schilderung der Festungshaft von Duellanten, sie sich meist stiermäßig dabei betranken – so wird man ungefähr ein Bild dieser mehr oder weniger scharfen Haft haben.
Die in der bayerischen Festung Niederschönenfeld Internierten nun werden augenblicklich unter der Amtsgewalt des bayerischen Ministers Lerchenfeld drangsaliert, rechtswidrig behandelt und so gequält, dass sie der Verzweiflung nahe sind.
Der Demokrat Müller-Meiningen, ein besserer Herr, der sich schon im Kriege dadurch auszeichnete, dass er eine Schrift unter sich ließ: ›Wir brauchen eine Reichsjugendwehr!‹ (man stelle sich das vor!) – dieser Demokrat hat die wehrlosen Gefangenen seinerzeit in der Presse verleumdet, und dann hat er als Justizminister durch eine Verordnung, entgegen den Bestimmungen des Strafgesetzbuches, die Vergünstigungen der Festungsgefangenen aufgehoben. Ihre Haft gleicht also fast der, wie sie in Gefängnissen vollstreckt wird. Sie ist schlimmer, weil die Überwachungsbeamten, und ganz besonders die höheren, politische Gegner der Gefangenen sind und diese das täglich in der schlimmsten Form zu spüren bekommen.
Diese Männer, die – wie selbst das bayerische Gericht anerkannt hat – sich keiner ehrlosen Gesinnung schuldig gemacht haben, wandern in die Festungshaft. Sie haben dort das recht tröstliche Bewußtsein, dass die Leute, die genau das gleiche wie sie begangen haben, ganz genau das gleiche – die Kapp-Verbrecher –, dass diese samt und sonders in Freiheit sind. Es muß einem doch Tag und Nacht mächtig an der Seele fressen, zu wissen, dass ein Mensch wie Jagow, der weggelaufen ist, als es brenzlich wurde, sein altes Privatleben fortführt; ob er Pension vom Staat bezieht, ist nicht bekannt, möglich ist ja hierzulande und bei diesem alten Beamtenkörper alles. Nun hocken diese zum größten Teil geistig gerichteten Männer da in der Festung – ihr einziger Lichtblick sind Besuche, Bücher, Briefe. Hier hat Müller-Meiningen eingegriffen.
Einer der Entlassenen – Ernst Niekisch, ein Mitglied des Bayerischen Landtages, hat in Nr. 46 der ›Weltbühne‹ auf acht Seiten das Elend der schikanierten Gefangenen erzählt: seine Darlegungen sind im ›Vorwärts‹ ergänzt worden, und eine ausführliche Denkschrift von ihm wird jetzt in München erscheinen. Danach liegt der Justizskandal, vom wackern Müller angezettelt, so:
Die Briefzensur ist unerträglich. Das Verfügungsrecht über das Geldeigentum ist aufgehoben worden. Es hagelt Disziplinarstrafen: Bettentzug – ein Wort, so widerlich wie der Begriff – Hofentzug – rechtswidrige Herabsetzung der Besuchszeit auf sechs Stunden wöchentlich; der Urlaub wurde beseitigt; nachts sind die Zellen abgeschlossen; und Schikanen, Schikanen, Schikanen. Einer muß vierzehn Tage ohne Hosen in seiner Einzelzelle sitzen; sieben Tage lang ohne Bettzeug auf dem kalten Fußboden schlafen. Einzelhaft, Besuchsverbot, Schreibverbot, Kostentziehung … Schikanen, Schikanen, Schikanen. Während des Kapp-Putsches Hofentziehung und Zeitungsverbot. Später Untersuchungshaft wegen der dümmsten Beschuldigungen, die nicht Hand und Fuß hatten; Beleidigungsklagen, wenn einer der gequälten Leute einen unbeherrschten Ausdruck gegen einen der Herren Gefangenenwärter gebraucht hatte; Verurteilungen, Gefängnisstrafen, Urlaubsverweigerung bei schweren Krankheitsfällen von Familienmitgliedern … Schikanen, Schikanen, Schikanen.
Nun weiß jeder von uns aus seiner Militärzeit, wenn man lange miteinander, auf engem Raum, zusammenlebt, wenn man sich nicht fortrühren kann und tagaus, tagein aufeinander angewiesen ist: dann wird man abscheulich nervös. Man mag den harmlosen Nebenmann mit seiner dicken Nase, mit seinen ständigen Angewohnheiten schon gar nicht mehr sehen. Von dieser Gereiztheit wissen wir alle – wissen alle Nordpolreisenden zu erzählen, die so lange miteinander auf einem Schiff hockten. Wir wissen auch, wie wichtig die kleinen Dinge des Lebens in solchen Lagen werden – welch weltbewegende Sache das ist, wenn der eine Kamerad Urlaub bekam, der einem selbst vielleicht abgeschlagen worden War, wie entsetzlich schwer Verbote und all der Kleinkram des Dienstes aufgenommen wurde. Hört das Zusammenleben auf, dann gibt sich auch die Gereiztheit sehr schnell, und alles ist vergessen.
Nun denke man sich die Lage dieser armen Leute: sie sind auf Gnade und Ungnade der politischen Rachsucht von streberhaften Staatsanwälten, größenwahnsinnigen Aufsehern, sadistischen Feldwebeln ausgesetzt. Ihr kennt alle den preußischen – man muß heute schon sagen: bayerischen – Amtston, auf den es nur eine Antwort gibt: ein paar hinter die Ohren. Nun denkt, wie die, wehrlos, mit zusammengebissenen Zähnen, fern aller Zivilisation, fast ohne Nachrichten, ohne Aussicht, in den nächsten langen Jahren da herauszukommen – Mühsam hat im ganzen fünfzehn Jahre abzumachen –, wie denen da zumute sein muß! Und da findet sich kein Retter, keiner –?
Ihre Vorgesetzten wechselten. Der Demokrat Müller-Meiningen hatte durch seine rechtswidrige Verordnung dauernd die Hände in dem Handel – einmal, im Februar 1921, wurde ein junger Amtsrichter nach Niederschönenfeld versetzt, der behandelte die Leute human – sie atmeten auf. Als der berüchtigte Dr. Roth, der damalige Justizminister, die Anstalt, in die die Gefangenen aus einem alten Zuchthaus gekommen waren, besichtigte, fand er die Behandlung zu milde. Ein Herr Kraus, ein Staatsanwalt aus Augsburg, wurde an Stelle des Amtsrichters an die Anstalt versetzt.
Eine neue Leidenszeit begann. Er bewaffnete die Aufseher. Die Besuche wurden während der Unterhaltung kontrolliert. Es fiel bei einer Beschwerde des internierten Landtagsabgeordneten Sauber das schöne Wort: »Wir werden mit Sauber fertig werden, wie wir mit Gareis fertig geworden sind!« – Aber gewiß werden sie. Es sind ja gelernte Bayern.
Und Lerchenfeld, der nun regiert? Unter seiner Amtsführung wird Toller sühnelos gestoßen, dauernd disziplinarisch bestraft; die Briefe werden angehalten – der alte Jammer geht weiter …
Keiner getraut sich, Bayern liegt nur noch geographisch im Reiche. Über die Rechtsvorstellungen, die augenblicklich in Bayern herrschen, ist kein Wort zu verlieren: Links-Revolutionäre haben dort kein Recht. Man muß die ganze Angelegenheit auch gar nicht vom juristischen, sondern lediglich vom rein politischen Standpunkt aus betrachten. (Und vom menschlichen. Wie nennt man Leute, die sich so, unfaßbar, amtsgedeckt, korrekt, an Wehrlosen vergreifen?) – Der Oberleutnant Boldt, der tapfer und gottesfürchtig Rettungsboote auf hoher See vom U-Boot aus versenkt hatte, wird zu Gefängnis verurteilt – also nicht, wie die Niederschönenfelder – zu Festung – und büßt die Strafe in einer Schreibstube ab; man gibt ihm also einen Vertrauensposten. Der deutsche Offizier würdigt das Vertrauen und kneift aus.
Und in Niederschönenfeld leiden Menschen. Leiden unter der stumpfsinnigen Qual der Feldwebelfäuste, unter bürokratischen Schikanen höherer Beamter, die sich für alles, alles rächen, was ihnen das bißchen Republik angetan hat.
Sie sind so weit fort. Und uns tuts nicht weh. Der Berliner regt sich ja kaum auf, wenn auf seinen Polizeiwachen auf das widerwärtigste geprügelt wird. Sie sind so weit fort.
Ich meine aber doch: Man sollte ihnen helfen.
Ignaz Wrobel
Welt am Montag, 21.11.1921.