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Die eine Zeitung

Das Malheur ist nicht, dass die Leute Zeitungen lesen. Das Malheur ist, dass sie meist nur eine Zeitung lesen. Ihr Blatt. Das Blatt.

Was in dieser Zeitung steht, ist ein für allemal wahr, stabilisiert wie ein rocher de bronze, festgestellt und erledigt. Es ist ganz erstaunlich, wie wenig Leute dahintergekommen sind, dass auch die Zeitung ein Produkt wirtschaftlicher und geistiger Strömungen ist, dass sie durchaus nicht immer nur spiegelt, sondern auch ihresteils kleine Lampen anzündet, die die Öffentlichkeit für Reflexe hält, und kurz und gut: dass man die Meinung des Lesers machen kann, wie man Strümpfe herstellt. Ein alter berliner Chefredakteur hatte Grundzug und Tendenz der Zeitung, lapidar in Goldschrift auf einen weißen Porzellanteller gemalt, über seinen Schreibtisch gehängt: »Das Publikum ist noch dümmer.«

Das Niveau eines Menschen ist außer an andern Dingen auch daran zu erkennen, wieweit er fähig ist, über seine Gruppe hinauszusehen. Nur der kann für voll genommen werden, der sich zwar aus Utilitarismus oder Überzeugung seiner Gruppe anschließt, aber doch genau weiß: man kann es auch anders machen, denn anderswo wird es anders gemacht.

Davon steht in der Zeitung kein Wort. Die ist im Gegenteil bestrebt, den Leser ja nicht aus den Pantinen kippen zu lassen und ihm immerdar die Überzeugung einzuträufeln, dass alles auf der Welt genau so und nur so vor sich gehe wie in Buxtehude, Miesbach oder Berlin. Es gibt auch einen radikalen Konservativismus, und jede Zeitung hat Maukbeene: sie kann schlecht vom Fleck. Die jahrelang gewohnten Typen und Satzbilder, die feststehende Anordnung des Stoffes wirken lähmend und einschläfernd.

Herr Oborniker sitzt morgens im Schreibsessel und blättert, bevor er die Post öffnet, in seinem von Kindesbeinen an gelesenen Journal. Er weiß genau: Die Welt zerfällt in groß und klein Gedrucktes, Deutschland steht vorne, Amerika hinten und Bitterfeld in der Mitte. Und was die fünf Männerchen, die fünf Hampelmännerchen: Leitartikler, Lokalredakteur, Theaterkritiker, Handelsredakteur und Feuilletonplauderer ihm zu sagen haben, das geht ihm selig ein, und er schwört darauf wie auf die Bibel, die seine Vorfahren (entweder den ersten oder den zweiten Teil) ebenso fromm und eifrig gelesen haben wie er sein Blatt. Aber ich glaube fast: die Leute waren besser aufgehoben, als der verantwortliche Hauptschriftleiter noch Paulus hieß.

Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 16.03.1922, Nr. 11, S. 279.