Wohltätigkeit
Davon ist man jetzt eigentlich ganz abgekommen: Gutes zu tun. Es ist nicht modern.
Wohltätigkeit ist zwar nach Multatuli immer ein Zeichen dafür, dass etwas faul ist im Staate – und das ist auch richtig. Aber ich muß doch sagen, dass es mir heilsamer erscheint, bis zur endgültigen Lösung der sozialen Frage wenigstens persönlich etwas, ein klein wenig nur, für die Armen und Heruntergepolterten zu tun, als einfach die Hände in den Schoß zu legen. Es ist niemals so schwierig gewesen, Leute für eine wohltätige Spende heranzubekommen, als grade jetzt.
Dabei ist sehr merkwürdig, daß, zum Beispiel, die ältern, früher in Wohlstand befindlichen Familien immer noch eher etwas geben als jene neuen Reichen, die doch eine beschränkte Lebensführung aus eigner Anschauung kennen. Nein, die wollen nicht. Und das Gefühl dafür, dass es eigentlich eine Art Pflicht ist, andrer zu gedenken, wenn man selbst viel verdient – dieses Gefühl ist fast ganz verlorengegangen.
Ein Freund hat mir neulich erzählt, wie es auf dem Begräbnis eines alten Onkels von ihm zugegangen sei: da war die ganze Familie erstaunt, was sich da für ein Trauerzug auf dem Friedhof eingefunden hatte – Krüppel, Blinde, die geführt wurden, alte Madamchen, Kinder in sauber gebürsteten Zöpfen – viele Leute, die keiner kannte. Es waren Menschen, die der Verstorbene unterstützt hatte, sein Leben lang, ohne dass das einer wußte. Heute … ? Ich kenne eine reiche Dame, bei der müßte im Trauerzug nur der Schoßhund hinterherwackeln.
Nun muß man ja nicht nach den Listen der großen Zeitungen gehen und nach dem Geschrei, das diese oder jene Riesenspende hie und da von sich macht. Es wird natürlich immer noch unendlich viel Gutes getan, in der einzig richtigen Weise, in der so etwas zu geschehen hat: leise. (Dank denen, die es angeht!) Aber das ist bei weitem nicht genug. Und vor allem nicht genug von denen, die es tun könnten.
Es ist ganz erstaunlich, wie die Großverdiener – scheußliches Wort für ebensolchen Begriff – fertigbekommen, so ungeheuerlich viel Geld einzustecken, ohne dabei auch nur einmal im Jahr für die Armen etwas zu geben. Und wenn sie es schon einmal tun: dann sicherlich an der falschen Stelle.
Die Dinge liegen ja nun so: Die einen lesen Moritz Heimann – die gäben, wenn sie nur könnten; meistens können sie heute nicht mehr. Die andern lesen Gesammelte Werke in Ganzleder – und die könnten, aber sie tuns nicht. Und jeder von ihnen, ausnahmslos jeder, wird dir erklären, dass es grade ihm beim besten Willen unmöglich sei … weil grade er so viele und drückende Verpflichtungen habe … Aber hier ist einzusetzen. Es sind nicht nur die neuen Reichen, und besonders ihre Frauen, denen man das Gewissen wecken muß. Vielfach ists bei denen nicht einmal Herzensroheit, sondern hauptsächlich Phantasiemangel (worin vorzüglich manche junge Herren groß sind – sie denken nicht an das Elend der andern, wollen nicht daran denken und spüren eines milden Geistes keinen Hauch). Es ist nicht nur der Konjunkturgewinner, der zu faul und zu herzensträge ist, Gutes zu tun. Es ist auch der neue Mittelstand, dem es nichts ausmachte, wenn er monatlich einer wohltätigen Stiftung zehn Mark überwiese. Aber lieber platzt er. Und daß »viele Wenig ein Viel machen«, wird er niemals begreifen.
Dies ist kein Aufruf, irgend etwas Bestimmtes zu tun – und ich mag auch keinem in seinen Privatgeschmack hineinreden. Aber wenn Sie wieder einmal in einer alten Manteltasche unvermutet zwanzig Mark finden und wenn Sie einmal in einer Herzensfalte unvermutet eine kleine Portion Güte auftreiben –: erinnern Sie sich, bitte, dieser Zeilen.
Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 24.08.1922, Nr. 34, S. 205.