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Amerikanischer Abend

Oder hieß es: Abend in einem amerikanischen Tingeltangel?

Wenn das Programm so weit gediehen ist, dann zeigt sich auf der Bühne eine Bühne. Vier kleine Proszeniumslogen, zwei im Parterre, zwei im ersten Rang, und zwischen ihnen ein roter Vorhang. Links betritt mit einem Freunde ein süßer kleiner Mann die Loge. Das ist eine Nummer! Zuerst zieht er aus der Tasche seinen Eßvorrat, den man schließlich zu einem Theaterbesuch benötigt: viele, viele Schrippen. Er reiht sie zärtlich auf, er zählt das braune Gebäck, er beißt alle ein bißchen an und legt alle wieder hin. Von nun an hat er das Maul beständig voller Semmelkrumen, und wenn man spricht oder lacht, sprützen sie. Und muß man nicht lachen, wenn in der gegenüberliegenden Loge ein langer, aber besoffener Kerl im Smoking sitzt? Kaum hat der Kleine ihn gesehen, so gehts los, in einem kreischenden Sopran: »Siiih maaah – ein betrunkener Mann! O Gottogottogott! Ein Betrunkener!« Und gackert und schreit und kreischt, dass das Brot nur so fliegt, bis er merkt, dass der Lange ihn ernst und gemessen anstarrt. Dann bricht sein Gebrüll wie gehackt ab. Wupp – still. Schweigend stopft er Schrippen …

Die Vorstellung nimmt ihren Anfang. Die Logen wirken wacker mit. Der Kleine kann überhaupt nicht still sitzen, weil sie wohl seinen Sitz geheizt haben, und der Lange hat sich für diesen Abend einen Spaß ausgedacht, jeder Betrunkene hat doch immer nur einen, seinen Spaß: die Nummern, die die Auftretenden ankündigen, aus dem Holzrahmen zu schieben, zu stoßen, zu schlagen. Vielleicht ist das ein Mißtrauensvotum, sicher aber eine liebe Gewohnheit. Und nun fällt das und purzelt und tobt und rast auf der kleinen Bühne umher, bis sich zwei Augenpaare kreuzen, ein Blick hinüber und herüber – und jeder nimmt wieder steif und dumm die gesellschaftliche Attitüde an, die ihm Gott verliehen hat.

Der Lange stößt hie und da sanft auf, fällt auch wohl mit Geprassel in den Logenuntergrund und kommt wieder hoch: ruhig, als ob gar nichts geschehen sei. Der Kleine hingegen ahmt alle Auftretenden nach, imitiert gehässig den sonoren Baß der Manager und hat den Mund voller Krumen. Übrigens treibt er mit der lieben Gottesgabe einen schändlichen Mißbrauch: er dreht sich Operngucker aus den Schrippen, er schießt damit und vergeudet sie überhaupt. Die Vorstellung rollt sich ab wie ein Rad, der Betrunkene ärgert sich über eine Vorhangstroddel, der Kleine kämpft mit dem Ringkämpfer ring, wobei er nicht versäumt, sich auch so ein schönes Leopardenfell über die Hosen zu ziehen – und dabei kreischt er wie ein Vogel, lacht, dass man nicht stille sitzen kann und spuckt Brot.

Zum Schluß torkelt alles durcheinander: Logen, Bühne, Publikum und Akteure. Und wenn wir uns die Tränen abgewischt haben, müssen wir uns immer wieder verwundern, wie der liebe Gott dem einen Volk spendiert hat, sich seine Komik aus dem Nichts zu schaffen, voraussetzungslos, absolut – und dem andern leider nicht; wie er dem einen solche Kerle gab – und dem andern traute Lustspielhäuser.

Peter Panter
Die Schaubühne, 26.02.1914, Nr. 19, S. 262,
wieder in: Mona Lisa.