Ein Neuer
Ich will weder ein neues Genie ankündigen noch zum 54. Male in der Saison konstatieren, dass dieses Buch das Buch ist, vor dem alle andern Bücher eben nur Bücher sind. Aber Heinrich Eduard Jacob ist ein tüchtiger und geschmackvoller Künstler, und von den zehn Novellen im »Leichenbegängnis der Gemma Ebria« können sich einige schon sehen lassen. Das ist gleich die erste und beste, nach der das Buch seinen Namen trägt. Es wäre ganz dumm, hier auf Hofmannsthal hinzuweisen; gewiß hat Jacob gelernt, er ist Gott sei Dank kein »Narr auf eigener Hand«. Seine Sprache ist gepflegt, ruhig, treffsicher und (dreimal Heil!) keine Musik, sondern Sprache. Ich habe oft an d'Annuncio denken müssen bei dieser eigentümlichen Vermischung von weicher Lyrik und scharfer Beobachtung (etwas, was Jacob einmal den »impressionistischen Klassizismus« genannt hat). Wie schön ist das hier: Ein Dichter, Settaglioni, hält die Leichenrede am Sarg der Schauspielerin und spricht von ihrer Sprache: »Wenn sie nur das Wort ›Landleben‹ aussprach, ein gewisses Wort ›Landleben‹ oder ›die Freuden des Landlebens‹ so besaßen wir auch schon die ganze Begebenheit, zu der dies Wort der Schlüssel war. Wir blickten aus einem Fenster über den wackersteingepflasterten Hof, wir hörten die Hühner gackern, sahen des Müllers Esel mit den stäubenden Säcken durch den Torweg trotten. An dem sonnenglänzenden Gehöft vorbei floß ein Bach und führte abgerissene Feldblumen mit sich. Der Wind schiffte lau durch die Wipfel der Kastanien; eine angenehme Schläfrigkeit umgab uns, zuweilen stieg ein roter und warmer Hahnenschrei über den Hof. Wenn sie das Wort ›Vaterland‹ aussprach, so fielen ab von diesem Begriffe alle Verzuckerungen, womit hassenswerte Phraseure ihn rosarot umkleidet hatten, und er stand da in seiner nackten Erhabenheit, nicht ganz anmutig, aber geliebt, geliebt mit tausend Herzschlägen. Wenn sie ›Meer‹ sagte, empfanden wir, obschon wir in einem kleinen, dumpfen Theater zusammengepfercht saßen, mehr als körperlich die blaue Frische. Wie strömte uns die Salzflut entgegen! Wie herb duftete der Tang! Und vielleicht hätte uns die Wirklichkeit enttäuscht, gegenüber dem Zauber, den das Wort ›Meer‹, von ihr gesprochen, aus unsern Gehirnen schlug … Von diesen und vielen ähnlichen doch sehr sachfreudigen Bemerkungen könnte man glauben, dass sie wirkungslos über die versammelt Lauschenden dahingestoben seien. Dem aber war nicht so. Im Gegenteil: in dem Augenblick, da Settaglioni es so wollte, gab es auch für den Schiffsmatrosen, der mit einem Mund voll Kautabak und öligen Händen dastand, nichts Wichtigeres als das sprachliche Vermögen der dahingeschiedenen Schauspielerin.«
Außer dieser Novelle mit dem wunderschönen Schluß ist noch »Das kindliche Chaos« zu lesen und »Der Abschied des Schauspielers« und »Der Lenzbrief« mit dem unvergeßlichen Satz: »Und welche Versprechungen bringt dir der Wind!«
Aber das Buch ist nicht geschrieben, damit es besprochen, sondern damit es gelesen wird. Und es ist zu wünschen, dass recht viele es lesen, dann wird vielleicht Heinrich Eduard Jacob sich eines Tages entschließen, seine gesammelten Gedichte herauszugeben, die so unendlich Schönes enthalten.
Er hat ein Gedicht geschrieben »Das Totenmahl«, und es gibt Verse darin wie diese: »Es war nicht mehr denn Hefe in den Bechern, und leise schmeckten sie in jedem Trunk: er ist nicht hier! Ach, dass er nicht mehr hier ist!«
Und es gibt »Epitaphia« von ihm, wie das einer Mutter: »Und ich war so von Nöten, hatte so viel der Zukunft abzubringen: Großes, Kleines. Es war der ungerechteste Befehl, der mich davon trug, eine Eingehüllte in Bitterkeit – die ich doch fast gewohnt war … Denn was sind Frauen? Willenlose Wasser, für die das Schicksal Bett gräbt und Gefälle.«
Und das Epitaph einer Braut: »Da kam ein Etwas, das ich nie ergründe, trat neben mich und rührte sanft mein Kinn, umgab die Augen mir mit einer Binde und nahm als eine Sehende und Blinde – mich hin … «
Vielleicht werden diese Gedichte eines Tages erscheinen, und ich möchte zwei vollständige Proben geben, die die ganze Begabung dieses starken Lyrikers zeigen:
Die Wiesen waren gottgedeckte Tische.
Der Blüten und der Quellen Honig floß.
Wir wandelten zu zweit die Morgenfrische.
Die lichte Wolke war uns Weggenoß.
Wir wünschten uns nicht rasende Gespanne.
Wir zogen hin mit unbeschwertem Sinn.
Und gaben einem unbekannten Manne,
Der bettelte, die letzten Münzen hin.
Und das andere, eines seiner stärksten Gedichte.
Dir war die Nacht ein Schrei der Lust,
mir war sie eine fromme Spende.
Ich hatte meine keuschen Hände auf deine Knie hingelegt –
Dir war die Nacht ein Schrei der Lust –
da fand ich nicht die rechte Pforte
und sagte meine dunklen Liebesworte
an dir vorüber in die Ewigkeit …
Kurt Tucholsky
Prager Tageblatt, 19.05.1912, Nr. 137, S. 6.