Vom alten Stamm
So heißt eine Sammlung, die der Jüdische Verlag in Berlin herausgegeben hat. In dem kleinen Bändchen sind so allerhand Geschichten zusammengestellt, und wenn sie auch nicht formvollendet sind, so geben sie doch ungefähr einen Begriff vom jüdischen Wesen. Wers kennt, weil er selbst Jude ist, wird lächeln, hier in kleinen, anspruchslosen Geschichten meistens auf lustige Art das wiederzufinden, was er schon immer gewußt hat. Die Trambahngeschichte, die in dieser Nummer steht, ist aufschlußreicher als alle Chamberlains. Wie da nichts getan, sondern nur geredet wird! »Einen Fahrschein!« sagt der Schaffner. »Ich höre!« sagt der Fahrgast, aber das ist auch alles. Bezahlen? Nein, aber in dem darauffolgenden Gezänk wird der Schaffner kritisch gewertet –: »Sieh mal an, hat sich einen Messingknopf aufgesteckt und kommandiert!« Das ist so jüdisch: dieses Hindurchsehen durch alle Begriffe, die sich der Mensch erst selber gemacht hat. Der Jude läßt sich nicht schrecken: er sieht durch alle Löcher das Menschliche schimmern und sagts auch. Und all das geht unter ständiger Selbstkontrolle und Selbstironie vor sich. Mitten in der ärgsten Schimpferei sagt der Kutscher: »Weißt du was? Soll sie der Teufel holen mit ihrer ganzen Trambahn. Gib lieber Tabak her, wenn du welchen hast!« Und vergessen ist der unflätige Radau; was sich liebt, das neckt sich; es kommt ihnen selbst schon komisch vor. Und dies scheint der Vorzug und der große Fehler dieses Volkes zu sein: es kommt ihnen selbst schon komisch vor. Sie sind nicht fähig, simpel und eindeutig eine Sache durchzudenken; sie schweifen ab, sie sind überscharf, sie sehen auch alle Nebenumstände mit, nichts entgeht ihnen – außer dem gewünschten Resultat, das nicht so lange gewartet hat, und das der Arier oft genug ohne Analyse einheimst. Sie wissen schon immer, sie nehmen alles nicht mehr so ernst, weil sie es zugleich von vorn und von hinten sehen, und das ist eben auch wieder ein Vorzug. Sie sind skeptisch, vorsichtig, bewußt. »Daß man sich durch dergleichen bürgerliche Tugenden nicht viel beliebter macht als Ratten und Mäuse, ist allerdings selbstverständlich«, sagt Busch. Und kurz und gut: all das und noch viel mehr könnt ihr in den kleinen Bändchen lesen. Sie seien bestens empfohlen.
Peter Panter
Die Schaubühne, 07.05.1914, Nr. 19, S. 539.