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Kritik des Parketts

Wenn fromme Reden das Geschäft begleiten, dann fließt die Arbeit munter fort; und weil man sich nicht gern die Einflußlosigkeit der Kritik in diesen Dingen zugesteht, kaschiert der Pressemensch unter Witzen, dass er gezwungen ist, achselzuckend zuzugeben, die neue Posse im Berliner Theater sei zwar … aber –. Und das macht ja der Freundschaft kein Loch, deswegen gehen geht sie doch.

Und so wollen wir weniger die Bühne als das Parkett rezensieren. Denn was aus diesem Possenstoff hätte herausgeholt werden können, ist sorgfältig vermieden: der Werdegang Berlins. Man hatte knapp das äußerlichste Kolorit getroffen und … Pfui, Panter, ich glaub gar, du duckst dich zum Sprung!? Schnurre, leck dich und spinne träumerisch die Geschichte des Publikums von 1913.

Siehe, die Zahl der zuschauenden Mitarbeiter war größer als die der einfachen Zuschauer. Die Lieferanten saßen in der Loge und die Konfektionäre im Parkett und die Hausdiener im zweiten Rang. Man klatschte. Es gab aber kaum etwas zu beklatschen. Denn weinerliche Sentimentalität und Radaumusik läßt man sich gefallen, wenn beides aus dem Herzen kommt; aber es kam aus dem Direktionsbureau und der Routine, und so etwas ist lieblos. Irgendwie ist dies verlogen: so wie man sich gegenseitig suggerierte, man sei ein gesellschaftliches Bild, weil man im Smoking und mit nackten Schultern dastand, so suggeriert man sich den Schlager und den Tango und die Modenschau. Etwas stimmt nicht. Man hörte die Scharniere knacken. »Wenn Bismarck mal zur Regierung käme, das wäre ein schönes Unglück«, sagt einer. Aha! denkt der aufgeklärte Zuschauer und fühlt sich überlegen. »Diese neumodische Eisenbahn« … und wieder wirft sich jener in die gestärkte Brust, weil er morgens mit einer Untergrundbahn zu fahren gewohnt ist. Das goldene Herz wird in den Laden gestellt, die Demokratie der achtziger Jahre – so wie überhaupt die Possenbühne bestrebt ist, dem Berliner einzureden, seine Stadt habe sich seit dreißig Jahren nicht verändert. Alles ist hier nicht 1913, sondern eine trübe Vortäuschung einer nun doch vergangenen Epoche. »Wenn ick man auch 'n einfacher Schlosserlehrling bin … «, sagt Sabo. Das läßt tief blicken. Niemand empfindet mehr so. Man ist nicht mehr Schlosserlehrling, sondern Monteur bei der AEG, und legt Wert darauf, durchaus nicht einfach zu sein. Aber liegt schließlich für die Großindustriellen der Possenfabrikation ein Grund vor, sauberer zu arbeiten, solange der Markt aufnahmefähig für die alten Modelle ist? Und so werden wir noch eine Weile die Surrogate einer berliner Posse erleben – das Original aber ist tot, und es scheint heute keinen Standpunkt mehr zu geben, von dem aus man diese scheinbar unzusammenhängende Vielheit von Berlins fassen könnte.

Die Darsteller schnitten gut ab, lösten ihre Aufgaben zur Zufriedenheit, waren ansprechend oder entsprechend, zeichneten sich aus und sind überhaupt zu nennen. Wirklich komisch aber: Fräulein Sabo in der Krinoline und Señor Josef Dora in unglaublichen spanischen Hosen. Aber als sie, die Dora, einmal – die einzige am ganzen Abend – richtig spielte, als sie, eine hundertzweiundachtzigjährige Greisin, fauchend und kratzend im Modesalon ihren Mann anzischte, ohnmächtig, zahnlos und eitel-wunderlich: da schwieg das Haus. Nicht vor Ergriffenheit, sondern weil es sich den Namen der Modefirma, die da ausstellete, zuzuflüstern hatte.

Peter Panter
Die Schaubühne, 09.10.1913, Nr. 41, S. 986.