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Das neue Drama von Gerhart Hauptmann

Am Schlusse des Dramas, als sie die Leiche Gabriel Schillings bringen, stehen die Worte: »Etwas Lautloses, Unwirkliches liegt in dem Vorgang.« So ist das ganze Stück – unwirklich. Kein Satz, der um seiner selbst willen gesprochen wird, keine Person, deren Schicksal für uns das augenblicklich Wichtigste ist …

Der Maler Gabriel Schilling ist auf eine einsame Insel der Ostsee geflohen, zu guten Freunden, zu einem Bildhauer und seinem Mädel – geflohen vor Hanna Elias, die ihn seiner Frau abspenstig machte und (mehr) sein künstlerisches Schaffen verhinderte. Sie reist ihm nach, er bekommt in der Aufregung einen Anfall, seine Frau kommt, Szene zwischen den beiden Rivalinnen, im Fieber geht er ins Wasser. –

Hier heißt es nun glauben oder nicht glauben: Das ist es nicht. Darauf kommt es in letzter Linie nicht an: »Ich kann dir eine andere Empfindung zugeben«, sagt im Laufe des Stückes der Bildhauer, »die den meisten Menschen abhanden gekommen ist: das klare Gefühl, das sich hier ununterbrochen meldet, dass hinter dieser sichtbaren Welt eine andere verborgen ist. Nahe mitunter, bis zum Anklopfen.« Um die handelt es sich. Sie hat keinen Zusammenhang mit der wirklichen – wir sehen eine Tragödie und dahinter ist ein grinsendes Loch, wir hören ein Scherzwort von Mann zu Mann über einen sonnigen Platz gerufen, und etwas Grausiges wird vielleicht verdeckt. Gewiß, Gabriel Schilling muß sterben, und er wird von seinen beiden Frauen gequält, der Freund sucht ihn vergeblich zu retten, aber das ist es alles nicht, hier werden (Gott sei Dank) keine Probleme gelöst, keine Weltanschauungen gewälzt. Hier ist beinahe die große Aufgabe gelöst, ein Stück Leben so konzentriert unter Hinweglassung alles Unwesentlichen zu geben, dass wir empfinden wie so oft: Vielleicht ist es alles gleichgültig, was wir tun, und warum stoßen wir uns aneinander, wenn wir doch nicht anders können, warum gearbeitet, Frauen verführt, Aufregungen erlebt, über Büchern geweint? Und nicht nur diese Frage ist in dem Stück, sondern die große Antwort, die in allen Stücken Hauptmanns ist: weil wir leben, weil die Seligkeit des Daseins einzig in diesen (an sich unwesentlichen) Vorgängen steckt, weil wir gerade in diesem Rahmen deutlich empfinden, dass alles in einer Reihe steht: Selbstmord, und Ehebruch und ein Sturm an der See und das Spiel eines Kindes.

In diesem Stück sind noch Schlacken, Stellen, bei denen man einen kurzen Augenblick empfindet: warum – wir haben es ohnehin gewußt – aber das ist fast nicht der Rede wert – du liest das Ganze und vielleicht ist die augenblickliche Wirkung nicht groß, aber plötzlich, wenn du später etwas arbeitest oder küßt oder lachst – dann ist es da, und du weißt auf einmal, was dich mit Gabriel Schilling und dem Bildhauer Mäurer und allen verbindet: – Das Menschheitsgefühl, dieses Unnennbare, der Funke, der von Geschöpf zu Geschöpf überspringt.

Ich halte es für überflüssig, die Struktur des Dramas zu zerfasern, seinen Inhalt näher zu befühlen – es gibt auch keine wertvolle dataillierende Abhandlung überein Volkslied –, ich weiß nur, dass es zu den Stücken Hauptmanns gehört, die so zum Leben gehören wie das Bewußtsein: die Sonne, das ist etwas Helles, Großes.

Es gibt keine Kunstmittel, mit denen diese Wirkungen zu erreichen sind. Warum stockt der Atem bei den gewöhnlichsten Stellen? Wir wissen genau, was kommen wird, zum Beispiel als Hanna Elias in den Gasthof tritt – sie ist schon in ihr Zimmer hinaufgegangen, und den nächsten Tag oder diesen noch, oder nach einer halben Stunde wird Gabriel Schilling, der seine Ruhe finden wollte, mit ihr zusammentreffen, unten steht das Gepäck, und ein Fischer tritt ins Wirtshaus, wischt sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und sagt zum Wirt: »'t makt warm, Klas Olfers! 't makt wedder warm hüt!« Jeder andere hätte diese erstickende Luft, die drückende Situation geschildert oder angedeutet und hätte nicht diese aufregende Wirkung erzielt, wie diese einfachen, gleichgültigen Worte es tun, es ist wie ein Dominantakkord, auf dessen Auflösung man schmerzlich wartet.

Diese Sätze vergehen nicht. Wie der Satz nicht vergehen kann, den Frau Käte am Schluß der »Einsamen Menschen« spricht; angstvoll zitternd: »Nur das nicht, ich will ja gern alles tun.«

Worin die ungeheure Wirkung dieser Dramen, zu denen auch der im Jahre 1906 geschriebene »Gabriel Schilling« zu rechnen ist, beruht? Ich weiß es nicht.

Hauptmann will das Drama zunächst nicht aufgeführt wissen. Sein Wunsch ist »eine einmalige Aufführung vollkommenster Art, im intimsten Theaterraum« – unerfüllbar, wie er wissend hinzufügt – unerfüllbar wenigstens für Berlin, das sich mit intensivem Ernst leicht faßbaren Gassenhauern und der klassischen Wasserpantomime zugewendet hat.

Kurt Tucholsky
Prager Tageblatt, 17.01.1912, Nr. 16, S. 6.