Originalgeist. (Schöne Künste) Diesen Namen verdienen die Menschen, die in ihrem Denken und Handeln so viel Eigenes haben, dass sie sich von anderen merklich auszeichnen; deren Charakter eine besondere Art ausmacht, in der sie die einzigen sind. Hier betrachten wir den Originalgeist insofern er sich in den Werken der Kunst zeigt, denen er ein eigenes, sich von der Art aller anderen Künstler stark auszeichnendes Gepräge gibt. Der Originalgeist wird dem Nachahmer entgegen gestellt, wie wir schon anderswo erinnert haben.1 Es ist in verschiedenen Stellen dieses Werks2 angemerkt worden, dass der wahre Ursprung aller schönen Künste in der Natur des menschlichen Gemütes anzutreffen ist; dass Menschen von mehr als gewöhnlicher Lebhaftigkeit der Phantasie und der Empfindung, die zugleich ein schärferes Gefühl des Schönen haben als andere, aus eigenem Trieb und nicht durch fremdes Beispiel gereizt, gewissen Werken oder Äußerungen des Genies und der Empfindung durch überlegte Bearbeitung eine Form und einen Charakter geben, wodurch sie zu Werken der schönen Kunst werden. Diese sind in den schönen Künsten Erfinder, auch denn, wenn sie in ihrer Gattung nicht die ersten sind, sondern bereits Vorgänger gehabt haben: sie sind Originalgeister, insofern sie nicht aus Nachahmung, sondern aus Trieb des eigenen Genies Werke der schönen Kunst verfertigt haben. Gemeiniglich werden dergleichen Genie in ihren Erfindungen und auch in ihrem Geschmack, genug Eigenes haben, dass sie auch darin Original sind. Wenn diese Köpfe keine Vorgänger gehabt hätten, so würden sie die ersten Urheber ihrer Kunst gewesen sein, weil die Natur ihnen alles dazu nötige gegeben hat. Sie sind, wie Young sagt, zufällige Originale.
Man erkennt dergleichen Originalgeister daran, dass sie einen unwiederstehlichen Trieb zu ihrer Kunst haben; dass sie alle Hindernisse, die sich ihnen gegen die Ausübung derselben in den Weg legen, überwinden; dass ihnen Erfindung und Ausübung leicht wird; dass die zu einem Werk nötige Materie ihnen gleichsam in vollem Strom zufließt und dass sie, wenn gleich die Natur mehrere ihnen ähnliche Genie sollte hervorgebracht haben, doch allemal in einigen Teilen viel eigenes und besonderes zeigen. Es gibt zwar auch hierin Grade und ein solcher Originalgeist hat vor dem anderen mehr Mut und Kühnheit: daher kann es kommen, dass einige Erfinder neuer Arten sind, andere sich an die Formen und Arten halten, die sie eingeführt finden und in diesem Punkt Nachahmer sind. So ist in der Dichtkunst Horaz ein Originalgeist, der in den Formen das Bekannte nachgeahmt hat; Klopstock aber hat neue Formen erfunden: in der Musik war unser Graun unstreitig ein Originalgeist, aber er hat in den Formen nichts Neues: in der Malerei war Raphael gewiss Original, aber in den Formen hat er sich ungleich mehr an das gewöhnliche gehalten als Hogarth. Man kann also ein Originalgeist sein und doch in gar viel Dingen sich nach dem gewöhnlichen richten: so ist auch Virgil in vielen Stücken ein bloßer Nachahmer und doch ist er in eigenem reich genug um unter die Originalgeister gesetzt zu werden.
Die Originalgeister, in welchem Stück der Kunst sie es seien, sind aus mehr als einem Grunde, wie Young sich ausdrückt, unsere großen Lieblinge und sie müssen es auch sein; denn sie sind große Wohltäter; sie erweitern das Reich der Wissenschaften und vergrößern ihr Gebiet mit einer neuen Provinz3; sie öffnen uns neue Quellen des Vergnügens und neue Minen, aus denen die zu Lenkung der menschlichen Gemüter nötige Mittel gezogen werden.
Bald jeder Originalgeist verursacht in dem Reich des Geschmacks beträchtliche Veränderung, die sich auch wohl bis auf die allgemeine sittliche Verfassung seiner Zeit erstrecken kann. Denn der große Haufen wendet sich allemal dahin wo er die wenigen kühneren Menschen sieht, die sich neue Bahnen eröffnet haben. Diese sind die eigentlichen Führer der Menschen. So hat Luther, ein großer Originalgeist, viel Völker von der gewöhnlichen Bahn des Glaubens und der gottesdienstlichen Verrichtungen abgeleitet und eine neue Heerstraße errichtet. In Sachen des Geschmacks sind dergleichen Veränderungen noch viel leichter, weil da die Freiheit durch nichts eingeschränkt ist. Diejenigen von unseren Dichtern, die den Mut hatten, den deutschen Vers von den Fesseln des Reims zu befreien4, haben in unserer Dichtkunst eine wichtige Revolution veranlasst; und Gleim, obgleich selbst ein Nachahmer des Anakreons, aber genug original, hat eine ganz neue Schule von Dichtern gestiftet. Bodmer und Breitinger waren auch nur zufällige Originalkunstrichter; aber sie haben dem Reich des Geschmacks in Deutschland eine ganz neue Verfassung geben. Was der Ruhm am glänzendsten hat, ist allemal den Originalgeistern auf behalten; aber sein bestes Kleinod gebührt denen, die in den wichtigsten Teilen der schönen Kunst Original sind.
Zwar hat jedes Original etwas, wodurch es einen Wert bekommt, den die vortrefflichste Nachahmung nicht hat; die Kunst selbst gewinnt dadurch: aber die Nachahmung kann so sein, dass die Erreichung des Zwecks der Kunst dadurch befördert wird, den nicht jedes Original erreicht. Es gibt in den zeichnenden Künsten Kenner, die jedes Originalwerk, jeder Kopie vorziehen; und sie haben recht insofern die Werke zum Studium der Kunst gebraucht werden: wenn aber die Frage darüber ist, was man mit einem Werke, zur allgemeinen Absicht der Künste bewirken könne, so kann eine Nachahmung unendlich mehr wert sein als ein Original. Eben dieses muss man auch bei die Schätzung der Originalgeister bedenken, wo der, welcher am meisten Original ist, nicht allemal jedem anderen vorgezogen werden kann. La Fontaine ist in Erzählung der Fabel höchst original, Äsopus ist es vornehmlich in der Anwendung, das ist, im wichtigsten Teile derselben. Es wäre gar wohl möglich, dass ein Fabeldichter, der ein bloßer Nachahmer des Phrygiers wäre, an Wert den französischen Fabulisten weit überträfe. In Romanen sind Richardson und Fielding Originale, der eine in einer, der andere in einer anderen Art; jener arbeitet immer auf das Herz, dieser auf den Verstand und auf die Laune. Vielleicht ist Fielding mehr Original in seiner Art als Richardson in der seinigen; aber die Art des letzteren ist wichtiger.5 Eben so große Originale sind Montesquieu und Roußeau in dem, was sie über die Verfassungen der bürgerlichen Gesellschaften geschrieben haben; jeder hat ein neues Feld oder neue Aussichten eröffnet: für den Staatsmann, den das Wol oder Wehe der Menschen wenig rührt, ist jener wichtig; der moralische Philosoph wird diesem weit den Vorzug geben.
Selten ist ein Künstler in allen zur Kunst gehörigen Talenten so original, wie Klopstock in jedem dichterischen Talent es ist. Einer ist bloß durch die Phantasie oder bloß durch Laune original; ein anderer ist es durch seine Art sittliche Gegenstände zu empfinden und ein dritter durch den Verstand, die Wichtigkeit oder die weite Ausdehnung des Gesichtspunkts, aus dem er die Sachen betrachtet; und denn kann das Originale mehrerer Talente vielfältig gemischt sein. Swift und Buttler sind beide sehr Original durch Phantasie und Laune, die bei jedem ihre eigenen Mischungen mit anderen Gemütsgaben hatten. Die wichtigsten Originale sind ohne Zweifel die, deren Erfindungen nicht bloß den Künstlern in einzeln Teilen der Kunst vorteilhaft sind, sondern dem Geschmack eines ganzen Volkes eine neue und vorteilhafte Wendung geben; die neue Quellen eines sich über ein ganzes Volk verbreitendes Vergnügens eröffnen; die den allgemeinen Gemütskräften einen neuen vorteilhaften Schwung geben. In frevelhaften Dingen6 original zu sein und einem ganzen Volke dadurch seinen Geschmack mitzuteilen, bringt Schimmer, aber keinen dauerhaften Glanz des Ruhmes. Voltaire ist von mehr als einer Seite wahrhaftig Original; aber dadurch, dass er den Geschmack eingeführt hat, aus ernsthaften Dingen ein witziges Possenspiel zu machen, wird sein Ruhm nicht sehr vermehrt; ob gleich auch darin nicht alles zu verwerfen ist. So hat der Originalgeist, der in Frankreich die Parodien eingeführt hat, dem Geschmack und dem sittlichen Gefühl eben keine vorteilhafte Wendung gegeben.
Unter den vorzüglichsten Originalen der neueren Zeiten behauptet der nicht längst verstorbene Engländer Sterne, einen ansehnlichen Rang. In einigen Stücken ist er so sehr original, dass er keine Nachahmer finden wird Sein Leben des Tristram Shandy wird wohl das einzige Werk seiner Art bleiben: aber seine empfindsamen Reisen haben Nachahmer gefunden und verdienen es auch. Denn diese Sternische Art die gemeinsten Vorfälle des täglichen Lebens anzusehen, ist gewiss wichtig und wird manchen Menschen zur genaueren Selbsterkenntnis führen als jeder andere Weg den man dazu einschlagen könnte.
Wir können hier die Frage nicht mit Stillschweigen übergehen, warum die Originalgeister so selten sind. Es ist wahrscheinlich, dass mehr die Nachahmungssucht als eine gewisse Kargheit der Natur in Austeilung ihrer Gaben daran Schuld sei. Man sieht Genien, die vollkommen aufgelegt sind, selbst Originale zu sein und dennoch von jener Sucht angesteckt werden. Deutschland selbst besitzt einen Mann von großem Genie, der von der Natur mit mancherlei sehr vorzüglichen Gaben versehen ist und der in mehr als einem Fach ein vortrefliches Original sein könnte: und doch sehen wir ihn in mancherlei nachgeahmten Gestalten, erscheinen, durch welche der Originalgeist immer durchscheint. Bald reizt ihn der jüngere Crebillon, bald Diderot, bald Sterne zur Nachahmung. Einigen Originalköpfen mag es auch an Mut fehlen. Indem sie sehen, wie allgemein schon vorhandene Werke bewundert werden, wie die Kunstrichter dieselben zu Mustern aufstellen; wie so gar aus dem, was diese Werke an sich haben, allgemeine Regeln für die ganze Gattung abgezogen werden; so getrauen sie sich nicht einen anderen Weg einzuschlagen. Sie besorgen eine Ode, die nicht horazisch oder pindarisch, ein Trauerspiel, das nicht nach den griechischen Mustern gemacht ist, möchte bloß darum keinen Beifall finden; und darum zwingen sie ihr eigenes Genie unter das Joch eines fremden Gesetzes. In Frankreich mag mancher Originalgeist durch diese Besorgnis unterdrückt werden. Denn diese Nation scheint nichts für gültig erkennen zu wollen als was den Werken ähnlich ist, die in den so sehr gepriesenen Zeiten Ludwigs des XIV gemacht worden. Wir urteilen zwar freier; weil wir selbst noch nicht lange genug große einheimische Muster vor uns haben: aber es scheint doch bisweilen, dass einige Kunstrichter gewissen Werken deswegen ihren Beifall versagen, weil sie von den gewöhnlichen Formen abgehen. Etwas Stolz, wenigstens Zuversicht in seine Kräfte, steht dem Genie wohl an und es nimmt daher neue Kräfte; gegen den Tadel nachahmender Kunstrichter, ruft ihm ein unparteiisches Publikum das sapere aude des Horaz zur Aufmunterung zu.
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1 S. Nachahmung.
2 S. Künste, Dichtkunst, Gesang, Musik u.a.
3 Gedanken über die Originalwerke. S. 16. nach der zweiten Ausgabe der deutschen Übersetzung.
4 S. Lyr. Versarten.
5 Hier ist von der Art den Roman zur Bildung des Herzens anzuwenden, überhaupt die Rede; denn was sich sonst gegen das Besondere der Richardsonischen Behandlung einwenden lässt, ist allerdings erheblich. Der Verfasser des Agathons hat wichtige Erinnerungen dagegen vorgebracht.
6 Frivolités.