Oratorium

Oratorium. (Poesie, Musik) Ein mit Musik aufgeführtes geistliches aber durchaus lyrisches und kurzes Drama, zum gottesdienstlichen Gebrauch bei hohen Feiertagen. Die Benennung des lyrischen Drama zeigt an, dass hier keine sich allmählich entwickelnde Handlung, mit Anschlägen, Intrigen und durch einanderlaufenden Unternehmungen statt habe, wie in dem für das Schauspiel verfertigten Drama. Das Oratorium nimmt verschiedene Personen an, die von einen erhabenen Gegenstand der Religion, dessen Feier begangen wird, stark gerührt werden und ihre Empfindungen darüber bald einzeln, bald vereinigt auf eine sehr nachdrückliche Weise äußern. Die Absicht dieses Drama ist die Herzen der Zuhörer mit ähnlichen Empfindungen zu durchdringen.

 Der Stoff des Oratorium ist also allemal eine sehr bekannte Sache, deren Andenken das Fest gewiedmet ist. Folglich kann er durchaus lyrisch behandelt werden, weil hier weder Dialog, noch Erzählungen, noch Nachrichten von dem was vorgeht nötig sind. Man weiß zum Voraus, durch was für einen Gegenstand die Sänger in Empfindung gesetzt werden und die Art, die besonderen Umstände derselben, unter denen der Gegenstand sich jedem zeigt. Dies alles kann aus der Art, wie sich die singenden Personen darüber auslassen, ohne eigentliche Erzählung hinlänglich erkannt werden.

 Wenn gleich das Oratorium eine Begebenheit zum Grund hat, z.B. die Kreuzigung oder die Auferstehung, so macht dieses darum den Erzählenden Vortrag nicht notwendig; die Begebenheit kann in vollem Affekt lyrisch geschildert werden. So fängt Ramlers

Ihr Palmen in Gethsemane, Wen hört ihr so verlassen trauren? Wer ist der ängstlich sterbende? – Ist das mein Jesus? u.s.w.

Dieses ist lyrisch erzählt oder geschildert und ist die einzige für das Oratorium schickliche Weise, ob sie gleich wenig beobachtet wird.

 Dialogische Reden haben da gar nicht statt, weil sie für die Musik sich gar nicht schicken, die weder Begriffe noch Gedanken, sondern bloß Empfindungen schildert. Es ist höchst abgeschmackt solche Reden, wie man noch bisweilen im Oratorium hört: » Da sprach die Magd zu Petrus, auch du bist einer von ihnen – Petrus antwortete – Nein ich kenne ihn nicht « in musikalischen Tönen vorzutragen.

 Also muss der Dichter im Oratorium den epischen und den gewöhnlichen dramatischen Vortrag gänzlich vermeiden und wo er etwas erzählen oder einen Ge genstand schildern will, es im lyrischen Ton tun. Von der lyrischen Schilderung haben wir eine Probe zum Beispiel gegeben; hier ist eine von der lyrischen Erzählung, aus dem angeführten Stück.

           –– Wehe! Wehe! Nicht Ketten, Bande nicht, ich sehe Gespizte Keile! – Jesus reicht die Hände dar, Die teueren Hände, deren Arbeit wohl tun war. Auf jeden wiederholten Schlag durchschneidet Die Spize Nerv' und Ader und Gebein. u.s.w.

Bei dem durchaus herrschenden lyrischen Ton, hat dennoch mannigfaltige Abwechslung statt. Das Rezitativ, das Arioso, die Arie, Chöre, Duette und alle gewöhnliche Formen der zum Singen abgepassten Texte, können verschiedentlich abgewechselt auf einander folgen.

Eine sehr wesentliche Sache hierbei ist dieses, dass der Dichter mehrere Charaktere einführe.

Vollkommen Gottesfürchtige, denn noch etwas schwache, auch wohl gar verzagte Sünder; Menschen von feueriger Andacht und denn zärtliche sanft empfindende; denn dadurch bekommt der Tonsetzer Gelegenheit jedes Gemüt zu rühren.

 Aber die wichtigste Lehre, die man dem Dichter für diese Gattung geben kann, ist diese, dass in den Empfindungen selbst nichts vorkomme, das nicht unmittel bar aus der Hoheit des Hauptgegenstandes entstehe oder sich darauf beziehe. Der Dichter muss keinen Augenblick vergessen, dass die Personen, die er reden lässt zu einer sehr feierlichen Gelegenheit versammelt sind, wo alles groß sein muss. Man muss von den hohen Gegenständen die man vor sich hat, keine besondere Anwendung aufs kleine, auf das, was wenigen Menschen persönlich ist machen, vielweniger sich in allgemeine moralische Betrachtungen einlassen. So ist die erste Arie in dem erwähnten Ramlerischen Oratorium,

Held, auf den der Tod den Köcher ausgeleert, Hör' am Grabe den, der schwächer Trost begehrt! ob sie gleich, bei einer anderen Gelegenheit schön und wichtig sein möchte, hier nicht groß genug, da sie aus einem bloß besonderen Umstand des hohen Gegenstandes erwächst. Wenn der Tod Jesu als die Versöhnung des ganzen menschlichen Geschlechts angesehen wird; so erweckt besonders der erste Blick auf diese unendlich große Handlung notwendig auch ganz hohe Empfindungen. Noch weit weniger ist die so schöne Arie:

Ihr weichgeschaffne Seelen, Ihr könnt nicht lange fehlen: u.s.w. hier am rechten Orte, wo alles feierlich sein soll.

 Ich zeige diese Mängel deswegen in dem besten Oratorium, das ich kenne, an, damit es desto deutlicher in die Augen falle, wie notwendig die gegebenen Erinnerungen sind, da auch unsere besten Dichter dagegen fehlen.

 Die Musik muss hier in ihrer vollen Pracht, aber ohne allen Prunk, ohne alle gesuchte Zierlichkeit erscheinen. Hier ist es nicht darum zu tun, schön und angenehm, sondern durchdringend und erhaben zu sein. Da wir aber von dem Geschmack der Kirchenmusik in einem besonderen Artikel gesprochen haben, so wollen wir hier das, was schon dort gesagt worden nicht wiederholen, sondern nur in eben der guten Absicht, in der vorher das Ramlerische Oratorium in einigen Stücken getadelt worden, auch einige schwere Fehler, in der auf eben dasselbe von dem großen Graun selbst verfertigten Musik begangen worden, anzeigen. Die meisten Arien unterscheiden sich nicht genug von Opernarien; fast eben die Weichlichkeit und der übertriebene, beinahe wollüstige Puz der Melodien und an einigen Orten so gar Spielereien, die die Empfindung tödten; Passagen, die sich zu jeder Leidenschaft gleich gut schicken; weil sie gar nichts sagen. Z.B. in der Arie: So steht ein Berg Gottes etc. eine Passage auf das Wort steht und ein langer Lauf auf das Wort strahlen. In dem so feierlichen Solo: Weinet nicht, es hat überwunden der Löwe vom Stamm Juda, sind wirkliche, bis zum Ekel wiederholte Tändeleien über die Worte überwunden, der Löwe und dem Stamm Juda. Ich verehre den Mann, der mein Freund war, in seiner Asche, so sehr als jemand; aber über solche schwere Versehen, bei so höchst feierlicher Gelegenheit, kann ich, zur Warnung anderer nicht schweigen. Wenn das warme Interesse für das Wahre und Gute mir diesen Tadel zweier gegen mich freundschaftlich gesinnter Männer abgedrungen; so ist es auch nicht Freundschaft, sondern wirkliche Empfindung der Sache, wenn ich beiden über die Arie: Singt dem göttlichen Propheten, meinen lauten Beifall gebe: viel anderer vortreflicher Stellen dieser beiden Werke nicht zu gedenken.

 

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1 Nach der neuesten Ausgabe.

 


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