Ode - Kraft und Wirkung der Ode


Von der Kraft und Wirkung der Ode kann man aus dem urteilen, was wir in den Artikeln Lied, Lyrisch hierüber bereits angemerkt haben. Empfindung und Laune haben etwas ansteckendes; in der Ode zeigen sie sich aber auf die lebhafteste Weise: Darum ist diese Dichtart vorzüglich eindringend, auch wohl hinreißend. Es waren lyrische Dichter, von denen man sagt, dass sie die noch halb wilden Menschen gezähmt und unwiederstehlich, obgleich mit sanftem Zwange, dahin gerissen haben, wohin sie durch keine Gewalt hätten gebracht werden können. Die Ode hat mit dem Lied, das eine besondere Art derselben ist, dieses vor viel anderen Werken der schönen Künste voraus, dass sie ihre Kraft auch bei noch rohen Menschen zeigt, da die Beredsamkeit, die Malerei und überhaupt die aus verfeinertem Geschmack entstandene Kunst viel weniger popular ist.

Zwar scheint es, dass die hohe Ode sich sehr von dem Charakter, wodurch sie auf den großen Haufen wirkt, entferne, da viel Psalmen, pindarische und horazische Oden oft den feinsten Kennern nicht verständlich genug sind. Man muss aber bedenken, dass uns in dieser Entfernung der Zeit, in der so unvollkommenen Kenntnis der alten Sprachen und sehr vieler Dinge, die zu jener Dichter Zeiten jedermann bekannt waren, manches sehr schwer scheint, was denen, für welche die Oden der Alten gedichtet worden, ganz geläufig gewesen. Dann ist auch ein Unterschied zu machen zwischen den Oden, die für öffentliche Gelegenheiten und für ein ganzes Volk und denen, die nur bei besonderen, einen Teil der Nation oder gar nur wenig einzelne Menschen interessierenden Veranlassungen gedichtet worden. Jenen ist das Populare, Verständliche, wesentlich notwendig; bei diesen wird der Zweck erreicht, wenn sie nur denen, für deren Ohr sie gemacht sind, verständlich sind.

Von welcher Art aber die Ode sei, wenn sie einen von der Natur berufenen Dichter zum Urheber hat und von ihm wirklich in der Fülle der Empfindung oder des Feuers der Phantasie gedichtet worden, so ist sie allemal wichtig. Sie ist dann gewiss eine wahrhafte Schilderung des Gemütszustandes, in dem sich der Dichter bei einer wichtigen Gelegenheit befunden hat. Darum können wir daraus mit Gewissheit erkennen, was für Wirkung gewisse merkwürdige Gegenstände auf Männer von vorzüglichem Genie gehabt haben. Wir können den wunderbaren Gang und jede seltsame Wendung der Leidenschaften und anderer Regungen des menschlichen Gemütes, die mannigfaltigen, zum Teil sehr ausserordentlichen Wirkungen der Phantasie, daraus kennen lernen. Wir werden dadurch von der uns gewöhnlichen Art, sittliche und leidenschaftliche Gegenstände zu beurteilen und zu empfinden, abgeführt und lernen die Sachen von anderen, weniger gewöhnlichen Seiten ansehen. Manche Wahrheit, die uns sonst weniger gerührt hat, dringt durch die Ode, wo sie in ausserordentlichem Licht und durch Empfindung verstärkt erscheint, mit vorzüglicher Kraft bis auf den innersten Grund der Seele; mancher Gegenstand, der uns sonst wenig gereizt hat, wird uns durch die höchstlebhafte Schilderung des lyrischen Dichters merkwürdig und unvergeßlich; manche Empfindung, die wir sonst nur durch ein schwaches Gefühl gekannt haben, wird durch die Ode sehr lebhaft und wirksam in uns. Also dient überhaupt die lyrische Poesie dazu, dass jedes Vermögen der Seele dadurch auf mannigfaltige Weise einen neuen Schwung und neue Kräfte bekommt, wodurch Urteilskraft und Empfindung allmählich erweitert und gestärkt werden. Darum kann die Ode mit Recht auf den ersten Rang unter den verschiedenen Werken der Dichtkunst Anspruch machen und der Reichtum an guten Oden gehört unter die schätzbaren Nationalvorzüge.


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