Lyrisch. (Dichtkunst) Die lyrischen Gedichte haben diese Benennung von der Lyra oder Leier unter deren begleitenden Klang sie bei den ältesten Griechen abgesungen wurden; wiewohl doch auch zu einigen Arten die Flöte gebraucht worden. Der allgemeine Charakter dieser Gattung wird also daher zu bestimmen sein, dass jedes lyrische Gedicht zum Singen bestimmt ist. Es kann wohl sein, dass in den ältesten Zeiten auch die Epopöe von Musik begleitet worden, so wie wir es auch mit Gewissheit von der Tragödie behaupten können. Dessen ungeachtet ist der Charakter des eigentlichen Gesangs vorzüglich auf die lyrische Gattung anzuwenden, da die epischen und tragischen Gedichte mehr in dem Charakter des Rezitatives als des Gesangs gearbeitet sind.
Um also diesen allgemeinen Charakter des lyrischen zu entdecken, dürfen wir nur auf den Ursprung und die Natur des Gesangs zurück sehen [s. Gesang]. Er entsteht allemal aus der Fülle der Empfindung und erfordert eine abwechselnde rhythmische Bewegung, die der Natur der besonderen Empfindung, die ihn veranlasst, angemessen sei. Niemand erzählt oder lehrt singend, wo nicht etwa die Äusserung einer Leidenschaft zufälliger Weise in diese Gattung fällt.
Lyrische Gedichte werden deswegen allemal von einer leidenschaftlichen Laune hervorgebracht; wenigstens ist sie darin herrschend, der Verstand oder die Vorstellungskraft aber sind da nur zufällig.
Also ist der Inhalt des lyrischen Gedichts immer die Äußerung einer Empfindung oder die Übung einer fröhlichen oder zärtlichen oder andächtigen oder verdrießlichen Laune, an einem ihr angemessenen Gegenstand. Aber diese Empfindung oder Laune äußert sich da nicht beiläufig, nicht kalt, wie bei verschiedenen anderen Gelegenheiten; sondern gefällt sich selbst und setzt in ihrer vollen Äußerung ihren Zweck. Denn eben deswegen bricht sie in Gesang aus, damit sie sich selbst desto lebhafter und voller genießen möge. So singet der Fröhliche, um sein Vergnügen durch diesen Genuß zu verstärken und der Traurige klagt im Gesang, weil er an dieser Traurigkeit Gefallen hat. Bei anderen Gelegenheiten können dieselben Empfindungen sich in anderen Absichten äußern, die mit dem Gesang keine Verbindung haben. So lässt der Dichter in der Satyre und im Spottgedicht seine verdrießliche oder lachende Laune aus, nicht um sich selbst dadurch zu unterhalten; sondern andere damit zu strafen. Das lyrische Gedicht hat, selbst da, wo es die Rede an einen anderen wendet, gar viel von der Natur des empfindungsvollen Selbstgespräches. Darum ist die Folge der lyrischen Vorstellungen nicht überlegt, nicht methodisch; sie hat vielmehr etwas seltsames, auch wohl eigensinniges; die Laune greift, ohne prüfende Wahl, auf das, was sie nährt, wo sie es findet. Wo andere Dichter aus Überlegung sprechen, da spricht der Lyrische bloß aus Empfindung.
Gravina hat nach seiner unnachahmlichen Art in gar wenig Worten den wahren Begriff des lyrischen Gedichts angegeben. Die lyrischen Gedichte sagt er, sind Schilderungen besonderer Leidenschaften, Neigungen, Tugenden, Lastern, Gemütsarten und Handlungen; oder Spiegel aus denen auf mancherlei Weise die menschliche Natur hervorleuchtet.*) In der Tat lernt man das menschliche Gemüt in seinen verborgensten Winkeln daraus kennen. Dieses ist das Wesentliche von dem inneren Charakter dieser Gattung. Doch können wir auch noch zum innerlichen Charakter die Eigenschaft hinzufügen, dass der lyrische Ton durchaus empfindungsvoll sei und jede Vorstellung entweder durch diesen Ton oder durch eine andere ästhetische Kraft müsse erhöhet werden; damit durch das ganze Gedicht die Empfindung nirgend erlösche. Nichts ist langweiliger als eine Ode, darin eine Menge zwar guter, aber in einem gemeinen Ton vorgetragener Gedanken vorkommt. Dass der besonders leidenschaftliche Ton bei dem lyrischen Gedicht eine wesentliche Eigenschaft ausmache, sieht man am deutlichsten daraus, dass die schönste Ode in einer wörtlichen Übersetzung wo dieser Ton fehlt alle ihre Kraft völlig verliert.
Hieraus ist auch die äußerliche Form des lyrischen Gedichtes entstanden. Da lebhafte Empfindungen immer vorübergehend sind und folglich nicht sehr lange dauren, so sind die lyrischen Gedichte nie von beträchtlicher Länge Doch schickt sich auch die völlige Kürze des Sinngedichtes nicht dafür; weil der Mensch natürlicher Weise bei der Empfindung, die ihm selbst gefällt, sich verweilt, um entweder ihren Gegenstand von mehreren Seiten oder in einer gewissen Ausführlichkeit zu betrachten; oder weil das ins Feuer gesetzte Gemüt sich allemal mit seiner Empfindung selbst eine Zeitlang beschäftigt, ehe es sich wieder in Ruhe setzt.
Natürlicher Weise sollte das lyrische Gedicht wohlklingender und zum Gesang mehr einladend sein als jede andere Art; auch periodisch immer wiederkommende Abschnitte oder Strophen haben, die weder allzulang und für das Ohr unfaßlich, noch allzukurz und durch das zu schnelle Wiederkommen langweilig werden. So sind auch in der Tat die meisten lyrischen Gedichte der Alten. Aber der eigentliche Hymnus der Griechen, der in Hexametern ohne Strophen ist, geht davon ab. Auch ist in der Tat die Empfindung darin von der ruhigern, mit stiller Bewunderung verbundenen, Art, für welche der Hexameter nicht unschicklich ist.
Diese Gattung der Gedichte darf in Ansehung der Wichtigkeit und des Nutzens keiner weichen. Hierüber verdient das ganze Kapitel des Gravina, aus dem so eben eine Stelle angeführt worden, gelesen zu werden; denn dieser vortrefliche Mann hat die lyrische Dichtkunst in ihrem wahren Gesichtspunkt betrachtet und als ein Philosoph und Kenner der Menschen davon geurteilt. Von der Wichtigkeit des Liedes ist im Artikel desselben besonders gesprochen worden und im Artikel Ode, wird diese Art in Absicht auf ihrem Nutzen beurteilt. Hier merken wir nur überhaupt an, dass die lyrische Dichtkunst, die Gedanken, Gesinnungen und Empfindungen, welche wir in anderen Dichtungsarten, in ihren Wirkungen und meistenteils nur überhaupt und wie von weitem sehen, in der Nähe, in ihren geheimsten Wendungen, auf das lebhafteste schildere und dass wir sie dadurch auf das deutlichste in uns selbst empfinden, so dass jede gute und heilsame Regung auf eine dauerhafte Weise dadurch erweckt werden kann.
Die Griechen hatten ungemein vielerlei Arten des lyrischen Gedichtes, deren jeder, sowohl in Ansehung des Inhalts als der Form, ein genau ausgezeichneter Charakter vorgeschrieben war. Doch können sie in vier Hauptarten eingeteilt werden: den Hymnus, die Ode, das Lied und die Idylle; wenn man nicht noch die Elegie dazu rechnen will, deren Inhalt in der Tat lyrisch ist. Aber jede dieser Hauptarten, hatte wieder ihre verschiedene Unterarten, die wir aber, da die Sache für uns nicht wichtig genug ist, nicht herzählen, sondern den Leser auf Vossens Poetik und die im Art. Lied angeführte Abhandlung des La Nauze verweisen.
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*) I componimenti lirici sene ritratti di particolari affetti, costumi, virtu, vizj, genj e fatti: overo sono specchj, da cui per varj riflessi traluce l'umana Natura, Ragion poetica. L. I. c, 13.
Vergleiche ferner:
- Lyrik (Kirchner, Wörterb. d. phil. Grundbegr.)
- (Hegel, Vorl. z. Ästhetik):
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